"Verena Keßler verwandelt die unerträgliche Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur." Marlene Knobloch, Süddeutsche Zeitung
Was, wenn Sina nicht schwanger werden kann? Wenn Mona nie Kinder bekommen hätte? Wäre die Welt dadurch ein besserer Ort? Ja, findet Klimaaktivistin Eva Lohaus: Nur ein Geburtenstopp kann unseren Planeten noch retten. Während sie mit den Konsequenzen ihrer radikalen Vision kämpft, hadern die Schwestern Sina und Mona mit ihren eigenen Lebensentwürfen. Aus der Ferne beneiden, aus der Nähe bemitleiden sie sich, gemeinsam versuchen sie, Verantwortung und Erwartungsdruck zu widerstehen. Doch erst die Begegnung mit Monas neuer Nachbarin verändert unseren Blick aufs Muttersein wirklich.
Was spricht heute gegen, was für eigene Kinder? In ihrer präzisen und bestechend schmucklosen Sprache erzählt Verena Keßler von vier Frauen, die ihre ganz eigenen Antworten auf diese Frage finden.
Was, wenn Sina nicht schwanger werden kann? Wenn Mona nie Kinder bekommen hätte? Wäre die Welt dadurch ein besserer Ort? Ja, findet Klimaaktivistin Eva Lohaus: Nur ein Geburtenstopp kann unseren Planeten noch retten. Während sie mit den Konsequenzen ihrer radikalen Vision kämpft, hadern die Schwestern Sina und Mona mit ihren eigenen Lebensentwürfen. Aus der Ferne beneiden, aus der Nähe bemitleiden sie sich, gemeinsam versuchen sie, Verantwortung und Erwartungsdruck zu widerstehen. Doch erst die Begegnung mit Monas neuer Nachbarin verändert unseren Blick aufs Muttersein wirklich.
Was spricht heute gegen, was für eigene Kinder? In ihrer präzisen und bestechend schmucklosen Sprache erzählt Verena Keßler von vier Frauen, die ihre ganz eigenen Antworten auf diese Frage finden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der "glasklare Stil" und der präzise Ausdruck, mit dem Verena Keßler von vier Frauen und ihrem Verhältnis zur Mutterschaft erzählt, ringen Rezensentin Emilia Kröger Respekt ab. Sie weiß auch die Verve zu schätzen, mit der sich Keßler an die heiklen Aspekte des Themas macht. Dennoch ist Kröger nicht ganz überzeugt von diesem Roman. Zu schematisch scheinen ihr die Figuren: Es gibt die Antinatalistin, die für ihre Position einen Shitstorm einkassiert, die Journalistin, die ungewollt kinderlos bleibt, und ihre Schwester, die ihren vielen Kinder nicht gerecht zu werden glaubt. Ein bisschen fühlt sich die Rezensentin wie in einer Versuchsanordnung. Dass Keßler zu allen Frauen dieselbe Distanz wahrt, erhöht in den Augen der Rezensentin den Eindruck der Konstruiertheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2023Bye, bye, Baby
Verena Keßler hinterfragt in ihrem Roman „Eva“ den
Sinn des Kinderkriegens und galant den des Lebens gleich mit
VON MARLENE KNOBLOCH
Der Mensch, und daran muss man in diesen gesellschaftlich leicht aufgebrachten Zeiten vielleicht erinnern, ist widersprüchlich. Er schimpft auf den Kapitalismus und wettet mit ETF-Sparplänen auf dessen Wachstum. Er verflucht die Konzepte Fußball und Deutschland und freut sich über das Tor von Niclas Füllkrug. Er klebt sich an Asphalt fest, um gegen den hohen CO&sub2;-Ausstoß zu demonstrieren, und setzt sich wenige Tage später in ein Flugzeug, um 12 000 Kilometer in den Urlaub zu fliegen. Oder er ist von baldigen Kriegen um Wasser, Dürreperioden und Flüchtlingsströmen aus unbewohnbaren Regionen sowieso ganz allgemein davon überzeugt, dass die Welt vor die Hunde geht, und wirft dennoch in diesen Turbo-Sinkflug namens Zukunft das am heißesten Geliebte, Wertvollste, Kostbarste des eigenen Universums hinein – Kinder. Wir wären ein einziger Misanthropen-Globus, gäbe es keine Kunst, die sich diesen himmelschreienden Widersprüchen liebevoll zu widmen wüsste, Kunst wie den Roman „Eva“ von der Schriftstellerin Verena Keßler. Denn sie verwandelt die unerträgliche Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur.
Mutter werden, während die Welt untergeht. „Man hat entweder Kinder, oder man hat keine. Niemand macht beide Erfahrungen“, sagt die kinderlose Sina zu ihrer Schwester Mona. Genau um diese Zwangsentscheidung, um diese unausweichliche Frage, die sich unbewusst oder bewusst ins Leben von Paaren schleicht, kreist „Eva“. Damit pirscht der Roman raubtierhaft um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Warum wollen wir eigentlich Eltern werden? In vier Kapiteln porträtiert Keßler vier Frauen (und ihre Partner, aber zu den Herrschaften später). Da ist die Lehrerin Eva Lohaus, die junge Journalistin Sina, die Familienmutter Mona und eine namenlose Schulsekretärin. Alle vier ringen mit der Entscheidung. Und alle vier verachten sich untereinander, während sie sich heimlich beneiden. Denn, das ist das Fantastische an Keßlers Roman: Hier macht niemand wirklich etwas richtig.
Mit einem Widerspruch im Widerspruch beginnt der Roman. Eva Lohaus ist überzeugt, dass Menschen keine Kinder mehr bekommen sollen. Sie schreibt, „dass der Verzicht auf ein eigenes Kind 58,6 Tonnen CO&sub2; pro Jahr einsparen könnte“. Ihr gegenüber sitzt die junge Journalistin Sina, die diese Extremthesen-Frau interviewt. Sina pariert die Ansichten von Lohaus, argumentiert dagegen (gibt es keine andere Lösung, hatten wir das nicht schon in den 80ern, „gehört das nicht dazu?“), aber etwas sickert durch die professionelle Hülle. Sina versucht seit Monaten, schwanger zu werden. Nachts liegt sie im Bett und denkt: „Das Boot war dabei, zu sinken, und wir ließen immer noch mehr Menschen an Bord gehen, die nicht nur dafür sorgten, dass es noch schneller unterging, sondern zwangsläufig mit absaufen mussten. Und wer war genauso blöd wie alle anderen?“
Die Leute reagieren aggressiv auf Eva Lohaus, fühlen sich angegriffen, denn klar, es macht einen Unterschied, ob jemand einem das Schnitzel oder das eigene Kind unter die Nase reibt. Sie finden schnell den Widerspruch in der evolutionären Erhabenheit: Neben Eva Lohaus hechelt eine Golden-Retriever-Hündin. Es reicht ein Hinweis im Teaser von Sinas Artikel, da surren die Doppelmoral-Alarmknöpfe der empörten Netzgemeinde. Wieso hat die Frau einen Hund? Will sie doch nicht alleine sein? Wie kann man so verlogen sein?
