William T. Vollmann ist einer der bedeutendsten amerikanischen Autoren der Gegenwart und »Europe Central« sein bestes Buch - ein Epos in Übergröße, das acht Jahre nach der amerikanischen Veröffentlichung und nach mehreren Übersetzungsanläufen endlich auf Deutsch erscheint. »Europe Central« ist ein historischer Roman mit Abweichungen, ein »Krieg und Frieden« für das 21. Jahrhundert, ein postmodernes Epos aus 37 teils umfangreichen Geschichten, die, paarweise zusammengespannt, den zweiten Weltkrieg auf sowjetischer und deutscher Seite heraufbeschwören, indem sie das Leben von Künstlern (wie Käthe Kollwitz und Dmitiri Schostakowitsch) und Militärs (wie Wlassow und Paulus, dem Verlierer von Stalingrad) und vielen anderen erzählen. »Europe Central«, eine Bezeichnung für Mitteleuropa, ist in Vollmanns Epos vor allem eine riesige, unsichtbar bleibende Schaltstelle und Telefonzentrale, ein Kommunikationskrake, dessen schwarze Bakelittentakeln sich jeden jederzeit und überall »greifen«. William T. Vollmann hat die Geschichte seiner Figuren und den Verlauf des Kriegs bis ins Detail recherchiert und erzählerisch frei behandelt - ein neugierig entsetzter Amerikaner (mit deutschen Wurzeln), der, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, fühlen, wissen und begreifen will, was geschah. Nach Thomas Pynchon, John Barth, William Gass, William Gaddis und David Foster Wallace... ist jetzt, schreibt The Village Voice, Vollmann an der Reihe, die Fackel postmoderner Hochambitioniertheit voranzutragen. »Und selbst wenn er sie hier und da fallen läßt, hat er mit »Europe Central« doch etwas geschaffen, das Schönheit und historischen Wert besitzt, einen visionären Grundtext über menschliches Leid.«
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Carsten Hueck kommt aus dem Staunen nicht raus. Was dieser stark übersetzte Roman alles ist und kann: Liebesgeschichte, Künstlerroman, Historienschinken, Verhaltens- und Gewaltstudie etc. Zusammengehalten laut Hueck durch die überbordende Fantasie des William T. Vollmann. Allerdings warnt Hueck den Leser auch vor enttäuschten Erwartungen. So auf die Schnelle sei der Genuss der Vielfalt nicht zu haben, schreibt er, der Leser müsse sich Zeit nehmen. Dann aber erlebt er die ersten drei Viertel des letzten Jahrhunderts, Leningrad, Stalingrad, Dresden, Berlin und Moskau, bevölkert mit drei Dutzend (!) Hauptfiguren, Schicksalen, aus wechselnder Erzählperspektive. Klassische Erzählweisen tauscht der Rezensent da gerne gegen Fakten und Imagination in schönster Bewegung und eine Sprache, zynisch und poetisch, erschreckend und lakonisch. Fragen, wie zuletzt bei Peter Weiss und Sartre beschäftigen den Rezensenten sodann, Fragen nach dem Aggregatzustand der Identität in Extremen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2013Das Stimmwunder aus Krieg und Diktatur
William T. Vollmanns Riesenroman "Europe Central" erzählt vom zwanzigsten Jahrhundert in Russland und Deutschland - vielstimmig, manisch und atemraubend interessant.
Es dürfte in der Weltliteratur keine 2846,82 Dollar geben, die besser angelegt wurden als von William T. Vollmann. Denn für diese Summe ließ sich der amerikanische Autor die Briefe Dmitri Schostakowitschs übersetzen, die der russische Komponist in den Jahren 1934 und 1935 an seine Geliebte Elena Konstantinowskaja geschrieben hat. Der Forschung sind sie erst in den neunziger Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bekanntgeworden, als sie in London versteigert wurden. Deshalb taucht Konstantinowskajas Name in den meisten Schostakowitsch-Biographien nicht auf, und William T. Vollmann musste sich von amerikanischen Lesern seines 2005 erschienenen Romans "Europe Central" vorwerfen lassen, dass er die Dame ja nur erfunden habe.
Was wäre das für eine Erfindung gewesen! "Europe Central", jetzt endlich auf Deutsch erschienen, hat mehr als tausend Seiten, umfasst die Zeit von 1906 bis 1975, erzählt aus Russland und Deutschland in den Zeiten ihrer schwersten ideologischen Verblendung und bietet gleich mehrere prominente Lebensgeschichten. Doch im Zentrum dieses Romans von Krieg und Unfrieden steht eine Liebe: die bedingungslose von Schostakowitsch zu Elena Konstantinowskaja. Der weltberühmte Komponist, dessen Geburts- und Sterbejahre die Eckdaten der Handlung bezeichnen, steht hier sein Leben lang im Bann der schönen Frau, die er kennenlernte, als sie zwanzig Jahre alt war. Die Studentin sollte ihm Deutsch beibringen.
Die letzten beiden Fakten sind wahr, aber Vollmann übernimmt nur den Zeitpunkt der ersten Begegnung. Dass Elena die Deutschlehrerin von Schostakowitsch war, verschweigt das Buch (ein paar mal ist von Englischlektionen die Rede). Warum, wo doch das Thema von "Europe Central" der politische und ideologische Dualismus ist, der das zwanzigste Jahrhundert in dessen größte Katastrophe gestürzt hat? Die Erklärung ist einfach: Das hätte eine russisch-deutsche Komponente in die für das Buch zentrale Liebe gebracht. Doch diese Liebe ist es gerade, was im Roman gegen Russland und Deutschland steht.
Also jetzt noch einmal, aber ohne Irrealis: Was ist das für eine Erfindung, diese Elena Konstantinowskaja! Eine freie Frau, frei in der Liebe zu Männern und Frauen; frei in ihrer politischen Einstellung, die ihr unter Stalin erst Sibirien und dann den "Roten Stern für Tapferkeit" wegen ihres Einsatzes im Spanischen Bürgerkrieg einbringt; frei im Denken, im Handeln, im Sein. Und eben fast zur Gänze frei dem Kopf von William T. Vollmann entsprungen, denn außer ihrer Beziehung mit Schostakowitsch, ihrem Tod (auch sie starb 1975), einer gescheiterten Ehe mit dem russischen Dokumentarfilmer Roman Karmen und der Ordensverleihung weiß man nichts über Elena Konstantinowskaja. Es ist bislang nicht einmal ein Foto von ihr aufgetaucht.
Also steht im Zentrum der tausend Seiten ein Phantom. Doch Vollmann füllt es mit Leben, lässt auf ganzen Seiten Liebesekstasen entbrennen, folgt Elena durch ein ganzes Leben, das er ihr erdichtet hat - und hat dann doch kein Buch geschrieben, das besser "Elena Konstantinowskaja" geheißen hätte. Denn es geht tatsächlich um viel mehr, um Europa im zwanzigsten Jahrhundert - einen Kontinent, der aber von Vollmann auch einmal explizit mit Elena gleichgesetzt wird.
"Europe Central" heißt der Roman, weil die erste Metapher darin eine Telefonschaltzentrale ist. Und die wichtigste ist es auch, weil das Buch selbst sich als eine solche Zentrale versteht, denn hier laufen aus den beiden Ländern, um die es geht (in der Nachkriegszeit werden es dann drei, die Sowjetunion und beide deutsche Staaten), die unterschiedlichsten Erzählungen zusammen. Wir lernen die Schicksale der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz und der russischen Lyrikerin Anna Achmatowa im Totalitarismus kennen, des russischen Generals Andrej Wlassow, der als Kriegsgefangener in die Dienste Hitlers trat, und des deutschen Generals Friedrich Paulus, der es umgekehrt als Gefangener Stalins genauso hielt. Es geht um Kurt Gerstein, der als SS-Angehöriger verzweifelt versuchte, das Ausland über die Ermordung der Juden zu informieren, und um Fanny Kaplan, die als Menschewikin 1918 ein Attentat auf Lenin unternahm. Es geht aber auch um Hitler und Stalin selbst, die anfangs nur als "der Schlafwandler" und "der Realist" auftreten. Ihrem unheilvollen Zusammen- und Gegenspiel verdankt sich die Entstehung eines Leitmotivs: "Der Schlafwandler ist ganz Auge; der Realist ist ganz Ohr; indem sie sich paaren, erschaffen sie das Telefon."
Man muss für solche frühen Sätze in Vollmanns Roman selbst Auge und Ohr haben, denn sie bereiten vor, was auf den vielen hundert Seiten danach noch folgt. Die "Paarung", hier noch metaphorisch, wird wenig später ganz konkret, wenn das Liebesspiel zwischen Schostakowitsch und Elena beginnt. Krieg (mit Menschen und mit Kunst) und Liebe (zu Menschen und zur Kunst) stehen sich permanent gegenüber und werden fokussiert in der Person Schostakowitschs, auf dessen Leben und Schaffen allein schon ein Drittel der Handlung entfällt. Man erfährt von dem sorgfältigen Rechercheur Vollmann nicht nur auf erzählerisch hinreißende Art, wie Schostakowitsch gelebt hat, sondern auch, wie man ihn hören kann. "Europe Central" ist nebenbei und vollkommen unaufdringlich auch eine musikästhetische Programmschrift.
Und es ist selbst ein hochmusikalisches Buch. Vollmann hat es entsprechend komponiert, ohne dass er dabei einem der gängigen Schemata der Klassik gefolgt wäre, wie es etwa Heimito von Doderer in einigen seiner Romane versucht hat. Das rechte Vorbild für "Europe Central" ist natürlich Schostakowitsch selbst, der vor allem in seinen Streichquartetten, aber auch den Sinfonien und Sonaten immer wieder mit der Tradition gebrochen hat - gegen die Erwartungen eines Regimes, das für solchen Individualismus, der als "Formalismus" denunziert wurde, nichts übrighatte außer Repression.
Drei Kompositionen von Schostakowitsch sind für die Handlung (und auch die Struktur des Buchs) besonders wichtig: die Cellosonate op. 40 (1934), die siebte Sinfonie (1942) und das achte Streichquartett (1960). Sie stehen für den Beginn der Liebe zu Elena, für den Höhepunkt des Krieges, als Schostakowitsch aus dem belagerten Leningrad hinter den Ural gebracht wird, und für die Zeit nach der Entstalinisierung. Das Streichquartett, gewidmet den Opfern von Krieg und Faschismus, ist nach Vollmanns Deutung die Bilanz Europas im zwanzigsten Jahrhundert, mit all den Stimmen, Klagelauten und Schmerzensschreien der Opfer, auch derer Stalins.
"Europe Central" buchstabiert dieses Prinzip nun gleichfalls aus, und das nach strengsten formalen Kriterien. Nach einer Exposition, mit der die Telefonzentralemetapher eingeführt wird, folgt eine Serie von achtzehn Kapitelpaaren, deren Zusammenhalt und Balance manchmal ganz leicht zu erkennen sind (Wlassow und Paulus bilden eines dieser Paare und bekommen jeweils ein fast hundert Seiten langes Kapitel), doch weitaus häufiger übernimmt Vollmann das Schostakowitsch-Prinzip des kontrastiven Komponierens, aus dessen Reibepunkten sich erst das Überraschende generiert.
So schwanken nicht nur die Kapitellängen zwischen drei und 135 Seiten, mehr noch tut es die Erzählperspektive. Es gibt kein eindeutiges "Ich" wie in Jonathan Littells von Thema und akribischer Herangehensweise so ähnlichem Roman "Die Wohlgesinnten", der 2006 in Frankreich erschien, ein Jahr nach "Europe Central", dessen Rang dadurch in Europa zunächst übersehen wurde. Vollmann erzählt mit zahlreichen Ichs, doch alle haben sie eines gemeinsam (auch mit Maximilian Aue aus "Die Wohlgesinnten"): Sie sind Überzeugungstäter und bleiben es. Wir bekommen also die Sowjetunion und das "Dritte Reich" aus den Augen von Parteigängern vorgeführt. Das muss man aushalten, auch die implizite Gleichsetzung. Auf der deutschen Seite erzählen hochrangige Militärs, die nie beim Namen genannt werden, auf der russischen Mitglieder der Nomenklatura, die sich vor allem mit Überwachung beschäftigen. Ein einziger Erzähler, "Genosse Alexandrow", wird in einer der Anmerkungen von Vollmann identifiziert, aber er taucht an anderer Stelle im Roman mehrfach als handelnde Person im Blick eines weiteren Ichs auf. Bisweilen wechseln die Erzähler sogar innerhalb des Kapitels. Und diverse Male greift auch Vollmann selbst in der Handlung ein, zum Beispiel, wenn ein Erzähler, der eben noch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschildert hat, plötzlich in Klammern einschiebt: "Ich schreibe im Jahr 2002."
Diesen Kriegsausbruch erlebt der Adolf Hitler des Romans übrigens in Berlin, nicht in München, und solche Freiheiten nimmt sich Vollmann häufiger. Da ist Platz für Ironie, wenn Stalins Antisemitismuskampagne 1949 darauf zurückgeführt wird, dass er nun vielleicht Zeit gefunden habe, "Mein Kampf" zu lesen. Bisweilen lenkt Vollmann auch bewusst auf falsche Spuren, so schon auf Seite 14, wo er Göring ein Rendezvous mit der Schauspielerin Lida Baarová andichtet, die ja als Goebbels-Geliebte bekannt ist. 270 Seiten später erwähnt er sie ein zweites Mal, diesmal dann an der Seite des Propagandaministers. Dazu gibt es keine Fußnote, die ansonsten vielhundertfach den Roman durchziehen; der Anhang dazu umfasst allein schon achtzig Seiten.
Aber auch die sollte man lesen, denn vieles im Roman entschlüsselt sich erst dadurch, und vor allem erkennt man dann an den dort durchgeführten discours de la méthode, was für eine Leistung die Zusammenführung dieser Stofffülle darstellt. Das Buch ist durchwoben von wiederkehrenden Begriffen oder Dingen, die einzelne Gedanken und Schicksale miteinander verzahnen. Es ist erkennbar eine Lebensliebe von William T. Vollmann, ein manisches Stück Literatur, das eher als mit Littells "Wohlgesinnten" mit Thomas Pynchons "Enden der Parabel" oder der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss zu vergleichen ist, weil auch in diesen Romanen trotz der überreichen Materialsammlung jeweils ein strenges formales Prinzip waltet. (Und wer in sein Buch so viele Raketendiskurse oder auch einmal die Bemerkung einflicht: "Wie also war er? Ich sehe in ihm die zentrale Figur einer Parabel", der verweist sehr deutlich auf die Leitmetaphorik von Pynchon.)
Es ist also ein höchst ausgefuchstes Stück Literatur, was hier aufgeführt wird - und das große Glück der deutschen Ausgabe ist, dass Robin Detje mit der Hilfe einer Assistentin anderthalb Jahre daran übersetzen konnte, so dass die zahlreichen einmontierten Quellenpassagen auch jeweils nachrecherchiert werden konnten. Ein einziger drastischer Fehler ist ins Buch gerutscht (Stalingrad soll im August 1943 von den Russen eingekesselt worden sein, da war es längst zurückerobert). Und es ist vor allem der von Detje bewahrten Rhythmisierung der Form zu verdanken, dass selbst die schwächeren Passagen des Buchs, wo zu sehr ereignisorientiert oder banal-biographisch erzählt wird, nie die Lesespannung mindern. Meisterhaft kristallisiert sich nämlich immer wieder aus dem Textgebirge dieses Buchs das funkelnde Kunststück von Schostakowitschs Lebensliebe heraus - ein Roman im Roman, der zum Eindrucksvollsten zählt, was über die Ambivalenz von Kunst und Macht, von Leben, Liebe und Tod geschrieben worden ist. "Europe Central" steht im Zentrum dessen, was Literatur zu leisten versteht.
ANDREAS PLATTHAUS
William T. Vollmann: "Europe Central". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 1028 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
William T. Vollmanns Riesenroman "Europe Central" erzählt vom zwanzigsten Jahrhundert in Russland und Deutschland - vielstimmig, manisch und atemraubend interessant.
Es dürfte in der Weltliteratur keine 2846,82 Dollar geben, die besser angelegt wurden als von William T. Vollmann. Denn für diese Summe ließ sich der amerikanische Autor die Briefe Dmitri Schostakowitschs übersetzen, die der russische Komponist in den Jahren 1934 und 1935 an seine Geliebte Elena Konstantinowskaja geschrieben hat. Der Forschung sind sie erst in den neunziger Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bekanntgeworden, als sie in London versteigert wurden. Deshalb taucht Konstantinowskajas Name in den meisten Schostakowitsch-Biographien nicht auf, und William T. Vollmann musste sich von amerikanischen Lesern seines 2005 erschienenen Romans "Europe Central" vorwerfen lassen, dass er die Dame ja nur erfunden habe.
