Shortlist Deutscher Buchpreis 2021/ Schweizer Literaturpreis 2022 für im vergangenen Jahr erschienene literarische Werke.
»I'll see you in twenty-five years.« Laura Palmer.
»Also, ich musste wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Es war ganz schrecklich. Aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, dass ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muss ich sagen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun nicht mehr einfällt, 'Faserland' genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.«
Christian Krachts lange erwarteter neuer Roman beginnt mit einer Erinnerung: vor 25 Jahren irrte in »Faserland« ein namenloser Ich-Erzähler (war es Christian Kracht?) durch ein von allen Geistern verlassenes Deutschland, von Sylt bis über die Schweizer Grenze nach Zürich. In »Eurotrash« geht derselbe Erzähler erneut aufeine Reise - diesmal nicht nur ins Innere des eigenen Ichs, sondern in die Abgründe der eigenen Familie, deren Geschichte sich auf tragische, komische und bisweilen spektakuläre Weise immer wieder mit der Geschichte dieses Landes kreuzt. »Eurotrash« ist ein berührendes Meisterwerk von existentieller Wucht und sarkastischem Humor.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
»I'll see you in twenty-five years.« Laura Palmer.
»Also, ich musste wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Es war ganz schrecklich. Aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, dass ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muss ich sagen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun nicht mehr einfällt, 'Faserland' genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.«
Christian Krachts lange erwarteter neuer Roman beginnt mit einer Erinnerung: vor 25 Jahren irrte in »Faserland« ein namenloser Ich-Erzähler (war es Christian Kracht?) durch ein von allen Geistern verlassenes Deutschland, von Sylt bis über die Schweizer Grenze nach Zürich. In »Eurotrash« geht derselbe Erzähler erneut aufeine Reise - diesmal nicht nur ins Innere des eigenen Ichs, sondern in die Abgründe der eigenen Familie, deren Geschichte sich auf tragische, komische und bisweilen spektakuläre Weise immer wieder mit der Geschichte dieses Landes kreuzt. »Eurotrash« ist ein berührendes Meisterwerk von existentieller Wucht und sarkastischem Humor.
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Rezensent Jan Wiele zieht den Hut vor Christian Krachts etwas anderer Memoiren-Kunst. Wie der Autor und sein Erzähler diesmal antreten, die dunklen Ecken ihrer Familiengeschichte mit Fiktion zu überkleistern, findet Wiele schon lesenswert. Parodistisch, mit der Spottlust eines Thomas Bernhard geht das laut Wiele vor sich. Wiele folgt dem Erzähler und dessen Mutter durch eine Pappmaché-Schweiz, die der Roman filmisch und (alp-)träumerisch ausstaffiert. Das ist manchmal sogar witzig, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Falsche Fische
Die grotesken Filmszenen der Erinnerung: In seinem Roman "Eurotrash" betrachtet Christian Kracht die eigene Familiengeschichte in einem Zerrspiegel. So entsteht eine Parodie auf die Mode des autobiographischen Schreibens, die uns fragt: In welcher Fiktion wollen wir leben?
Von Jan Wiele
Kann man noch deutlicher machen, dass etwas eine Parodie ist? In seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 2018 sagte Christian Kracht: "Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie." Er meinte nicht zuletzt die Vorlesungsreihe, in der er sprach. Und schon damals entstand der Eindruck, Kracht parodiere die Textgattung, in der er sich äußert, indem er seine eigene Lebensgeschichte in grotesk überzeichneten Episoden erzählte und nach Schilderung einer Missbrauchserfahrung aus seiner Jugend sein ganzes literarisches Werk im Lichte dieser Erfahrung mit der Methode des Biographismus selbst auslegte. Er nannte dann explizit die Parodie eine "Heilung für den Missbrauch".
Nun erscheint Krachts neuer Roman. Er heißt "Eurotrash". Der Begriff bezeichnet oft eine triviale, obszöne Form der Popmusik - der Künstler Friedrich Liechtenstein sprach etwa gegenüber dieser Zeitung einmal von "Eurotrash der Skihütten". Aber laut dem für das Verständnis gegenwärtiger Kultur oft hilfreichen Online-Medium "Urban Dictionary" kann "Eurotrash" auch Menschen meinen, die sich durch zur Schau getragenen Wohlstand und gleichzeitig durch inszenierte Verlotterung, durch Modesucht in schmerzhaft empfundenem Ironiebewusstsein und durch Weltmüdigkeit auszeichnen.