Die Figur Eva Lohaus vertritt in etwa die Positionen der sogenannten real existierenden „Birth Strikers“, einer Bewegung, die sich vor wenigen Jahren in Großbritannien gründete. Deren zwei Hauptargumente lauten zum einen, dass weniger Kinder weniger CO&sub2; bedeuten, zum anderen, dass man Kindern diese jetzt schon versaute Zukunft nicht zumuten sollte. Das sind sowohl in der Realität wie in Keßlers Roman radikale Ansichten, eine Spitze der Apokalypsen-Logik. Was Raum lässt für Knallerslogans wie „Fortpflanzung ist Luxus“ oder längeren Aua-Sätzen wie: „Das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sie gar nicht erst in die Welt zu setzen.“ „Eva“ umkreist damit lässig eine epochale Bruchstelle der Kulturgeschichte – erhebt sich gerade die Zivilisation über die Natur?
Der Witz an der Birth-Strike-Bewegung wie auch an der Figur Eva Lohaus ist nämlich, dass ihre Forderungen niemand braucht, um es sich anders zu überlegen. Was den geringen Mitgliederzulauf zu dieser Bewegung erklärt. Sie spricht nur sehr laut einen unschönen Zusammenhang aus, der die Menschen ja längst quält: Laut einer weltweiten Befragung zögern knapp 40 Prozent der Jugendlichen aufgrund des Klimawandels, Kinder zu bekommen. Robert Habeck sprach in Interviews davon, dass „Zwanzigjährige überlegen, ob sie überhaupt Kinder kriegen wollen“. Im Buch rumoren die Gedanken von Eva Lohaus in den anderen drei Frauenfiguren, sie lassen sie zornig, verzweifelt, grausam werden.
Man kann Verena Keßler nicht vorwerfen, sich als Schriftstellerin an die Fersen des Zeitgeistes zu heften. Ihr viel beachteter Debütroman „Die Gespenster von Demmin“ handelt vom Massensuizid 1945 in Demmin, ein Thema, das im Erscheinungsjahr 2020 der medialen Öffentlichkeit nicht unbedingt unter den Nägeln brannte. Jetzt fällt „Eva“ allerdings so perfekt in die Lücke zwischen „Klimakleber“ und „Jahrhundertsommer“, in die Zuversicht einer älteren Generation und die Angst einer jüngeren, denen Katastrophenszenarien um die Ohren pfeifen, dass man den Verdacht des Kalküls erheben könnte.
Es ist aber kein Sachbuch, das sich hinter einem alarmistischen Roman versteckt. Es schmuggelt keinen Aktionsplan zwischen die Zeilen, will nicht aufrütteln. Wir sollten doch, warum haben wir nicht. Es will weder verfluchen noch lösen. „Eva“ ist ein wunderschön unkonstruktiver Roman über ein Thema, bei dem das „Wir müssen jetzt“ schon über die Lippen rutscht, bevor das Wort „Klimakrise“ ausbuchstabiert ist. Stattdessen sagt es ohne Pathos und Selbstmitleid: Vielleicht gibt es keine Lösung.
Das gelingt unter anderem mit Vielstimmigkeit. Keßler erzählt in vier Kurzgeschichten das Schicksal vierer Frauen, die sich gegenseitig beäugen. Denn alle hadern mit den eigenen Entscheidungen. Die abgebrühte Geburtenstreikerin Eva Lohaus, die sich aus der Gesellschaft zurückzieht und abends Rotweinflaschen leert. Sina (den Nachnamen erfährt man nicht), die Angst hat, die Liebe ihres Lebens zu verlieren, wenn sie nicht schwanger wird. Mona, die im Urlaub auf Ibiza die Anrufe ihrer Familie wegdrückt. Die Schulsekretärin, die ein Rätsel ihres Vaters durchs Leben schleppt und erst spät merkt, dass es keine wahre Antwort gibt.
Alle Frauen schlafen schlecht, während die Männer neben ihnen binnen Sekunden wegdämmern. Sowieso bleiben die Partner weitgehend blass, die Verantwortung und damit der Stress bleibt bei den Frauen. Sie liegen nachts wach, denken an die eigene Fruchtbarkeit, an die schmerzhafte Geburt oder daran, dass man das Kind angeschrien hat. Den Erzählfluss stören selbst Worte wie „Eileiterdurchgängigkeitsprüfung“ nicht. Dafür sind die Handlungsstränge zu genau konstruiert, zu schlau verwoben. Der philosophische Überbau, die kulturgeschichtliche Kehrtwende schimmert dabei manchmal auffällig hell durch: „Von Eva zu Eva“, sagt sich Eva Lohaus etwa, und schließt den Kreis von der biblischen Urmutter bis zur Lehrerin, die fordert, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Dabei beeindruckt der Roman besonders dann, wenn die großen Fragen leise auftreten. Wenn Mona darüber nachdenkt, wie sich ihr Blick auf die Zeit gewandelt hat: „Die längste Zeit meines Lebens war die Zukunft für mich eine Verbündete.“ Für sie war die Ungewissheit einst ein Versprechen. Jetzt, wo man die Zukunft mit Zahlen entzaubert hat (zwei Grad Erwärmung zum Beispiel), raubt sie ihr den Schlaf. Wissen im Jahr 2023 belastet.
Keine Frage, „Eva“ ist ein bedrückender Roman. Hier wird nicht getröstet, gehofft, beschwichtigt. Aber, und da macht das Buch alles richtig, das soll Literatur auch nicht. Es ist vielmehr ein geseufztes, empathisches „Tja“. Denn gäbe es nicht Figuren, denen wir beim Schwanken, Umfallen, Liegenbleiben zusehen können – wir wären längst durchgedreht. Und das ist dann doch tröstlich.
Wer seine Kinder liebt,
der kriegt sie erst gar nicht,
oder etwa doch?
Jetzt, wo die Zukunft
entzaubert ist, raubt sie
den Frauen den Schlaf
Verena Keßler verwandelt die Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur.
Foto: Paula Winkler
Verena Keßler: Eva.
Roman. Hanser Berlin, Berlin 2023.
208 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Verena Keßler hinterfragt in ihrem Roman „Eva“ den
Sinn des Kinderkriegens und galant den des Lebens gleich mit
VON MARLENE KNOBLOCH
Der Mensch, und daran muss man in diesen gesellschaftlich leicht aufgebrachten Zeiten vielleicht erinnern, ist widersprüchlich. Er schimpft auf den Kapitalismus und wettet mit ETF-Sparplänen auf dessen Wachstum. Er verflucht die Konzepte Fußball und Deutschland und freut sich über das Tor von Niclas Füllkrug. Er klebt sich an Asphalt fest, um gegen den hohen CO&sub2;-Ausstoß zu demonstrieren, und setzt sich wenige Tage später in ein Flugzeug, um 12 000 Kilometer in den Urlaub zu fliegen. Oder er ist von baldigen Kriegen um Wasser, Dürreperioden und Flüchtlingsströmen aus unbewohnbaren Regionen sowieso ganz allgemein davon überzeugt, dass die Welt vor die Hunde geht, und wirft dennoch in diesen Turbo-Sinkflug namens Zukunft das am heißesten Geliebte, Wertvollste, Kostbarste des eigenen Universums hinein – Kinder. Wir wären ein einziger Misanthropen-Globus, gäbe es keine Kunst, die sich diesen himmelschreienden Widersprüchen liebevoll zu widmen wüsste, Kunst wie den Roman „Eva“ von der Schriftstellerin Verena Keßler. Denn sie verwandelt die unerträgliche Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur.
Mutter werden, während die Welt untergeht. „Man hat entweder Kinder, oder man hat keine. Niemand macht beide Erfahrungen“, sagt die kinderlose Sina zu ihrer Schwester Mona. Genau um diese Zwangsentscheidung, um diese unausweichliche Frage, die sich unbewusst oder bewusst ins Leben von Paaren schleicht, kreist „Eva“. Damit pirscht der Roman raubtierhaft um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Warum wollen wir eigentlich Eltern werden? In vier Kapiteln porträtiert Keßler vier Frauen (und ihre Partner, aber zu den Herrschaften später). Da ist die Lehrerin Eva Lohaus, die junge Journalistin Sina, die Familienmutter Mona und eine namenlose Schulsekretärin. Alle vier ringen mit der Entscheidung. Und alle vier verachten sich untereinander, während sie sich heimlich beneiden. Denn, das ist das Fantastische an Keßlers Roman: Hier macht niemand wirklich etwas richtig.
Mit einem Widerspruch im Widerspruch beginnt der Roman. Eva Lohaus ist überzeugt, dass Menschen keine Kinder mehr bekommen sollen. Sie schreibt, „dass der Verzicht auf ein eigenes Kind 58,6 Tonnen CO&sub2; pro Jahr einsparen könnte“. Ihr gegenüber sitzt die junge Journalistin Sina, die diese Extremthesen-Frau interviewt. Sina pariert die Ansichten von Lohaus, argumentiert dagegen (gibt es keine andere Lösung, hatten wir das nicht schon in den 80ern, „gehört das nicht dazu?“), aber etwas sickert durch die professionelle Hülle. Sina versucht seit Monaten, schwanger zu werden. Nachts liegt sie im Bett und denkt: „Das Boot war dabei, zu sinken, und wir ließen immer noch mehr Menschen an Bord gehen, die nicht nur dafür sorgten, dass es noch schneller unterging, sondern zwangsläufig mit absaufen mussten. Und wer war genauso blöd wie alle anderen?“
Die Leute reagieren aggressiv auf Eva Lohaus, fühlen sich angegriffen, denn klar, es macht einen Unterschied, ob jemand einem das Schnitzel oder das eigene Kind unter die Nase reibt. Sie finden schnell den Widerspruch in der evolutionären Erhabenheit: Neben Eva Lohaus hechelt eine Golden-Retriever-Hündin. Es reicht ein Hinweis im Teaser von Sinas Artikel, da surren die Doppelmoral-Alarmknöpfe der empörten Netzgemeinde. Wieso hat die Frau einen Hund? Will sie doch nicht alleine sein? Wie kann man so verlogen sein?
Die Figur Eva Lohaus vertritt in etwa die Positionen der sogenannten real existierenden „Birth Strikers“, einer Bewegung, die sich vor wenigen Jahren in Großbritannien gründete. Deren zwei Hauptargumente lauten zum einen, dass weniger Kinder weniger CO&sub2; bedeuten, zum anderen, dass man Kindern diese jetzt schon versaute Zukunft nicht zumuten sollte. Das sind sowohl in der Realität wie in Keßlers Roman radikale Ansichten, eine Spitze der Apokalypsen-Logik. Was Raum lässt für Knallerslogans wie „Fortpflanzung ist Luxus“ oder längeren Aua-Sätzen wie: „Das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sie gar nicht erst in die Welt zu setzen.“ „Eva“ umkreist damit lässig eine epochale Bruchstelle der Kulturgeschichte – erhebt sich gerade die Zivilisation über die Natur?
Der Witz an der Birth-Strike-Bewegung wie auch an der Figur Eva Lohaus ist nämlich, dass ihre Forderungen niemand braucht, um es sich anders zu überlegen. Was den geringen Mitgliederzulauf zu dieser Bewegung erklärt. Sie spricht nur sehr laut einen unschönen Zusammenhang aus, der die Menschen ja längst quält: Laut einer weltweiten Befragung zögern knapp 40 Prozent der Jugendlichen aufgrund des Klimawandels, Kinder zu bekommen. Robert Habeck sprach in Interviews davon, dass „Zwanzigjährige überlegen, ob sie überhaupt Kinder kriegen wollen“. Im Buch rumoren die Gedanken von Eva Lohaus in den anderen drei Frauenfiguren, sie lassen sie zornig, verzweifelt, grausam werden.
Man kann Verena Keßler nicht vorwerfen, sich als Schriftstellerin an die Fersen des Zeitgeistes zu heften. Ihr viel beachteter Debütroman „Die Gespenster von Demmin“ handelt vom Massensuizid 1945 in Demmin, ein Thema, das im Erscheinungsjahr 2020 der medialen Öffentlichkeit nicht unbedingt unter den Nägeln brannte. Jetzt fällt „Eva“ allerdings so perfekt in die Lücke zwischen „Klimakleber“ und „Jahrhundertsommer“, in die Zuversicht einer älteren Generation und die Angst einer jüngeren, denen Katastrophenszenarien um die Ohren pfeifen, dass man den Verdacht des Kalküls erheben könnte.
Es ist aber kein Sachbuch, das sich hinter einem alarmistischen Roman versteckt. Es schmuggelt keinen Aktionsplan zwischen die Zeilen, will nicht aufrütteln. Wir sollten doch, warum haben wir nicht. Es will weder verfluchen noch lösen. „Eva“ ist ein wunderschön unkonstruktiver Roman über ein Thema, bei dem das „Wir müssen jetzt“ schon über die Lippen rutscht, bevor das Wort „Klimakrise“ ausbuchstabiert ist. Stattdessen sagt es ohne Pathos und Selbstmitleid: Vielleicht gibt es keine Lösung.
Das gelingt unter anderem mit Vielstimmigkeit. Keßler erzählt in vier Kurzgeschichten das Schicksal vierer Frauen, die sich gegenseitig beäugen. Denn alle hadern mit den eigenen Entscheidungen. Die abgebrühte Geburtenstreikerin Eva Lohaus, die sich aus der Gesellschaft zurückzieht und abends Rotweinflaschen leert. Sina (den Nachnamen erfährt man nicht), die Angst hat, die Liebe ihres Lebens zu verlieren, wenn sie nicht schwanger wird. Mona, die im Urlaub auf Ibiza die Anrufe ihrer Familie wegdrückt. Die Schulsekretärin, die ein Rätsel ihres Vaters durchs Leben schleppt und erst spät merkt, dass es keine wahre Antwort gibt.
Alle Frauen schlafen schlecht, während die Männer neben ihnen binnen Sekunden wegdämmern. Sowieso bleiben die Partner weitgehend blass, die Verantwortung und damit der Stress bleibt bei den Frauen. Sie liegen nachts wach, denken an die eigene Fruchtbarkeit, an die schmerzhafte Geburt oder daran, dass man das Kind angeschrien hat. Den Erzählfluss stören selbst Worte wie „Eileiterdurchgängigkeitsprüfung“ nicht. Dafür sind die Handlungsstränge zu genau konstruiert, zu schlau verwoben. Der philosophische Überbau, die kulturgeschichtliche Kehrtwende schimmert dabei manchmal auffällig hell durch: „Von Eva zu Eva“, sagt sich Eva Lohaus etwa, und schließt den Kreis von der biblischen Urmutter bis zur Lehrerin, die fordert, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Dabei beeindruckt der Roman besonders dann, wenn die großen Fragen leise auftreten. Wenn Mona darüber nachdenkt, wie sich ihr Blick auf die Zeit gewandelt hat: „Die längste Zeit meines Lebens war die Zukunft für mich eine Verbündete.“ Für sie war die Ungewissheit einst ein Versprechen. Jetzt, wo man die Zukunft mit Zahlen entzaubert hat (zwei Grad Erwärmung zum Beispiel), raubt sie ihr den Schlaf. Wissen im Jahr 2023 belastet.
Keine Frage, „Eva“ ist ein bedrückender Roman. Hier wird nicht getröstet, gehofft, beschwichtigt. Aber, und da macht das Buch alles richtig, das soll Literatur auch nicht. Es ist vielmehr ein geseufztes, empathisches „Tja“. Denn gäbe es nicht Figuren, denen wir beim Schwanken, Umfallen, Liegenbleiben zusehen können – wir wären längst durchgedreht. Und das ist dann doch tröstlich.
Wer seine Kinder liebt,
der kriegt sie erst gar nicht,
oder etwa doch?
Jetzt, wo die Zukunft
entzaubert ist, raubt sie
den Frauen den Schlaf
Verena Keßler verwandelt die Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur.
Foto: Paula Winkler
Verena Keßler: Eva.
Roman. Hanser Berlin, Berlin 2023.
208 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2023Sind Kinder der einzige Lebenssinn? Vier Haltungen von Frauen zu Mutterschaft:
Verena Keßlers beziehungsreicher Roman "Eva"
Menschen, die sich bewusst dagegen entscheiden, Kinder zu bekommen, sind in unserer Gesellschaft in der Unterzahl. Vielleicht rührt es daher, dass die Reaktionen auf diese Haltung - auch Antinatalismus genannt - derart emotional eskalieren. Die Lehrerin und Publizistin Eva Lohaus bekommt dies zu spüren, als ein Interview über ihren Essay "Verhüten rettet Leben" einen Shitstorm auslöst. Darin hatte sie sich für gewollte Kinderlosigkeit ausgesprochen, da sie eine lebenswerte Existenz im Angesicht der Klimakatastrophe künftig für unmöglich hält: "Keine Kinder zu bekommen erspart Leid. Es muss allen klar sein, dass jedes Kind, dass heute geboren wird, die Folgen der Klimakrise mit voller Härte zu spüren bekommen wird. Sehr wahrscheinlich wird es Ressourcen-Kriege geben, die den gesamten Planeten betreffen."
Obwohl all dies durchaus so geschehen sein könnte, ist der obige Fall fiktiv. Er wird erzählt im Roman "Eva" von Verena Keßler und ist gewissermaßen die Ausgangslage dessen Ausgangspunkt. Geschildert wird der allerdings nicht aus der naheliegenden Perspektive von Eva Lohaus selbst, sondern aus der von Sina, einer Journalistin, die das Interview geführt hat. Als Erzählerin im ersten Teil schildert Sina, wie das Thema Mutterschaft sie ununterbrochen im Alltag beschäftigt - ein Umstand, den vermutlich fast alle (jungen) Frauen nachvollziehen können: "Irgendwann hat es einfach angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Wir waren vielleicht Mitte zwanzig, als sich dieses Thema allmählich in Gespräche mit Freundinnen schlich, als wir anfingen, einander zu fragen, ob wir es uns vorstellen könnten, wann der richtige Zeitpunkt wäre, wie viele wir wollten und mit wem. Eine Weile war das alles rein hypothetisch. Doch dann machte die Erste ernst."
Auch Sina trifft irgendwann eine Entscheidung und möchte ernst machen. Doch es klappt nicht. Welche Untersuchungen und gesellschaftliche Stigmata sie deshalb über sich ergehen lassen muss, wird im Roman eindrücklich geschildert. Schließlich überkommt Sina der Gedanke, es wäre einfacher gewesen, sich von Anfang an gegen Kinder zu entscheiden. "Sollten wir wirklich kinderlos bleiben, wäre das für immer ein Grund, uns zu bemitleiden." Dass Sina sich ein Leben ohne Kinder nun eigentlich ganz gut vorstellen kann und sich dabei nicht unerfüllt oder unvollständig fühlt, können ihre Freunde nicht nachvollziehen.
Nach gut sechzig Seiten endet Sinas Innenperspektive, und im restlichen Roman kommen drei weitere Frauen mit ihrer Sicht auf Mutterschaft zu Wort. Eine von ihnen ist Mona, Sinas ältere Schwester. Sie und ihr Partner Roman haben drei Kinder und erziehen diese in tradierter Rollenverteilung. Als Mona beispielsweise erfährt, dass die zweite Schwangerschaft Zwillinge sind, bittet sie Roman, mehr Erziehungsarbeit zu übernehmen. Er entgegnet nur lachend: "Jetzt komm mal runter" und "Wir kriegen das schon hin". Die Verantwortung, die Mona übernehmen muss, raubt ihr den Schlaf, die Nerven und schließlich auch ihre Lebensfreude.
Doch die Abgründe ihrer Gedanken kann sie nicht ausdrücken, auch nicht gegenüber ihrer Schwester Sina. Mona schämt sich für ihr Gefühl, der Mutterrolle nicht gerecht zu werden, ebenso wie für den Wunsch, diese lieber abzugeben, während Sina ihre Schwester um deren Mutterschaft beneidet. Insofern geht es auch um die schwesterliche Beziehung von Sina und Mona - darum, wie neben der kindlichen Verbundenheit im Laufe der Zeit auch eine Distanz zwischen beiden aufgekommen ist. Und darum, wie Sina dies als Verlust an Nähe wahrnimmt und darüber erschüttert ist, während Mona bereits als Kind den Wunsch nach Distanz verspürte und sich bis heute danach sehnt, mehr für sich allein zu sein.
Die Schwestern in ihrer Gegensätzlichkeit werden noch um die Perspektiven der Lehrerin Eva Lohaus und einer namenlosen Nachbarin von Mona erweitert. Auch diese beide Figuren schildern in unmittelbarer Gedankenrede ihre Lebensentwürfe mit oder ohne Kinder und die damit zusammenhängenden Zweifel. Vier Frauen und deren unterschiedliche Perspektiven bestimmen also den Aufbau des Romans. Nacheinander übernehmen sie die Rolle der Erzählerin, die Handlung verläuft allerdings trotz dieser facettenreichen Perspektivierung chronologisch ab. Da die Figuren zudem alle in verschiedenen Beziehungen zueinanderstehen, entsteht auf erfrischende Weise ein dramatischer Effekt.
Die Idee, vier Frauen mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Elternschaft in der Klimakrise vorzustellen, macht aber nicht nur den Reiz des Romans aus, sondern läuft zugleich Gefahr, sich selbst zu sabotieren. Denn manchmal fühlt sich das Durchspielen der Figuren allzu formelhaft an und erscheint wie ein literarisches Labor: Man nehme eine Frau A, die zwar will, aber aus unerklärlichen Gründen keine Kinder haben kann, und füge hinzu eine Schwester (Frau B), bei der es genau andersherum ist. Wenn dieses Gemisch nun auf eine Lehrerin (Frau C) trifft, die sich öffentlich dafür ausspricht, keine Kinder zu bekommen, und noch dazu eine Frau D tritt, deren Kind kürzlich verstorben ist, kommt es wie geplant zum großen Knall. Nur, dass der im Roman ausbleibt.
Stattdessen sind die Figuren so präzise durchdacht, dass man ihnen ihre Gemachtheit stellenweise leider anmerkt. Sie scheinen kein Eigenleben zu entwickeln und handeln häufig nur schemenhaft. So verhält es sich beispielsweise mit Eva und ihrer Abgebrühtheit, die von Anfang an etwas aufgesetzt wirkt. Ihrem Gefühl der Einsamkeit, nachdem ein langjähriger Geliebter sich von ihr getrennt hat, begegnet sie buchstäblich mit dem Vorschlaghammer: "Sie holte aus, schlug zu, holte aus, schlug zu und ließ sich von dem befriedigenden Geräusch des bröckelnden Steins antreiben." Schließlich kann Evas harter Kern doch geknackt werden, und zwar ausgerechnet von einem Kind: der Nachbarstochter, die auf der Suche nach einer Mutterfigur jeden Nachmittag in Evas Küche landet.
Doch obwohl das Konstrukt des Romans an einigen Stellen wie ein nur grob verputzter Rohbau durchscheint, ist es trotzdem in sich stabil und konsequent zu Ende geführt. Diese Stringenz leistet vor allem der schnörkellose, glasklare Stil Keßlers. "Schlichtheit und Genauigkeit", die bereits beim Debüt der Autorin "Die Gespenster von Demmin" gelobt wurden (F.A.Z. vom 14. November 2020), zeigen sich somit auch in ihrem neuen Roman. In Bezug auf die Figuren hat das zur Folge, dass jede ihrer Einstellungen und ebenso ihre Handlungsmotivationen wegen des präzisen Ausdrucks nachvollziehbar erscheinen. Dadurch gelingt es Keßler, vier verschiedene Meinungen zu einem höchst kontroversen Thema abzubilden, ohne dass der Roman selbst Stellung bezieht. Dieser Kunstgriff - den die Autorin auch in ihrem Debüt vollzog - wird allerdings in der Rezeption sehr unterschiedlich gewertet, mal als feige und mal als kluge Zurückhaltung. Während Jan Brachmann in dieser Zeitung den "Kleinmut" in Keßlers Erstling bemängelte und sich eine Positionierung in den Debatten um Erinnerungspolitik gewünscht hätte, wird "Eva" bislang für die Zurückhaltung des Romans betreffs der Position des Antinatalismus gelobt.
Obwohl etwas mehr Moralkeule und etwas weniger Zurückhaltung bei diesem ebenso aktuellen wie polarisierenden Thema begrüßenswert gewesen wären, muss man Eva Keßler zugutehalten, dass sie, indem sie auch von negativen Gefühlen und sozialem Erwartungsdruck rund um Mutterschaft erzählt, die Enttabuisierung dieser Aspekte voranbringt. Dieses durchaus feministische Anliegen ist auch abseits des Zusammenhangs mit der Klimakrise von Relevanz. Wünschenswert wäre eine Gesellschaft, in der die Lebensentwürfe aller vier im Roman geschilderten Frauen respektiert und toleriert würden. Aber Fälle wie den fiktiven Shitstorm um Eva Lohaus gibt es auch in der Realität: Verena Bunschweiger, welche die Vorlage für die Figur der Eva war, ist im Internet heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Und die Scham, die Mona angesichts ihrer Unzufriedenheit mit ihrer Mutterrolle empfindet, ist ebenso real, wie beispielsweise die Erfahrungsberichte unter dem Hashtag #regrettingmotherhood noch immer belegen. Besonders in diesem Kontext ist Verena Keßlers "Eva" lesenswert, leistet er doch mit seiner nüchternen emotionalen Klarheit etwas, was aufgeheizte Talkshowdebatten nur verfehlen können. EMILIA KRÖGER
Verena Keßler: "Eva". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verena Keßlers beziehungsreicher Roman "Eva"
Menschen, die sich bewusst dagegen entscheiden, Kinder zu bekommen, sind in unserer Gesellschaft in der Unterzahl. Vielleicht rührt es daher, dass die Reaktionen auf diese Haltung - auch Antinatalismus genannt - derart emotional eskalieren. Die Lehrerin und Publizistin Eva Lohaus bekommt dies zu spüren, als ein Interview über ihren Essay "Verhüten rettet Leben" einen Shitstorm auslöst. Darin hatte sie sich für gewollte Kinderlosigkeit ausgesprochen, da sie eine lebenswerte Existenz im Angesicht der Klimakatastrophe künftig für unmöglich hält: "Keine Kinder zu bekommen erspart Leid. Es muss allen klar sein, dass jedes Kind, dass heute geboren wird, die Folgen der Klimakrise mit voller Härte zu spüren bekommen wird. Sehr wahrscheinlich wird es Ressourcen-Kriege geben, die den gesamten Planeten betreffen."
Obwohl all dies durchaus so geschehen sein könnte, ist der obige Fall fiktiv. Er wird erzählt im Roman "Eva" von Verena Keßler und ist gewissermaßen die Ausgangslage dessen Ausgangspunkt. Geschildert wird der allerdings nicht aus der naheliegenden Perspektive von Eva Lohaus selbst, sondern aus der von Sina, einer Journalistin, die das Interview geführt hat. Als Erzählerin im ersten Teil schildert Sina, wie das Thema Mutterschaft sie ununterbrochen im Alltag beschäftigt - ein Umstand, den vermutlich fast alle (jungen) Frauen nachvollziehen können: "Irgendwann hat es einfach angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Wir waren vielleicht Mitte zwanzig, als sich dieses Thema allmählich in Gespräche mit Freundinnen schlich, als wir anfingen, einander zu fragen, ob wir es uns vorstellen könnten, wann der richtige Zeitpunkt wäre, wie viele wir wollten und mit wem. Eine Weile war das alles rein hypothetisch. Doch dann machte die Erste ernst."
Auch Sina trifft irgendwann eine Entscheidung und möchte ernst machen. Doch es klappt nicht. Welche Untersuchungen und gesellschaftliche Stigmata sie deshalb über sich ergehen lassen muss, wird im Roman eindrücklich geschildert. Schließlich überkommt Sina der Gedanke, es wäre einfacher gewesen, sich von Anfang an gegen Kinder zu entscheiden. "Sollten wir wirklich kinderlos bleiben, wäre das für immer ein Grund, uns zu bemitleiden." Dass Sina sich ein Leben ohne Kinder nun eigentlich ganz gut vorstellen kann und sich dabei nicht unerfüllt oder unvollständig fühlt, können ihre Freunde nicht nachvollziehen.
Nach gut sechzig Seiten endet Sinas Innenperspektive, und im restlichen Roman kommen drei weitere Frauen mit ihrer Sicht auf Mutterschaft zu Wort. Eine von ihnen ist Mona, Sinas ältere Schwester. Sie und ihr Partner Roman haben drei Kinder und erziehen diese in tradierter Rollenverteilung. Als Mona beispielsweise erfährt, dass die zweite Schwangerschaft Zwillinge sind, bittet sie Roman, mehr Erziehungsarbeit zu übernehmen. Er entgegnet nur lachend: "Jetzt komm mal runter" und "Wir kriegen das schon hin". Die Verantwortung, die Mona übernehmen muss, raubt ihr den Schlaf, die Nerven und schließlich auch ihre Lebensfreude.
Doch die Abgründe ihrer Gedanken kann sie nicht ausdrücken, auch nicht gegenüber ihrer Schwester Sina. Mona schämt sich für ihr Gefühl, der Mutterrolle nicht gerecht zu werden, ebenso wie für den Wunsch, diese lieber abzugeben, während Sina ihre Schwester um deren Mutterschaft beneidet. Insofern geht es auch um die schwesterliche Beziehung von Sina und Mona - darum, wie neben der kindlichen Verbundenheit im Laufe der Zeit auch eine Distanz zwischen beiden aufgekommen ist. Und darum, wie Sina dies als Verlust an Nähe wahrnimmt und darüber erschüttert ist, während Mona bereits als Kind den Wunsch nach Distanz verspürte und sich bis heute danach sehnt, mehr für sich allein zu sein.
Die Schwestern in ihrer Gegensätzlichkeit werden noch um die Perspektiven der Lehrerin Eva Lohaus und einer namenlosen Nachbarin von Mona erweitert. Auch diese beide Figuren schildern in unmittelbarer Gedankenrede ihre Lebensentwürfe mit oder ohne Kinder und die damit zusammenhängenden Zweifel. Vier Frauen und deren unterschiedliche Perspektiven bestimmen also den Aufbau des Romans. Nacheinander übernehmen sie die Rolle der Erzählerin, die Handlung verläuft allerdings trotz dieser facettenreichen Perspektivierung chronologisch ab. Da die Figuren zudem alle in verschiedenen Beziehungen zueinanderstehen, entsteht auf erfrischende Weise ein dramatischer Effekt.
Die Idee, vier Frauen mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Elternschaft in der Klimakrise vorzustellen, macht aber nicht nur den Reiz des Romans aus, sondern läuft zugleich Gefahr, sich selbst zu sabotieren. Denn manchmal fühlt sich das Durchspielen der Figuren allzu formelhaft an und erscheint wie ein literarisches Labor: Man nehme eine Frau A, die zwar will, aber aus unerklärlichen Gründen keine Kinder haben kann, und füge hinzu eine Schwester (Frau B), bei der es genau andersherum ist. Wenn dieses Gemisch nun auf eine Lehrerin (Frau C) trifft, die sich öffentlich dafür ausspricht, keine Kinder zu bekommen, und noch dazu eine Frau D tritt, deren Kind kürzlich verstorben ist, kommt es wie geplant zum großen Knall. Nur, dass der im Roman ausbleibt.
Stattdessen sind die Figuren so präzise durchdacht, dass man ihnen ihre Gemachtheit stellenweise leider anmerkt. Sie scheinen kein Eigenleben zu entwickeln und handeln häufig nur schemenhaft. So verhält es sich beispielsweise mit Eva und ihrer Abgebrühtheit, die von Anfang an etwas aufgesetzt wirkt. Ihrem Gefühl der Einsamkeit, nachdem ein langjähriger Geliebter sich von ihr getrennt hat, begegnet sie buchstäblich mit dem Vorschlaghammer: "Sie holte aus, schlug zu, holte aus, schlug zu und ließ sich von dem befriedigenden Geräusch des bröckelnden Steins antreiben." Schließlich kann Evas harter Kern doch geknackt werden, und zwar ausgerechnet von einem Kind: der Nachbarstochter, die auf der Suche nach einer Mutterfigur jeden Nachmittag in Evas Küche landet.
Doch obwohl das Konstrukt des Romans an einigen Stellen wie ein nur grob verputzter Rohbau durchscheint, ist es trotzdem in sich stabil und konsequent zu Ende geführt. Diese Stringenz leistet vor allem der schnörkellose, glasklare Stil Keßlers. "Schlichtheit und Genauigkeit", die bereits beim Debüt der Autorin "Die Gespenster von Demmin" gelobt wurden (F.A.Z. vom 14. November 2020), zeigen sich somit auch in ihrem neuen Roman. In Bezug auf die Figuren hat das zur Folge, dass jede ihrer Einstellungen und ebenso ihre Handlungsmotivationen wegen des präzisen Ausdrucks nachvollziehbar erscheinen. Dadurch gelingt es Keßler, vier verschiedene Meinungen zu einem höchst kontroversen Thema abzubilden, ohne dass der Roman selbst Stellung bezieht. Dieser Kunstgriff - den die Autorin auch in ihrem Debüt vollzog - wird allerdings in der Rezeption sehr unterschiedlich gewertet, mal als feige und mal als kluge Zurückhaltung. Während Jan Brachmann in dieser Zeitung den "Kleinmut" in Keßlers Erstling bemängelte und sich eine Positionierung in den Debatten um Erinnerungspolitik gewünscht hätte, wird "Eva" bislang für die Zurückhaltung des Romans betreffs der Position des Antinatalismus gelobt.
Obwohl etwas mehr Moralkeule und etwas weniger Zurückhaltung bei diesem ebenso aktuellen wie polarisierenden Thema begrüßenswert gewesen wären, muss man Eva Keßler zugutehalten, dass sie, indem sie auch von negativen Gefühlen und sozialem Erwartungsdruck rund um Mutterschaft erzählt, die Enttabuisierung dieser Aspekte voranbringt. Dieses durchaus feministische Anliegen ist auch abseits des Zusammenhangs mit der Klimakrise von Relevanz. Wünschenswert wäre eine Gesellschaft, in der die Lebensentwürfe aller vier im Roman geschilderten Frauen respektiert und toleriert würden. Aber Fälle wie den fiktiven Shitstorm um Eva Lohaus gibt es auch in der Realität: Verena Bunschweiger, welche die Vorlage für die Figur der Eva war, ist im Internet heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Und die Scham, die Mona angesichts ihrer Unzufriedenheit mit ihrer Mutterrolle empfindet, ist ebenso real, wie beispielsweise die Erfahrungsberichte unter dem Hashtag #regrettingmotherhood noch immer belegen. Besonders in diesem Kontext ist Verena Keßlers "Eva" lesenswert, leistet er doch mit seiner nüchternen emotionalen Klarheit etwas, was aufgeheizte Talkshowdebatten nur verfehlen können. EMILIA KRÖGER
Verena Keßler: "Eva". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Verena Keßler hinterfragt in ihrem Roman 'Eva' den Sinn des Kinderkriegens und verwandelt die unerträgliche Gleichzeitigkeit aus Apokalypse und Nachwuchs in wunderbare Literatur. ...Ein wunderschön unkonstruktiver Roman über ein Thema, bei dem das "Wir müssen jetzt" schon über die Lippen rutscht, bevor das Wort "Klimakrise" ausbuchstabiert ist. Stattdessen sagt es ohne Pathos und Selbstmitleid: Vielleicht gibt es keine Lösung." Marlene Knobloch, Süddeutsche Zeitung, 21.03.23
"Keßler gelingt es, vier verschiedene Meinungen zu einem höchst kontroversen Thema abzubilden, ohne dass der Roman selbst Stellung bezieht. ... Besonders in diesem Kontext ist Verena Keßlers "Eva" lesenswert, leistet er doch mit seiner nüchternen emotionalen Klarheit etwas, was aufgeheizte Talkshowdebatten nur verfehlen können." Emilia Kröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.23
"Keßler zelebriert mit empathischer Distanz, literarisch und psychologisch raffiniert, das Widersprüchliche und Unverbesserliche im Menschen." Marianna Lieder, Welt am Sonntag, 02.04.23
"Verena Keßler beleuchtet Mutterschaft klassisch und anregend ... Ein Thema, über das auch das meiste gesagt zu sein scheint. Und dann kommt ein Roman und erzählt es noch einmal und wieder wie zum ersten Mal, so frisch, so offen und auch so erschütternd." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 10.05.23
"Die existentielle Bedrohung wischt Keßler lakonisch unterhaltsam zur Seite und spielt in ihrem Roman umwerfend moralfrei auf der Klaviatur tiefster Emotionen, die beim Thema Klima-Aktivismus aufkommen." Lena Reich, arte journal, 08.06.23
"Ein kunstvoll konstruierter Episodenroman über eine der drängendsten Fragen unserer Zeit. ... Es ist schwer, diesen Roman aus der Hand zu legen." Simone Schlosser, WDR 5, 03.06.23
"'Eva' hat lebensweise Sätze, originelle Dialoge und eine stets klare Sprache zu bieten, verknüpft geschickt ein hoch emotionales Thema mit knallharten Fakten und lässt das Private gegen die große globalgesellschaftliche Verantwortlichkeit antreten." Vera Fengler, Hamburger Abendblatt, 13.04.23
"Einem schweren, konfliktträchtigen Thema nähert sich Verena Keßler mit leichter, aber treffsicherer Schreibhand. ... Die Sprache von Verena Keßler besticht durch Klarheit und Direktheit, zudem verfügt sie über ein feines Sensorium für zunächst kaum merkbare Verwerfungen. Es geht um nichts Geringeres als um Elternschaft in Zeiten der Kipppunkte ... Ein Menschenbuch mit viel Empathie und unaufdringlichem Intellekt." Bernd Melichar, Kleine Zeitung Newsletter, 22.04.23
"'Eva' zeigt: Jede Frau muss sich zum Thema Mutterschaft verhalten: nach außen hin und zu sich selber. Es ist ein ganz offener, frischer, kein rührseliger Blick, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme von vier Perspektiven." Katja Schönherr, SRF 1, 13.06.23
"Ein facettenreicher Roman ... Verena Keßler findet für jede Frau einen eigenen Erzählstil, der Leserinnen und Leser ganz nah an die Figuren heranrücken lässt, an ihre Wünsche und Sehnsüchte. ... Kinder und Klima - zwei der brennendsten Themen unserer Zeit, authentisch und gekonnt vereint." Sally-Charell Delin, SR2 Kultur, 28.03.23
"Wie man so multiperspektivisch und klug über die verschiedensten Aspekte von Kinderkriegen und Nichtkinderkriegen schreiben kann, das ist unfassbar gut!" Maria-Christina Piwowarski, rbb radioeins, 09.04.23
"Keßler wirft in 'Eva' wesentliche gesellschaftspolitische Fragen auf, denen wir uns aktuell mehr denn je stellen müssen." Antonia Barboric, Die Presse am Sonntag, 09.04.23
"'Eva' macht aber die Schattierungen des Mutter- und Nicht-Mutterseins sichtbar, den inneren Kampf, den viele Frauen in sich austragen, um die eigenen Ängste und Sorgen nicht aussprechen zu müssen." Melissa Erhardt, ORF FM4, 17.05.23
"Sensibel und mit feiner Beobachtungsgabe spürt die Autorin den Empfindungen ihrer Generation nach. ... Ihr wundervoller Erzählstil zieht auch diesmal wieder in den Bann - 200 Seiten, deren ansprechende Lektüre zum Nachdenken anregt." Marion Schwarzmann, Gießener Allgemeine, 13.05.23
"Ein mitfühlender Roman, der aus unterschiedlichen Perspektiven von weiblichen Lebensentwürfen erzählt und bei dem jeder Satz sitzt. Großes Lesevergnügen." Alexandra Pasi, myself, 10.05.23
"Keßler gelingt es, vier verschiedene Meinungen zu einem höchst kontroversen Thema abzubilden, ohne dass der Roman selbst Stellung bezieht. ... Besonders in diesem Kontext ist Verena Keßlers "Eva" lesenswert, leistet er doch mit seiner nüchternen emotionalen Klarheit etwas, was aufgeheizte Talkshowdebatten nur verfehlen können." Emilia Kröger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.23
"Keßler zelebriert mit empathischer Distanz, literarisch und psychologisch raffiniert, das Widersprüchliche und Unverbesserliche im Menschen." Marianna Lieder, Welt am Sonntag, 02.04.23
"Verena Keßler beleuchtet Mutterschaft klassisch und anregend ... Ein Thema, über das auch das meiste gesagt zu sein scheint. Und dann kommt ein Roman und erzählt es noch einmal und wieder wie zum ersten Mal, so frisch, so offen und auch so erschütternd." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 10.05.23
"Die existentielle Bedrohung wischt Keßler lakonisch unterhaltsam zur Seite und spielt in ihrem Roman umwerfend moralfrei auf der Klaviatur tiefster Emotionen, die beim Thema Klima-Aktivismus aufkommen." Lena Reich, arte journal, 08.06.23
"Ein kunstvoll konstruierter Episodenroman über eine der drängendsten Fragen unserer Zeit. ... Es ist schwer, diesen Roman aus der Hand zu legen." Simone Schlosser, WDR 5, 03.06.23
"'Eva' hat lebensweise Sätze, originelle Dialoge und eine stets klare Sprache zu bieten, verknüpft geschickt ein hoch emotionales Thema mit knallharten Fakten und lässt das Private gegen die große globalgesellschaftliche Verantwortlichkeit antreten." Vera Fengler, Hamburger Abendblatt, 13.04.23
"Einem schweren, konfliktträchtigen Thema nähert sich Verena Keßler mit leichter, aber treffsicherer Schreibhand. ... Die Sprache von Verena Keßler besticht durch Klarheit und Direktheit, zudem verfügt sie über ein feines Sensorium für zunächst kaum merkbare Verwerfungen. Es geht um nichts Geringeres als um Elternschaft in Zeiten der Kipppunkte ... Ein Menschenbuch mit viel Empathie und unaufdringlichem Intellekt." Bernd Melichar, Kleine Zeitung Newsletter, 22.04.23
"'Eva' zeigt: Jede Frau muss sich zum Thema Mutterschaft verhalten: nach außen hin und zu sich selber. Es ist ein ganz offener, frischer, kein rührseliger Blick, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme von vier Perspektiven." Katja Schönherr, SRF 1, 13.06.23
"Ein facettenreicher Roman ... Verena Keßler findet für jede Frau einen eigenen Erzählstil, der Leserinnen und Leser ganz nah an die Figuren heranrücken lässt, an ihre Wünsche und Sehnsüchte. ... Kinder und Klima - zwei der brennendsten Themen unserer Zeit, authentisch und gekonnt vereint." Sally-Charell Delin, SR2 Kultur, 28.03.23
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"'Eva' macht aber die Schattierungen des Mutter- und Nicht-Mutterseins sichtbar, den inneren Kampf, den viele Frauen in sich austragen, um die eigenen Ängste und Sorgen nicht aussprechen zu müssen." Melissa Erhardt, ORF FM4, 17.05.23
"Sensibel und mit feiner Beobachtungsgabe spürt die Autorin den Empfindungen ihrer Generation nach. ... Ihr wundervoller Erzählstil zieht auch diesmal wieder in den Bann - 200 Seiten, deren ansprechende Lektüre zum Nachdenken anregt." Marion Schwarzmann, Gießener Allgemeine, 13.05.23
"Ein mitfühlender Roman, der aus unterschiedlichen Perspektiven von weiblichen Lebensentwürfen erzählt und bei dem jeder Satz sitzt. Großes Lesevergnügen." Alexandra Pasi, myself, 10.05.23
»Eine klug komponierte Geschichte von Tod, Trauer und auch Lebensmut!« Kulturjournal über »Die Gespenster von Demmin«