Was wäre das für eine Erfindung gewesen! "Europe Central", jetzt endlich auf Deutsch erschienen, hat mehr als tausend Seiten, umfasst die Zeit von 1906 bis 1975, erzählt aus Russland und Deutschland in den Zeiten ihrer schwersten ideologischen Verblendung und bietet gleich mehrere prominente Lebensgeschichten. Doch im Zentrum dieses Romans von Krieg und Unfrieden steht eine Liebe: die bedingungslose von Schostakowitsch zu Elena Konstantinowskaja. Der weltberühmte Komponist, dessen Geburts- und Sterbejahre die Eckdaten der Handlung bezeichnen, steht hier sein Leben lang im Bann der schönen Frau, die er kennenlernte, als sie zwanzig Jahre alt war. Die Studentin sollte ihm Deutsch beibringen.
Die letzten beiden Fakten sind wahr, aber Vollmann übernimmt nur den Zeitpunkt der ersten Begegnung. Dass Elena die Deutschlehrerin von Schostakowitsch war, verschweigt das Buch (ein paar mal ist von Englischlektionen die Rede). Warum, wo doch das Thema von "Europe Central" der politische und ideologische Dualismus ist, der das zwanzigste Jahrhundert in dessen größte Katastrophe gestürzt hat? Die Erklärung ist einfach: Das hätte eine russisch-deutsche Komponente in die für das Buch zentrale Liebe gebracht. Doch diese Liebe ist es gerade, was im Roman gegen Russland und Deutschland steht.
Also jetzt noch einmal, aber ohne Irrealis: Was ist das für eine Erfindung, diese Elena Konstantinowskaja! Eine freie Frau, frei in der Liebe zu Männern und Frauen; frei in ihrer politischen Einstellung, die ihr unter Stalin erst Sibirien und dann den "Roten Stern für Tapferkeit" wegen ihres Einsatzes im Spanischen Bürgerkrieg einbringt; frei im Denken, im Handeln, im Sein. Und eben fast zur Gänze frei dem Kopf von William T. Vollmann entsprungen, denn außer ihrer Beziehung mit Schostakowitsch, ihrem Tod (auch sie starb 1975), einer gescheiterten Ehe mit dem russischen Dokumentarfilmer Roman Karmen und der Ordensverleihung weiß man nichts über Elena Konstantinowskaja. Es ist bislang nicht einmal ein Foto von ihr aufgetaucht.
Also steht im Zentrum der tausend Seiten ein Phantom. Doch Vollmann füllt es mit Leben, lässt auf ganzen Seiten Liebesekstasen entbrennen, folgt Elena durch ein ganzes Leben, das er ihr erdichtet hat - und hat dann doch kein Buch geschrieben, das besser "Elena Konstantinowskaja" geheißen hätte. Denn es geht tatsächlich um viel mehr, um Europa im zwanzigsten Jahrhundert - einen Kontinent, der aber von Vollmann auch einmal explizit mit Elena gleichgesetzt wird.
"Europe Central" heißt der Roman, weil die erste Metapher darin eine Telefonschaltzentrale ist. Und die wichtigste ist es auch, weil das Buch selbst sich als eine solche Zentrale versteht, denn hier laufen aus den beiden Ländern, um die es geht (in der Nachkriegszeit werden es dann drei, die Sowjetunion und beide deutsche Staaten), die unterschiedlichsten Erzählungen zusammen. Wir lernen die Schicksale der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz und der russischen Lyrikerin Anna Achmatowa im Totalitarismus kennen, des russischen Generals Andrej Wlassow, der als Kriegsgefangener in die Dienste Hitlers trat, und des deutschen Generals Friedrich Paulus, der es umgekehrt als Gefangener Stalins genauso hielt. Es geht um Kurt Gerstein, der als SS-Angehöriger verzweifelt versuchte, das Ausland über die Ermordung der Juden zu informieren, und um Fanny Kaplan, die als Menschewikin 1918 ein Attentat auf Lenin unternahm. Es geht aber auch um Hitler und Stalin selbst, die anfangs nur als "der Schlafwandler" und "der Realist" auftreten. Ihrem unheilvollen Zusammen- und Gegenspiel verdankt sich die Entstehung eines Leitmotivs: "Der Schlafwandler ist ganz Auge; der Realist ist ganz Ohr; indem sie sich paaren, erschaffen sie das Telefon."
Man muss für solche frühen Sätze in Vollmanns Roman selbst Auge und Ohr haben, denn sie bereiten vor, was auf den vielen hundert Seiten danach noch folgt. Die "Paarung", hier noch metaphorisch, wird wenig später ganz konkret, wenn das Liebesspiel zwischen Schostakowitsch und Elena beginnt. Krieg (mit Menschen und mit Kunst) und Liebe (zu Menschen und zur Kunst) stehen sich permanent gegenüber und werden fokussiert in der Person Schostakowitschs, auf dessen Leben und Schaffen allein schon ein Drittel der Handlung entfällt. Man erfährt von dem sorgfältigen Rechercheur Vollmann nicht nur auf erzählerisch hinreißende Art, wie Schostakowitsch gelebt hat, sondern auch, wie man ihn hören kann. "Europe Central" ist nebenbei und vollkommen unaufdringlich auch eine musikästhetische Programmschrift.
Und es ist selbst ein hochmusikalisches Buch. Vollmann hat es entsprechend komponiert, ohne dass er dabei einem der gängigen Schemata der Klassik gefolgt wäre, wie es etwa Heimito von Doderer in einigen seiner Romane versucht hat. Das rechte Vorbild für "Europe Central" ist natürlich Schostakowitsch selbst, der vor allem in seinen Streichquartetten, aber auch den Sinfonien und Sonaten immer wieder mit der Tradition gebrochen hat - gegen die Erwartungen eines Regimes, das für solchen Individualismus, der als "Formalismus" denunziert wurde, nichts übrighatte außer Repression.
Drei Kompositionen von Schostakowitsch sind für die Handlung (und auch die Struktur des Buchs) besonders wichtig: die Cellosonate op. 40 (1934), die siebte Sinfonie (1942) und das achte Streichquartett (1960). Sie stehen für den Beginn der Liebe zu Elena, für den Höhepunkt des Krieges, als Schostakowitsch aus dem belagerten Leningrad hinter den Ural gebracht wird, und für die Zeit nach der Entstalinisierung. Das Streichquartett, gewidmet den Opfern von Krieg und Faschismus, ist nach Vollmanns Deutung die Bilanz Europas im zwanzigsten Jahrhundert, mit all den Stimmen, Klagelauten und Schmerzensschreien der Opfer, auch derer Stalins.
"Europe Central" buchstabiert dieses Prinzip nun gleichfalls aus, und das nach strengsten formalen Kriterien. Nach einer Exposition, mit der die Telefonzentralemetapher eingeführt wird, folgt eine Serie von achtzehn Kapitelpaaren, deren Zusammenhalt und Balance manchmal ganz leicht zu erkennen sind (Wlassow und Paulus bilden eines dieser Paare und bekommen jeweils ein fast hundert Seiten langes Kapitel), doch weitaus häufiger übernimmt Vollmann das Schostakowitsch-Prinzip des kontrastiven Komponierens, aus dessen Reibepunkten sich erst das Überraschende generiert.
So schwanken nicht nur die Kapitellängen zwischen drei und 135 Seiten, mehr noch tut es die Erzählperspektive. Es gibt kein eindeutiges "Ich" wie in Jonathan Littells von Thema und akribischer Herangehensweise so ähnlichem Roman "Die Wohlgesinnten", der 2006 in Frankreich erschien, ein Jahr nach "Europe Central", dessen Rang dadurch in Europa zunächst übersehen wurde. Vollmann erzählt mit zahlreichen Ichs, doch alle haben sie eines gemeinsam (auch mit Maximilian Aue aus "Die Wohlgesinnten"): Sie sind Überzeugungstäter und bleiben es. Wir bekommen also die Sowjetunion und das "Dritte Reich" aus den Augen von Parteigängern vorgeführt. Das muss man aushalten, auch die implizite Gleichsetzung. Auf der deutschen Seite erzählen hochrangige Militärs, die nie beim Namen genannt werden, auf der russischen Mitglieder der Nomenklatura, die sich vor allem mit Überwachung beschäftigen. Ein einziger Erzähler, "Genosse Alexandrow", wird in einer der Anmerkungen von Vollmann identifiziert, aber er taucht an anderer Stelle im Roman mehrfach als handelnde Person im Blick eines weiteren Ichs auf. Bisweilen wechseln die Erzähler sogar innerhalb des Kapitels. Und diverse Male greift auch Vollmann selbst in der Handlung ein, zum Beispiel, wenn ein Erzähler, der eben noch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschildert hat, plötzlich in Klammern einschiebt: "Ich schreibe im Jahr 2002."