Worauf also zielt die Parodie des Romans "Eurotrash"? Zum einen auf den konsumistischen, oberflächlichen Lebensstil, mit dem Kracht seit seinem Debüt "Faserland" (1995) wie kein anderer Gegenwartsautor in Verbindung gebracht wurde, weil er diesen Lebensstil darin vermeintlich affirmativ beschrieben hatte. Das war eine Fehlrezeption, allerdings eine äußerst produktive: Sie hängt der deutschsprachigen Popliteratur als Stigma bis heute an, teils auch nicht zu Unrecht. Im neuen Roman, der als Fortsetzung von "Faserland" beworben wird, malt Kracht in einer an Thomas Bernhard gemahnenden Spottlust die Schweiz als Hort des Eurotrashs aus. Und setzt sich mit der Frage auseinander, ob er und seine Familie vielleicht selbst "Eurotrash" sind.
Wenn man aber man den Titel auch als ironische Selbstdenunziation des Romans versteht, zielt die Parodie sogar auf dessen eigene Form: Seine zur Schau gestellte Mode wäre dann die des autobiographischen Erzählens, das seit ein paar Jahren nun zu einem regelrechten Kult vermeintlich authentischer Memoir-Literatur geführt hat. Ebenden hatte Kracht in seiner Vorlesung parodiert, und der Roman ist die konsequente Fortsetzung auch davon.
Sein Erzähler heißt Christian Kracht, und vieles dürfte damaligen Zuhörern der Vorlesung bekannt vorkommen: das Aufwachsen in kaltem Wohlstand, maximal entfremdet von den desinteressierten Eltern, die Hassliebe zur Schweizer Heimat, das angebliche Anzünden der Schule im Alter von sieben Jahren, der Vater, ein Manager im Verlag Axel Springers, als Parvenu im internationalen Jetset, der Expressionisten-Originalbilder unter dem Bett hortet, die nationalsozialistische Vergangenheit der Großeltern, ein kurioser Onkel. Neu allerdings ist nun die Geschichte der Mutter: Sie wird zum Zentrum des Romans, löst seine Handlung aus, indem sie den in Amerika lebenden Sohn zum Besuch in die Schweiz bittet, von dem man ahnt, es könnte der letzte sein. Diese Mutter ist es, die diesmal für die qualvolle Nabelschau sorgt, wenn erzählt wird, dass auch sie im Alter von elf Jahren missbraucht worden sei und doch nicht verhindern konnte, dass ihrem Sohn später das Gleiche geschah. "Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muss, war von einer bodenlosen Hoffnungslosigkeit", heißt es zu Beginn. Die Mutter wird beschrieben als stark trinkendes, tablettenabhängiges Wrack. Die Wiederbegegnung mit dem Sohn ist denkbar schmerzhaft für beide, und doch haben beide sie bitter nötig.
Beide haben sich nämlich mit traumatischer Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn man so will, Trauerarbeit zu leisten. Der Erzähler gibt ohnehin zu, er lebe seit Jahrzehnten nur in der "ewig präsenten" Vergangenheit. Und gibt dann noch einen bedeutsamen Hinweis: "Ich lebte in Filmen."
Damit ist etwas Entscheidendes über die Erzählstruktur von Kracht-Romanen gesagt: Denn oft werden darin, ausgehend von einem Stichwort, Szenen filmisch ausfabuliert - Stilprinzip auch seines Kino-Romans "Die Toten" (2016). Unmittelbar nach dem Filmhinweis folgt hier eine vorgestellte Erinnerung aus der Kriegskindheit der Mutter, in der Deserteure an Laternenpfählen aufgeknüpft sind, Körperteile aus zerbombtem Häusern hängen. Dann folgt eine Betrachtung über den Vater, der aus Angst vor seiner Provinzialität zum Snob zu werden versucht - und schwups, sehen wir ihn in Londoner
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Klubs zwischen Roastbeefwagen und weißen Schürzen, wie er verzweifelt versucht mitzuhalten. Es klappt leider nicht, vielleicht weil der Vater, wie es noch später heißt, als "sonderbarer kleiner Mann dem Schauspieler Louis de Funès sehr geähnelt hatte"? Auch die Erinnerung des Erzählers an seine eigene Kindheit ist filmgesteuert: "Meine Träume sahen ungefähr so aus wie die Schlußszene in der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tag", sagt er einmal: Stoff für Albträume.
