Verschrobene Gestalten bevölkern diesen "totalen Roman": einsame Sucher, fiebrige Träumer, verkrachte Existenzen, geborene Eskapisten. Da ist Ma_cun, der Junge, der davon träumt mit seiner geliebten Gans gen Westen zu fliegen, bis ihm eine junge Spionin vom Himmel vor die Füße fällt. Der Tote im Berliner Rosengarten, dessen rätselhafte Spuren den Ermittler Teresius Skima durch ein Netzwerk von Buchhandlungen in ganz Europa zu einem abgeschotteten Superstaat führen. Oder Oleg Olegowitsch, ein Misanthrop aus Minsk, der den Sprachen abgeschworen hat und eine neue erfindet: Balbuta. Seine geheime Liebste, die er hegt und pflegt.Sie alle graben, schürfen tief und träumen sich zugleich federleicht, entdecken Geschwister im Geiste, fallen aus der Zeit, überwinden Grenzen. Aber immer lauter bellen die Kettenhunde - in Berlin, Prag, Paris, Vilnius, Minsk ...Alhierd Bacharevics großer europäischer Vorabend-Roman erspürte schon 2017, was uns hier erst allmählich zu dämmern beginnt. In Belarus ist der Roman inzwischen verboten.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ziemlich begeistert schreibt Rezensentin Ilma Rakusa über Alhierd Bacharevičs Roman, der aus sechs geschickt untereinander verknüpften Teilen besteht und sich unter anderem um eine Kunstsprache namens Balbuta dreht, deren Wörterbuch der Veröffentlichung angehängt ist. Die Handlung setzt zunächst in Minsk ein, wo sich Gangster und Verrückte aller Coleur tummeln, später geht es in diesem laut Rakusa immer wieder auch metafiktional konstruierten Buch, unter anderem auf eine Ostseeinsel und nach Berlin, während Russland als ein finsteres, alles in sich einverleibendes Imperium beschrieben werde. Die Geschichte und Mythen Belarus' sind wichtig für Bacharevičs Buch, erklärt Rakusa, Pate stehe aber auch europäische Literatur von Joyce bis "Nils Holgersson". Ein gleichermaßen düsteres und poetisches Werk hat Bacharevič geschaffen, so die beeindruckte Rezensentin, die außerdem die meisterliche Übersetzung Thomas Weilers hervorhebt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2024Und wer war schuld? Niemand!
In seinem monumentalen Roman "Europas Hunde" spielt der belarussische Autor Alhierd Bacharevic mit der offenen Form des Romans: Sechs locker verbundene Großkapitel, dazwischen jeweils ein Gedicht, die Schauplätze reichen von Minsk bis nach Berlin, Prag und Paris, und die Zeitspanne erstreckt sich bis ins Jahr 2050. Der Roman sei aus einer Lebenskrise heraus entstanden, so der Autor auf Lesungen. "Mach etwas, was dir gefällt", habe ihm seine Frau, die Dichterin und Übersetzerin Julija Cimafiejeva, gesagt. "Schreib einen Roman mit so vielen Wörtern, wie DU willst. Gönne dir selbst diese Freiheit." Er habe geschrieben und geschrieben, neunhundert Seiten wurden es im Original (in der deutschen Übersetzung sind es 740).
Das mag den durchweg hohen Energiepegel dieses Romans erklären. Das erste Kapitel beginnt mit einem rant. Der Icherzähler Oleg Olegowitsch sitzt in einem Verhörzimmer, und er hat die Sprachen satt, besonders das Belarussische und mehr noch das Russische, das immer "wie mit Durchsuchungsbefehl daherkommt": "Weg, Russisch, ksch, blecherne Sprache der Wohnraumverwaltungskommissionen und Pagencorps, Sprache der großen, klebrigen Literatur, Stimme von Millionen kleiner, in ihrem Alltagszorn eifernder Menschen." Englisch: "ein geschwulstartig aufgedunsenes Gummiherz, das wie wild Milliarden Wörter in die Welt pumpt". Spanisch: "das asthmatische Röcheln eines Mörders, irgendeines braven Che-Monsters".
Aus Überdruss an den Sprachen hat Oleg Olegowitsch die Kunstsprache Balbuta erfunden, und weil dabei ein junger Mann zu Tode gekommen ist, sitzt er nun im Verhör. Dabei ist Balbuta eine Sprache der Utopie, allein durch ihre Struktur soll sie jede Form der Herrschaft unmöglich machen: Es gibt keine Wörter, die etwas als gut oder schlecht, als richtig oder falsch bewerten, es gibt kein "Müssen" und kein "Wir". Der Satz "Wir waren zu viert gewesen" heißt auf Balbuta: "Bim kronk au." Wörtlich: "Da waren vier Ichs."
Im Roman wird tatsächlich Balbuta gesprochen, damit man die betreffenden Passagen beim Lesen übersetzen kann, steckt hinten im Buch ein handliches kleines Heft mit Kurzgrammatik und Wörterbuch. "Wer Balbuta beherrscht, spielt immer mit sich selbst." Lässt man sich auf dieses Spiel ein, erlebt man sozusagen performativ, wie die Sprache sich ins Denken einmischt. Diese Sprachtheorie verwandelt Bacharevic in eine lebendige Geschichte mit unberechenbaren Figuren. Der verschrobene Oleg lebt in einer "räudigen, gleichsam verräucherten Einraumbutze" in der Stadt M., er ist verheiratet mit Vieracka, die er fürchtet, dabei weiß er noch nicht einmal, ob sie ein Mensch ist, denn gesehen hat er sie noch nie, er hat sie nur gerochen, gehört, gespürt. Eigentlich wollte Oleg seine Privatsprache für sich behalten, doch dann muss er sie mit zwei, später drei jungen Menschen teilen, die ihm auf die Schliche gekommen sind, und für einen von ihnen geht die Sache dann eben nicht gut aus.
"Europas Hunde" hat nichts von einem Thesen- oder Essayroman, trotz der philosophischen Flughöhe. Das Geschehen ist in der politischen Realität verankert, doch manche der Figuren sind nicht ganz von dieser Welt, alles ist durchwirkt von Mythen, Märchen und literarischen Anspielungen. Jeder der sechs Romanteile spielt in einer anderen Welt. Der Junge Maucun (oder Moltschun oder Maltschun, die slawischen Sprachen gehen in diesem Roman oft durcheinander) lebt in einem belarussischen Dorf; inspiriert von Nils Holgersson und nach der Begegnung mit der schönen Fallschirmjägerin Stefka macht er sich auf dem Rücken seiner geliebten Graugans davon in Richtung Westen. Auf einer winzigen Insel im Mittelmeer wiederum will eine Handvoll verblendeter Revolutionäre das "wahre Belarus" errichten, und zwar mit Hilfe der uralten Babka Benigna, deren schamanische Kräfte sich der Kommandant durch Beischlaf anzueignen hofft. Die Insel, die ein belarussischer Oppositioneller für sein besseres Belarus gekauft hat, entpuppt sich als Endlager für Giftmüll.
In einem anderen Kapitel erinnert man sich dreißig Jahre später an das jämmerlich gescheiterte Experiment. "Und, stell dir vor, da wollte er Imperator sein, wie in den alten Zeiten. Imperator seines Mini-Be-La-Rus. Dreißig Untertanen, ein Ex-Polizist als Chef der Geheimpolizei, ein verkrachter Schriftsteller als Chronist." Diese Unterhaltung findet statt im multikulturellen Berlin von 2050: Man bezahlt wieder mit Mark, die Fahrt von Berlin nach Hamburg dauert vierzig Minuten, und Männer tragen ganz selbstverständlich Abendkleider, so wie der Ermittlungsbeamte Teresius Simka.
Teresius soll die Identität eines unbekannten Toten klären, der in einer Berliner Billigabsteige gefunden wurde, im Rucksack ein Buch in einer unverständlichen Sprache sowie eine Gänsefeder, für uns Leser (nicht aber für Teresius) ein Verweis auf den belarussischen Nils Holgersson. Im Weiteren ist die Feder auch ein Symbol für die Literatur, doch um diese ist es schlecht bestellt. Im Jahr 2050 gibt es kaum mehr Buchhandlungen, nicht einmal Kafka hat überdauert: "Ihn kannte fast niemand. Wie ihn auch jetzt fast niemand kennt. Nur hundert Jahre lang hat man von ihm gesprochen", erfährt Teresius an Kafkas Grab in Prag.