Diesen Kriegsausbruch erlebt der Adolf Hitler des Romans übrigens in Berlin, nicht in München, und solche Freiheiten nimmt sich Vollmann häufiger. Da ist Platz für Ironie, wenn Stalins Antisemitismuskampagne 1949 darauf zurückgeführt wird, dass er nun vielleicht Zeit gefunden habe, "Mein Kampf" zu lesen. Bisweilen lenkt Vollmann auch bewusst auf falsche Spuren, so schon auf Seite 14, wo er Göring ein Rendezvous mit der Schauspielerin Lida Baarová andichtet, die ja als Goebbels-Geliebte bekannt ist. 270 Seiten später erwähnt er sie ein zweites Mal, diesmal dann an der Seite des Propagandaministers. Dazu gibt es keine Fußnote, die ansonsten vielhundertfach den Roman durchziehen; der Anhang dazu umfasst allein schon achtzig Seiten.
Aber auch die sollte man lesen, denn vieles im Roman entschlüsselt sich erst dadurch, und vor allem erkennt man dann an den dort durchgeführten discours de la méthode, was für eine Leistung die Zusammenführung dieser Stofffülle darstellt. Das Buch ist durchwoben von wiederkehrenden Begriffen oder Dingen, die einzelne Gedanken und Schicksale miteinander verzahnen. Es ist erkennbar eine Lebensliebe von William T. Vollmann, ein manisches Stück Literatur, das eher als mit Littells "Wohlgesinnten" mit Thomas Pynchons "Enden der Parabel" oder der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss zu vergleichen ist, weil auch in diesen Romanen trotz der überreichen Materialsammlung jeweils ein strenges formales Prinzip waltet. (Und wer in sein Buch so viele Raketendiskurse oder auch einmal die Bemerkung einflicht: "Wie also war er? Ich sehe in ihm die zentrale Figur einer Parabel", der verweist sehr deutlich auf die Leitmetaphorik von Pynchon.)
Es ist also ein höchst ausgefuchstes Stück Literatur, was hier aufgeführt wird - und das große Glück der deutschen Ausgabe ist, dass Robin Detje mit der Hilfe einer Assistentin anderthalb Jahre daran übersetzen konnte, so dass die zahlreichen einmontierten Quellenpassagen auch jeweils nachrecherchiert werden konnten. Ein einziger drastischer Fehler ist ins Buch gerutscht (Stalingrad soll im August 1943 von den Russen eingekesselt worden sein, da war es längst zurückerobert). Und es ist vor allem der von Detje bewahrten Rhythmisierung der Form zu verdanken, dass selbst die schwächeren Passagen des Buchs, wo zu sehr ereignisorientiert oder banal-biographisch erzählt wird, nie die Lesespannung mindern. Meisterhaft kristallisiert sich nämlich immer wieder aus dem Textgebirge dieses Buchs das funkelnde Kunststück von Schostakowitschs Lebensliebe heraus - ein Roman im Roman, der zum Eindrucksvollsten zählt, was über die Ambivalenz von Kunst und Macht, von Leben, Liebe und Tod geschrieben worden ist. "Europe Central" steht im Zentrum dessen, was Literatur zu leisten versteht.
ANDREAS PLATTHAUS
William T. Vollmann: "Europe Central". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 1028 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»... das Erlebnis einer gelungenen Verschmelzung von Liebesgeschichte, Künstlerroman, Historienpanorama und anthropologischer Erkundung durch eine entfesselte, egozentrische Erzählerphantasie.« Carsen Hueck Neue Zürcher Zeitung 20130813