Sein Hass-Bild der Schweiz wiederum scheint grundiert von Filmen des antikapitalistischen Revolutionärs Guy Debord, dessen Kritik an der "Gesellschaft des Spektakels" (1967) hier nicht nur gegen den Konsumismus der Eidgenossen, sondern auch gegen den der falsch verstandenen Popliteratur in Stellung gebracht wird: Die Barbourjacke aus "Faserland" weicht einem kratzigen Öko-Pullover.
Und doch besteht die Pointe des Romans "Eurotrash" darin, sich den vorgestanzten Film-Träumen nicht willenlos zu unterwerfen, sondern sie selbst zu gestalten: als Tagträume. Der sagenhafte Roadtrip, auf den sich der Erzähler darin mit seiner von Krankheit gezeichneten Mutter begibt, ist so eine Flucht in die Tagtraum-Realität.
Das dämmert dem Leser, wenn die Mutter den Sohn ständig bittet, Geschichten zu erzählen, und der bereitwillig losfabuliert. Aber immer deutlicher wird dann, dass auch die innerhalb der Romanfiktion als wahr ausgegebene Erzählung einer Taxifahrt kreuz und quer durch die Schweiz, bei der Mutter und Sohn mit Tausendfrankenscheinen aus Plastiktüten um sich werfen, bei Öko-Nazis übernachten, Borges' Grab besuchen, erst nach München und dann nach Afrika zu fliegen beschließen und doch am Ende wieder auf einem Klinikparkplatz landen, selbst eine solche Tagtraum-Fiktion sein könnte.
Die Schlüsselszene eines Fischessens wirkt wie ein poetologisches Emblem dieser Erkenntnis: "Im milchiggekochten Auge der Forelle", die vor den Protagonisten als "straff zusammengezogene hellblaue Leiche" unappetitlich auf dem Teller liegt, "spiegelte sich nichts", heißt es, und dann: "Was hätte sich auch spiegeln sollen?" Daraus erhellt nicht nur, dass die Figuren, die da am Tisch sitzen, gar nicht wirklich da sind. Sondern auch, da das lang herbeigesehnte Forellenmahl eine so drastische Enttäuschung ist: dass die falschen Fische der Fiktion eben oft schöner sind als die Wirklichkeit. Die Drastik dieser Wirklichkeit zu mildern durch steile Geschichten: das ist das Prinzip Christian Krachts, das er den aufrichtigen Memoir-Schreibern trotzig entgegenschleudert. Manchmal sogar mit Humor, wenn die Mutter etwa sagt, die Schweiz sei ja auch nur eine Erfindung der Engländer.
Das Ende des Romans schildert berührend die Übereinkunft von Mutter und Sohn, die Tagtraum-Welt gar nicht mehr zu verlassen. Und so landen beide am Ziel einer Reise, die sie nie angetreten haben: Heilung durch Fiktion.
Christian Kracht: "Eurotrash". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 210 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die grotesken Filmszenen der Erinnerung: In seinem Roman "Eurotrash" betrachtet Christian Kracht die eigene Familiengeschichte in einem Zerrspiegel. So entsteht eine Parodie auf die Mode des autobiographischen Schreibens, die uns fragt: In welcher Fiktion wollen wir leben?
Von Jan Wiele
Kann man noch deutlicher machen, dass etwas eine Parodie ist? In seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 2018 sagte Christian Kracht: "Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie." Er meinte nicht zuletzt die Vorlesungsreihe, in der er sprach. Und schon damals entstand der Eindruck, Kracht parodiere die Textgattung, in der er sich äußert, indem er seine eigene Lebensgeschichte in grotesk überzeichneten Episoden erzählte und nach Schilderung einer Missbrauchserfahrung aus seiner Jugend sein ganzes literarisches Werk im Lichte dieser Erfahrung mit der Methode des Biographismus selbst auslegte. Er nannte dann explizit die Parodie eine "Heilung für den Missbrauch".
Nun erscheint Krachts neuer Roman. Er heißt "Eurotrash". Der Begriff bezeichnet oft eine triviale, obszöne Form der Popmusik - der Künstler Friedrich Liechtenstein sprach etwa gegenüber dieser Zeitung einmal von "Eurotrash der Skihütten". Aber laut dem für das Verständnis gegenwärtiger Kultur oft hilfreichen Online-Medium "Urban Dictionary" kann "Eurotrash" auch Menschen meinen, die sich durch zur Schau getragenen Wohlstand und gleichzeitig durch inszenierte Verlotterung, durch Modesucht in schmerzhaft empfundenem Ironiebewusstsein und durch Weltmüdigkeit auszeichnen.
Worauf also zielt die Parodie des Romans "Eurotrash"? Zum einen auf den konsumistischen, oberflächlichen Lebensstil, mit dem Kracht seit seinem Debüt "Faserland" (1995) wie kein anderer Gegenwartsautor in Verbindung gebracht wurde, weil er diesen Lebensstil darin vermeintlich affirmativ beschrieben hatte. Das war eine Fehlrezeption, allerdings eine äußerst produktive: Sie hängt der deutschsprachigen Popliteratur als Stigma bis heute an, teils auch nicht zu Unrecht. Im neuen Roman, der als Fortsetzung von "Faserland" beworben wird, malt Kracht in einer an Thomas Bernhard gemahnenden Spottlust die Schweiz als Hort des Eurotrashs aus. Und setzt sich mit der Frage auseinander, ob er und seine Familie vielleicht selbst "Eurotrash" sind.
Wenn man aber man den Titel auch als ironische Selbstdenunziation des Romans versteht, zielt die Parodie sogar auf dessen eigene Form: Seine zur Schau gestellte Mode wäre dann die des autobiographischen Erzählens, das seit ein paar Jahren nun zu einem regelrechten Kult vermeintlich authentischer Memoir-Literatur geführt hat. Ebenden hatte Kracht in seiner Vorlesung parodiert, und der Roman ist die konsequente Fortsetzung auch davon.
Sein Erzähler heißt Christian Kracht, und vieles dürfte damaligen Zuhörern der Vorlesung bekannt vorkommen: das Aufwachsen in kaltem Wohlstand, maximal entfremdet von den desinteressierten Eltern, die Hassliebe zur Schweizer Heimat, das angebliche Anzünden der Schule im Alter von sieben Jahren, der Vater, ein Manager im Verlag Axel Springers, als Parvenu im internationalen Jetset, der Expressionisten-Originalbilder unter dem Bett hortet, die nationalsozialistische Vergangenheit der Großeltern, ein kurioser Onkel. Neu allerdings ist nun die Geschichte der Mutter: Sie wird zum Zentrum des Romans, löst seine Handlung aus, indem sie den in Amerika lebenden Sohn zum Besuch in die Schweiz bittet, von dem man ahnt, es könnte der letzte sein. Diese Mutter ist es, die diesmal für die qualvolle Nabelschau sorgt, wenn erzählt wird, dass auch sie im Alter von elf Jahren missbraucht worden sei und doch nicht verhindern konnte, dass ihrem Sohn später das Gleiche geschah. "Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muss, war von einer bodenlosen Hoffnungslosigkeit", heißt es zu Beginn. Die Mutter wird beschrieben als stark trinkendes, tablettenabhängiges Wrack. Die Wiederbegegnung mit dem Sohn ist denkbar schmerzhaft für beide, und doch haben beide sie bitter nötig.
Beide haben sich nämlich mit traumatischer Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn man so will, Trauerarbeit zu leisten. Der Erzähler gibt ohnehin zu, er lebe seit Jahrzehnten nur in der "ewig präsenten" Vergangenheit. Und gibt dann noch einen bedeutsamen Hinweis: "Ich lebte in Filmen."
Damit ist etwas Entscheidendes über die Erzählstruktur von Kracht-Romanen gesagt: Denn oft werden darin, ausgehend von einem Stichwort, Szenen filmisch ausfabuliert - Stilprinzip auch seines Kino-Romans "Die Toten" (2016). Unmittelbar nach dem Filmhinweis folgt hier eine vorgestellte Erinnerung aus der Kriegskindheit der Mutter, in der Deserteure an Laternenpfählen aufgeknüpft sind, Körperteile aus zerbombtem Häusern hängen. Dann folgt eine Betrachtung über den Vater, der aus Angst vor seiner Provinzialität zum Snob zu werden versucht - und schwups, sehen wir ihn in Londoner
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Klubs zwischen Roastbeefwagen und weißen Schürzen, wie er verzweifelt versucht mitzuhalten. Es klappt leider nicht, vielleicht weil der Vater, wie es noch später heißt, als "sonderbarer kleiner Mann dem Schauspieler Louis de Funès sehr geähnelt hatte"? Auch die Erinnerung des Erzählers an seine eigene Kindheit ist filmgesteuert: "Meine Träume sahen ungefähr so aus wie die Schlußszene in der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tag", sagt er einmal: Stoff für Albträume.
Sein Hass-Bild der Schweiz wiederum scheint grundiert von Filmen des antikapitalistischen Revolutionärs Guy Debord, dessen Kritik an der "Gesellschaft des Spektakels" (1967) hier nicht nur gegen den Konsumismus der Eidgenossen, sondern auch gegen den der falsch verstandenen Popliteratur in Stellung gebracht wird: Die Barbourjacke aus "Faserland" weicht einem kratzigen Öko-Pullover.
Und doch besteht die Pointe des Romans "Eurotrash" darin, sich den vorgestanzten Film-Träumen nicht willenlos zu unterwerfen, sondern sie selbst zu gestalten: als Tagträume. Der sagenhafte Roadtrip, auf den sich der Erzähler darin mit seiner von Krankheit gezeichneten Mutter begibt, ist so eine Flucht in die Tagtraum-Realität.
Das dämmert dem Leser, wenn die Mutter den Sohn ständig bittet, Geschichten zu erzählen, und der bereitwillig losfabuliert. Aber immer deutlicher wird dann, dass auch die innerhalb der Romanfiktion als wahr ausgegebene Erzählung einer Taxifahrt kreuz und quer durch die Schweiz, bei der Mutter und Sohn mit Tausendfrankenscheinen aus Plastiktüten um sich werfen, bei Öko-Nazis übernachten, Borges' Grab besuchen, erst nach München und dann nach Afrika zu fliegen beschließen und doch am Ende wieder auf einem Klinikparkplatz landen, selbst eine solche Tagtraum-Fiktion sein könnte.
Die Schlüsselszene eines Fischessens wirkt wie ein poetologisches Emblem dieser Erkenntnis: "Im milchiggekochten Auge der Forelle", die vor den Protagonisten als "straff zusammengezogene hellblaue Leiche" unappetitlich auf dem Teller liegt, "spiegelte sich nichts", heißt es, und dann: "Was hätte sich auch spiegeln sollen?" Daraus erhellt nicht nur, dass die Figuren, die da am Tisch sitzen, gar nicht wirklich da sind. Sondern auch, da das lang herbeigesehnte Forellenmahl eine so drastische Enttäuschung ist: dass die falschen Fische der Fiktion eben oft schöner sind als die Wirklichkeit. Die Drastik dieser Wirklichkeit zu mildern durch steile Geschichten: das ist das Prinzip Christian Krachts, das er den aufrichtigen Memoir-Schreibern trotzig entgegenschleudert. Manchmal sogar mit Humor, wenn die Mutter etwa sagt, die Schweiz sei ja auch nur eine Erfindung der Engländer.
Das Ende des Romans schildert berührend die Übereinkunft von Mutter und Sohn, die Tagtraum-Welt gar nicht mehr zu verlassen. Und so landen beide am Ziel einer Reise, die sie nie angetreten haben: Heilung durch Fiktion.
Christian Kracht: "Eurotrash". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 210 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Wiele zieht den Hut vor Christian Krachts etwas anderer Memoiren-Kunst. Wie der Autor und sein Erzähler diesmal antreten, die dunklen Ecken ihrer Familiengeschichte mit Fiktion zu überkleistern, findet Wiele schon lesenswert. Parodistisch, mit der Spottlust eines Thomas Bernhard geht das laut Wiele vor sich. Wiele folgt dem Erzähler und dessen Mutter durch eine Pappmaché-Schweiz, die der Roman filmisch und (alp-)träumerisch ausstaffiert. Das ist manchmal sogar witzig, findet der Rezensent.
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»Krachts 'Dichtung und Wahrheit' (...) wird zu einem großen, heiteren Abenteuerroman, bestimmt dem herzlichsten, den es von Kracht bislang zu lesen gab.« Felix Stephan Süddeutsche Zeitung 20210304