Hochbrisant ist die politische Zukunftsvision, die Alhierd Bacharevic in seinem Roman entwirft. Teresius hat sich einiges zur jüngeren Geschichte angelesen: "Irgendwann zwischen 1992 und 2025 muss so ein Pufferstaat existiert haben. Belarus. Mehr oder weniger erfolgreich. Jedenfalls am Leben. Bis das Reich ihn sich einverleibt hat. Was natürlich zu erwarten gewesen war. Die werden nicht wirklich geglaubt haben, dass sie heil da rauskommen." Russland ist 2033 aus dem "Völkerbund" ausgetreten und wird schon lange nicht mehr zu sportlichen Wettkämpfen eingeladen. Das "Reich" erstreckt sich hinter der "Westgrenze", dem neuen Eisernen Vorhang. Dahinter: "Die Hölle. Das Imperium des Horrors und des Blutes. Das Land des wilden Schreis."
"Europas Hunde" ist in Belarus 2017 erschienen, lange vor den Protesten von 2020. Nach seinem Erscheinen war der Roman sowohl in Belarus als auch in Russland für renommierte Literaturpreise nominiert, doch dann drehte der Wind: 2021 wurde "Europas Hunde" als "extremistisch" verboten, Alhierd Bacharevic und Julija Cimafiejeva leben bereits seit 2020 im Exil, derzeit in Hamburg.
Die politische Satire in "Europas Hunde" ist nicht nur auf geradezu unheimliche Weise visionär, sie lässt auch niemanden ungeschoren. "Die ganzen Möchtegernautoren aus dem Osten drängen hier rein und glauben, sie könnten bei uns berühmt werden", ärgert sich ein verkrachter deutscher Dichter 2050 in Berlin. Auch eine luzide Kritik am Westen findet sich. Die schamanisch begabte Babka Benigna lebt zwischen dem Andertaler und dem Neandertaler Wald. Beide Wälder sind metaphorisch: Der Neandertaler Wald steht für die mythische Welt, der Andertaler Wald für die westliche Moderne. "Im Andertaler Wald war alles immer zu früh, immer war allen alles zu wenig, und sie wollten alles. Und wer war schuld? Niemand."
Was "Europas Hunde" zu einem literarischen Ereignis macht, ist jedoch nicht nur die gedankliche Dichte, sondern mehr noch die Art des Erzählens. Der Widerstand steckt in der Ästhetik, in einer zupackenden, poetischen, vielstimmigen Sprache, von Thomas Weiler phänomenal gut aus dem Belarussischen übersetzt. Bacharevic ist ein Meister der aphoristischen Zuspitzung. "Balbuta lässt einem viele Freiheiten, und Freiheit ist bekanntlich ein drückendes Joch", so Oleg Olegowitsch. Ein Emigrant wird mit den Worten zitiert: "Geboren werden heißt für Osteuropäer, lebendig begraben zu werden." Als Maucun sich in seinem Dorf mit der Fallschirmjägerin auf konspirative Umtriebe einlässt, wird sein Herz vor Angst so groß, "dass er es am liebsten tiefer hineingestopft hätte, damit es nirgends herausschaute". Selbst schlichte Alltagsszenen werden ins Groteske gesteigert. Die sechzehnjährige Balbuta-Anhängerin Natalja Kastanka bekommt in einem Café eine ganze Vase voll Eis serviert, was den Icherzähler Oleg an einen Menschenkopf erinnert, einen weißen Schädel. "Kastanka fuhr mit dem Löffel direkt in den Scheitel und förderte kaltes, im toten Licht der Lampen funkelndes Hirn zutage. Sie leckte daran und verdrehte die Augen."
Sogar einen Cameo-Auftritt erlaubt sich Alhierd Bacharevic in seinem Roman, samt Gattin. In einem albtraumhaften Kapitel irrt ein namenloser Icherzähler mit einer Tüte durch Minsk, die er konspirativ loswerden muss. Dabei gerät er in eine Buchhandlung und lästert über die belarussische Literatur, unter anderem über Bacharevic - nur, um ihm kurz darauf in der U-Bahn zu begegnen. "Krass. Bacharevic und die Cimafiejeva in der Metro . . . Schreibt und schreibt, dieses Pärchen, mal er, mal sie, aber ich war fest entschlossen, sie nicht zu lesen. Ich hatte auch meinen Stolz. Und die hielten sich offenbar für sonst wen. Popstars, Himmelarsch. Und trotzdem hatte das was - Bacharevic und die Cimafiejeva an der Mahilouskaja zu treffen. Einfach so in der Metro." Auch in der deutschen Übersetzung sitzt jedes Wort.
"Europas Hunde" ist von großer Komik - und zugleich zutiefst melancholisch. Der Roman handelt von der Tragödie Osteuropas, von den Hunden, welche die "Westgrenze" entweder scharf bewachen oder sie überwinden, um dann im Westen herumzustreunen. Alhierd Bacharevic lässt sich von dieser Tragödie die Laune nicht verderben. Stattdessen dreht er den Spieß um und macht sich die politischen Zumutungen zu eigen, mit einer Sprache, die Erkenntnisinstrument und Waffe zugleich ist. Diese subversive Haltung ist vielleicht die effektivste Form des Widerstands. SIEGLINDE GEISEL
Alhierd Bacharevic: "Europas Hunde". Roman.
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. Voland & Quist,
Berlin 2024.
744 S., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
In seinem monumentalen Roman "Europas Hunde" spielt der belarussische Autor Alhierd Bacharevic mit der offenen Form des Romans: Sechs locker verbundene Großkapitel, dazwischen jeweils ein Gedicht, die Schauplätze reichen von Minsk bis nach Berlin, Prag und Paris, und die Zeitspanne erstreckt sich bis ins Jahr 2050. Der Roman sei aus einer Lebenskrise heraus entstanden, so der Autor auf Lesungen. "Mach etwas, was dir gefällt", habe ihm seine Frau, die Dichterin und Übersetzerin Julija Cimafiejeva, gesagt. "Schreib einen Roman mit so vielen Wörtern, wie DU willst. Gönne dir selbst diese Freiheit." Er habe geschrieben und geschrieben, neunhundert Seiten wurden es im Original (in der deutschen Übersetzung sind es 740).
Das mag den durchweg hohen Energiepegel dieses Romans erklären. Das erste Kapitel beginnt mit einem rant. Der Icherzähler Oleg Olegowitsch sitzt in einem Verhörzimmer, und er hat die Sprachen satt, besonders das Belarussische und mehr noch das Russische, das immer "wie mit Durchsuchungsbefehl daherkommt": "Weg, Russisch, ksch, blecherne Sprache der Wohnraumverwaltungskommissionen und Pagencorps, Sprache der großen, klebrigen Literatur, Stimme von Millionen kleiner, in ihrem Alltagszorn eifernder Menschen." Englisch: "ein geschwulstartig aufgedunsenes Gummiherz, das wie wild Milliarden Wörter in die Welt pumpt". Spanisch: "das asthmatische Röcheln eines Mörders, irgendeines braven Che-Monsters".
Aus Überdruss an den Sprachen hat Oleg Olegowitsch die Kunstsprache Balbuta erfunden, und weil dabei ein junger Mann zu Tode gekommen ist, sitzt er nun im Verhör. Dabei ist Balbuta eine Sprache der Utopie, allein durch ihre Struktur soll sie jede Form der Herrschaft unmöglich machen: Es gibt keine Wörter, die etwas als gut oder schlecht, als richtig oder falsch bewerten, es gibt kein "Müssen" und kein "Wir". Der Satz "Wir waren zu viert gewesen" heißt auf Balbuta: "Bim kronk au." Wörtlich: "Da waren vier Ichs."
Im Roman wird tatsächlich Balbuta gesprochen, damit man die betreffenden Passagen beim Lesen übersetzen kann, steckt hinten im Buch ein handliches kleines Heft mit Kurzgrammatik und Wörterbuch. "Wer Balbuta beherrscht, spielt immer mit sich selbst." Lässt man sich auf dieses Spiel ein, erlebt man sozusagen performativ, wie die Sprache sich ins Denken einmischt. Diese Sprachtheorie verwandelt Bacharevic in eine lebendige Geschichte mit unberechenbaren Figuren. Der verschrobene Oleg lebt in einer "räudigen, gleichsam verräucherten Einraumbutze" in der Stadt M., er ist verheiratet mit Vieracka, die er fürchtet, dabei weiß er noch nicht einmal, ob sie ein Mensch ist, denn gesehen hat er sie noch nie, er hat sie nur gerochen, gehört, gespürt. Eigentlich wollte Oleg seine Privatsprache für sich behalten, doch dann muss er sie mit zwei, später drei jungen Menschen teilen, die ihm auf die Schliche gekommen sind, und für einen von ihnen geht die Sache dann eben nicht gut aus.
"Europas Hunde" hat nichts von einem Thesen- oder Essayroman, trotz der philosophischen Flughöhe. Das Geschehen ist in der politischen Realität verankert, doch manche der Figuren sind nicht ganz von dieser Welt, alles ist durchwirkt von Mythen, Märchen und literarischen Anspielungen. Jeder der sechs Romanteile spielt in einer anderen Welt. Der Junge Maucun (oder Moltschun oder Maltschun, die slawischen Sprachen gehen in diesem Roman oft durcheinander) lebt in einem belarussischen Dorf; inspiriert von Nils Holgersson und nach der Begegnung mit der schönen Fallschirmjägerin Stefka macht er sich auf dem Rücken seiner geliebten Graugans davon in Richtung Westen. Auf einer winzigen Insel im Mittelmeer wiederum will eine Handvoll verblendeter Revolutionäre das "wahre Belarus" errichten, und zwar mit Hilfe der uralten Babka Benigna, deren schamanische Kräfte sich der Kommandant durch Beischlaf anzueignen hofft. Die Insel, die ein belarussischer Oppositioneller für sein besseres Belarus gekauft hat, entpuppt sich als Endlager für Giftmüll.
In einem anderen Kapitel erinnert man sich dreißig Jahre später an das jämmerlich gescheiterte Experiment. "Und, stell dir vor, da wollte er Imperator sein, wie in den alten Zeiten. Imperator seines Mini-Be-La-Rus. Dreißig Untertanen, ein Ex-Polizist als Chef der Geheimpolizei, ein verkrachter Schriftsteller als Chronist." Diese Unterhaltung findet statt im multikulturellen Berlin von 2050: Man bezahlt wieder mit Mark, die Fahrt von Berlin nach Hamburg dauert vierzig Minuten, und Männer tragen ganz selbstverständlich Abendkleider, so wie der Ermittlungsbeamte Teresius Simka.
Teresius soll die Identität eines unbekannten Toten klären, der in einer Berliner Billigabsteige gefunden wurde, im Rucksack ein Buch in einer unverständlichen Sprache sowie eine Gänsefeder, für uns Leser (nicht aber für Teresius) ein Verweis auf den belarussischen Nils Holgersson. Im Weiteren ist die Feder auch ein Symbol für die Literatur, doch um diese ist es schlecht bestellt. Im Jahr 2050 gibt es kaum mehr Buchhandlungen, nicht einmal Kafka hat überdauert: "Ihn kannte fast niemand. Wie ihn auch jetzt fast niemand kennt. Nur hundert Jahre lang hat man von ihm gesprochen", erfährt Teresius an Kafkas Grab in Prag.
Hochbrisant ist die politische Zukunftsvision, die Alhierd Bacharevic in seinem Roman entwirft. Teresius hat sich einiges zur jüngeren Geschichte angelesen: "Irgendwann zwischen 1992 und 2025 muss so ein Pufferstaat existiert haben. Belarus. Mehr oder weniger erfolgreich. Jedenfalls am Leben. Bis das Reich ihn sich einverleibt hat. Was natürlich zu erwarten gewesen war. Die werden nicht wirklich geglaubt haben, dass sie heil da rauskommen." Russland ist 2033 aus dem "Völkerbund" ausgetreten und wird schon lange nicht mehr zu sportlichen Wettkämpfen eingeladen. Das "Reich" erstreckt sich hinter der "Westgrenze", dem neuen Eisernen Vorhang. Dahinter: "Die Hölle. Das Imperium des Horrors und des Blutes. Das Land des wilden Schreis."
"Europas Hunde" ist in Belarus 2017 erschienen, lange vor den Protesten von 2020. Nach seinem Erscheinen war der Roman sowohl in Belarus als auch in Russland für renommierte Literaturpreise nominiert, doch dann drehte der Wind: 2021 wurde "Europas Hunde" als "extremistisch" verboten, Alhierd Bacharevic und Julija Cimafiejeva leben bereits seit 2020 im Exil, derzeit in Hamburg.
Die politische Satire in "Europas Hunde" ist nicht nur auf geradezu unheimliche Weise visionär, sie lässt auch niemanden ungeschoren. "Die ganzen Möchtegernautoren aus dem Osten drängen hier rein und glauben, sie könnten bei uns berühmt werden", ärgert sich ein verkrachter deutscher Dichter 2050 in Berlin. Auch eine luzide Kritik am Westen findet sich. Die schamanisch begabte Babka Benigna lebt zwischen dem Andertaler und dem Neandertaler Wald. Beide Wälder sind metaphorisch: Der Neandertaler Wald steht für die mythische Welt, der Andertaler Wald für die westliche Moderne. "Im Andertaler Wald war alles immer zu früh, immer war allen alles zu wenig, und sie wollten alles. Und wer war schuld? Niemand."
