Europa vor 100 Jahren: ein Kontinent im "Nationalitätswahnsinn" (Nietzsche) und Kolonialrausch. Heute sind wir alle "gute Europäer". Diese glückliche Wende erfolgt nicht ohne neue wirtschaftliche, politische und kulturelle Grenzziehungen. Totz aller inneren und äußeren Unterschiede bilden sich Gemeinsamkeiten und Identifikationsmöglichkeiten heraus - damals wie heute.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2003Keiner muß intim werden
Für Ute Frevert geht Europas Identitätsfrage schon in Ordnung
Ein Buch zur rechten Zeit, in der Debattenglut haucht's Kühlung zu. Seit letzter Woche wissen wir: Der nächste Entwurf einer europäischen Verfassung kommt bestimmt. Da geht die Identitätsfrage Europas also schon in Ordnung. Das sagt auch die Wissenschaft, die historisch informierte zumal, dargeboten von Ute Frevert, Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Eurovisionen - Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert", es ist gewissermaßen ein Andiehandnehmbuch für uns eilige Zeitdiagnostiker, welche geneigt sind, schon die bloße Frage, was Europäer miteinander verbindet, für eine vom Starnberger Himmel gefallene Ungeheuerlichkeit zu halten.
Nimm und lies, spricht Ute Frevert uns zu. Lies, daß die Frage nach einer europäischen Identität im Grunde so alt ist wie die europäische Geschichte selbst, daß sie schon tausendundeine Antwort erhalten hat, und sich auch heute durch keinen noch so forcierten Imperativ von der kulturellen Agenda verbannen läßt. Ganz vorsichtig setzt Ute Frevert ein: "Anschauungen, Wahrnehmungen und Visionen Europas lassen sich nicht allein bei den exponierten Trägern des Karlspreises entdecken; wir finden sie in sozialen Bewegungen und politischen Parteien, unter Intellektuellen und Unternehmern, im Umfeld von Kirchen und Gewerkschaften." Von Diderot und Voltaire über Novalis und Friedrich Gentz, Edmund Husserl und Lionel Curtis bis zu Simone de Beauvoir und Antonia Byatt haben sich Generationen europäischer Intellektueller Gedanken über das gemacht, was sie, je nach Zeitgeist, den europäischen "Geist", die europäische "Idee" oder die europäische "Identität" nannten.
Historisch wird klar, daß die Frage nach dem einigenden Band Europas natürlich nie auf ein homogenes Milieu abzielte. Stets ging man von der Vorstellung aus, daß im Hause Europas viele Wohnungen sind, daß es jedenfalls nicht als postnationale Wohngemeinschaft der Gleichgesinnten gedacht werden kann. Keiner hat je gefordert, ein gemeinsamer europäischer Code habe ein Code der Intimität zu sein. Auf engstem Raum zusammengedrängt, bietet Europa - so erinnert die Autorin - vielmehr eine Vielfalt von Sprachen, Baustilen, Eß- und Trinkgewohnheiten, Umgangs- und Lebensweisen, die kein anderer Erdteil in ähnlicher Dichte aufweise. Will man die Identitätsfrage nicht der Verballhornung aussetzen, müsse man sie von der ahistorischen Idee eines "Gruppenskripts" lösen.
"Wer Europa vor allem als Schauplatz kriegerischer Gewalt erinnert, wird das Gemeinschaftswerk der letzten Jahrzehnte trotz aller Mängel positiv bewerten; wer Europa als einen periodisch vom Islam bedrängten christlichen Kontinent begreift, wird türkische, albanische und arabische Immigranten als nichteuropäisch ausgrenzen." Die Autorin sieht Europa - durchaus auch in einem historisch gewachsenen, nicht weiter zu dramatisierenden Antagonismus zu Amerika - als "Laboratorium" für einen Universalismus, welcher multilateral gedeckte Rechtsauffassungen, ebensolche Standards in Umweltweltfragen sowie gerechte ökonomische Bedingungen meint. Eine solche politische Kultur unter Bürgern, die als Fremde gleichwohl füreinander einstehen sollen, stellt sich als ein voraussetzungsreicher Kommunikationszusammenhang dar - jedenfalls als Gegenteil einer auf Ausgrenzung bedachten "Leitkultur". "Eine transnationale europäische ,Leitkultur' wird daraus mit Sicherheit nicht erwachsen; abgesehen davon, daß sie von niemandem gewollt wird, ließe sie sich auch nicht künstlich oktroyieren." Wie sich auch der Bedarf an europäischen Identifikationen nicht künstlich verhindern läßt.