Was "Europas Hunde" zu einem literarischen Ereignis macht, ist jedoch nicht nur die gedankliche Dichte, sondern mehr noch die Art des Erzählens. Der Widerstand steckt in der Ästhetik, in einer zupackenden, poetischen, vielstimmigen Sprache, von Thomas Weiler phänomenal gut aus dem Belarussischen übersetzt. Bacharevic ist ein Meister der aphoristischen Zuspitzung. "Balbuta lässt einem viele Freiheiten, und Freiheit ist bekanntlich ein drückendes Joch", so Oleg Olegowitsch. Ein Emigrant wird mit den Worten zitiert: "Geboren werden heißt für Osteuropäer, lebendig begraben zu werden." Als Maucun sich in seinem Dorf mit der Fallschirmjägerin auf konspirative Umtriebe einlässt, wird sein Herz vor Angst so groß, "dass er es am liebsten tiefer hineingestopft hätte, damit es nirgends herausschaute". Selbst schlichte Alltagsszenen werden ins Groteske gesteigert. Die sechzehnjährige Balbuta-Anhängerin Natalja Kastanka bekommt in einem Café eine ganze Vase voll Eis serviert, was den Icherzähler Oleg an einen Menschenkopf erinnert, einen weißen Schädel. "Kastanka fuhr mit dem Löffel direkt in den Scheitel und förderte kaltes, im toten Licht der Lampen funkelndes Hirn zutage. Sie leckte daran und verdrehte die Augen."
Sogar einen Cameo-Auftritt erlaubt sich Alhierd Bacharevic in seinem Roman, samt Gattin. In einem albtraumhaften Kapitel irrt ein namenloser Icherzähler mit einer Tüte durch Minsk, die er konspirativ loswerden muss. Dabei gerät er in eine Buchhandlung und lästert über die belarussische Literatur, unter anderem über Bacharevic - nur, um ihm kurz darauf in der U-Bahn zu begegnen. "Krass. Bacharevic und die Cimafiejeva in der Metro . . . Schreibt und schreibt, dieses Pärchen, mal er, mal sie, aber ich war fest entschlossen, sie nicht zu lesen. Ich hatte auch meinen Stolz. Und die hielten sich offenbar für sonst wen. Popstars, Himmelarsch. Und trotzdem hatte das was - Bacharevic und die Cimafiejeva an der Mahilouskaja zu treffen. Einfach so in der Metro." Auch in der deutschen Übersetzung sitzt jedes Wort.
"Europas Hunde" ist von großer Komik - und zugleich zutiefst melancholisch. Der Roman handelt von der Tragödie Osteuropas, von den Hunden, welche die "Westgrenze" entweder scharf bewachen oder sie überwinden, um dann im Westen herumzustreunen. Alhierd Bacharevic lässt sich von dieser Tragödie die Laune nicht verderben. Stattdessen dreht er den Spieß um und macht sich die politischen Zumutungen zu eigen, mit einer Sprache, die Erkenntnisinstrument und Waffe zugleich ist. Diese subversive Haltung ist vielleicht die effektivste Form des Widerstands. SIEGLINDE GEISEL
Alhierd Bacharevic: "Europas Hunde". Roman.
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. Voland & Quist,
Berlin 2024.
744 S., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
"Ein atemberaubendes Schauspiel. Märchenhafte Bilder mischen sich mit absurdem Humor in diesem prophetischen Politthriller, in dem Russland und Belarus zu einem diktatorischen Superstaat geworden sind." The Guardian "In einer Region, in der das Dazwischensein zwischen Kulturen und Identitäten zur existenziellen Selbstbestimmung geworden ist. Auch davon handelt dieses Buch auf unterschiedlichen Ebenen - von der Suche nach dem Eigenen." der Standard "'Europas Hunde'" ist von großer Komik - und zugleich zutiefst melancholisch." F.A.Z. "Wie jeder große Roman handelt Europas Hunde auch von der Kraft der Literatur. Er ist mit Anspielungen und literarischen Verweisen gespickt und strotzt vor literarischer Kraft." der Freitag "Ein brilliantes Buch, wie ich es selten gelesen habe aber auch ein Buch, dass mich ungeheuer berührt hat." Deutschlandfunk Kultur