CHRISTIAN GEYER
Ute Frevert: "Eurovisionen". Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 218 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für Ute Frevert geht Europas Identitätsfrage schon in Ordnung
Ein Buch zur rechten Zeit, in der Debattenglut haucht's Kühlung zu. Seit letzter Woche wissen wir: Der nächste Entwurf einer europäischen Verfassung kommt bestimmt. Da geht die Identitätsfrage Europas also schon in Ordnung. Das sagt auch die Wissenschaft, die historisch informierte zumal, dargeboten von Ute Frevert, Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Eurovisionen - Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert", es ist gewissermaßen ein Andiehandnehmbuch für uns eilige Zeitdiagnostiker, welche geneigt sind, schon die bloße Frage, was Europäer miteinander verbindet, für eine vom Starnberger Himmel gefallene Ungeheuerlichkeit zu halten.
Nimm und lies, spricht Ute Frevert uns zu. Lies, daß die Frage nach einer europäischen Identität im Grunde so alt ist wie die europäische Geschichte selbst, daß sie schon tausendundeine Antwort erhalten hat, und sich auch heute durch keinen noch so forcierten Imperativ von der kulturellen Agenda verbannen läßt. Ganz vorsichtig setzt Ute Frevert ein: "Anschauungen, Wahrnehmungen und Visionen Europas lassen sich nicht allein bei den exponierten Trägern des Karlspreises entdecken; wir finden sie in sozialen Bewegungen und politischen Parteien, unter Intellektuellen und Unternehmern, im Umfeld von Kirchen und Gewerkschaften." Von Diderot und Voltaire über Novalis und Friedrich Gentz, Edmund Husserl und Lionel Curtis bis zu Simone de Beauvoir und Antonia Byatt haben sich Generationen europäischer Intellektueller Gedanken über das gemacht, was sie, je nach Zeitgeist, den europäischen "Geist", die europäische "Idee" oder die europäische "Identität" nannten.
Historisch wird klar, daß die Frage nach dem einigenden Band Europas natürlich nie auf ein homogenes Milieu abzielte. Stets ging man von der Vorstellung aus, daß im Hause Europas viele Wohnungen sind, daß es jedenfalls nicht als postnationale Wohngemeinschaft der Gleichgesinnten gedacht werden kann. Keiner hat je gefordert, ein gemeinsamer europäischer Code habe ein Code der Intimität zu sein. Auf engstem Raum zusammengedrängt, bietet Europa - so erinnert die Autorin - vielmehr eine Vielfalt von Sprachen, Baustilen, Eß- und Trinkgewohnheiten, Umgangs- und Lebensweisen, die kein anderer Erdteil in ähnlicher Dichte aufweise. Will man die Identitätsfrage nicht der Verballhornung aussetzen, müsse man sie von der ahistorischen Idee eines "Gruppenskripts" lösen.
"Wer Europa vor allem als Schauplatz kriegerischer Gewalt erinnert, wird das Gemeinschaftswerk der letzten Jahrzehnte trotz aller Mängel positiv bewerten; wer Europa als einen periodisch vom Islam bedrängten christlichen Kontinent begreift, wird türkische, albanische und arabische Immigranten als nichteuropäisch ausgrenzen." Die Autorin sieht Europa - durchaus auch in einem historisch gewachsenen, nicht weiter zu dramatisierenden Antagonismus zu Amerika - als "Laboratorium" für einen Universalismus, welcher multilateral gedeckte Rechtsauffassungen, ebensolche Standards in Umweltweltfragen sowie gerechte ökonomische Bedingungen meint. Eine solche politische Kultur unter Bürgern, die als Fremde gleichwohl füreinander einstehen sollen, stellt sich als ein voraussetzungsreicher Kommunikationszusammenhang dar - jedenfalls als Gegenteil einer auf Ausgrenzung bedachten "Leitkultur". "Eine transnationale europäische ,Leitkultur' wird daraus mit Sicherheit nicht erwachsen; abgesehen davon, daß sie von niemandem gewollt wird, ließe sie sich auch nicht künstlich oktroyieren." Wie sich auch der Bedarf an europäischen Identifikationen nicht künstlich verhindern läßt.
CHRISTIAN GEYER
Ute Frevert: "Eurovisionen". Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 218 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Schwer sei es, einen "guten Europäer" im Zeitalter der Globalisierung zu definieren, so der mit "rox" zeichnende Rezensent, und so erspare sich die Professorin für Allgemeine Geschichte Frevert auch den Versuch, dies zu tun. Stattdessen gehe sie weiter zurück, ins 19. und 20. Jahrhundert, und stelle fest, dass sich der "gute Europäer" vor allem durch fehlenden Nationalismus auszeichne. Die Ideen, die Europa von sich und seiner Vergangenheit entworfen habe, wolle die Autorin dabei "als Diskussionsgrundlage für die Konturen eines neuen Europa" verstanden wissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH