muß ich jetzt die Weihnachten in meiner Stube verbringen und den armen Konrad mit heißen Umschlägen traktieren."
Tatsächlich ist der "arme Konrad" die personifizierte Überraschung darüber, daß der Körper in der dritten Person Singular ein Eigenleben führt, das sich der Berechenbarkeit durch die erste Person entzieht, der ungebetene Gast, den man bewohnt. Im Gegensatz zur Psychoanalyse, die dieses "verrückte" Verhältnis zwischen Selbstwahrnehmung und Körperempfinden nur als krankheitsbedingten Störfall zur Kenntnis nehmen wollte, hat Baruch de Spinoza daraus den umgekehrten Schluß gezogen und einen erstaunlichen Satz geprägt, der dem französischen Philosophen Gilles Deleuze zeitlebens keine Ruhe ließ: Wir wissen nicht, was unser Körper vermag.
Alice Miller ist zwar eine entschiedene Gegnerin des Freudschen Triebdualismus zwischen Eros und Thanatos, zwischen Lustprinzip und Todestrieb. In ihren Augen naturalisiert er den Widerstreit zwischen traumatisierenden Sozialisierungserfahrungen in der frühesten Kindheit und ihrer Verdrängung. Aber sie steht weit deutlicher in der Erbschuld des psychoanalytischen Körperbildes, als ihre Auflehnung gegen den biblischen Schöpfungsmythos in "Evas Erwachen" zu erkennen geben will, den sie verdächtigt, Fragen nach der eigenen Vergangenheit zu unterbinden und dadurch "Denkblockaden" zu errichten, die den Verkehr zwischen den Eltern- und Kindergenerationen in die falsche Richtung lenken.
Für Alice Miller ist der Körper im Gegensatz zu Spinoza kein Kräftebündel ungeahnter Vermögen, das unablässig auf der abenteuerlichen Suche nach neuen Verhältnissen zu Kräften ist, die seine eigenen Vermögen vervielfältigen und stärken, sondern ein "Speicher" von Informationen über die frühkindliche "Programmierung" durch die traumatisierende Abrichtung vom unschuldig geborenen Menschenkind zur wertvollen Stütze der Gesellschaft, die unter dieser Last versteinert und so das Trauma weitervererbt. Sie beruft ihn zum ebenso stummen wie quälenden Zeugen der verheerenden psychosomatischen Folgen, die Schläge in der Kindheit zeitigen, Folgen, die weder die Medizin noch die Psychotherapie, die Politik, der Strafvollzug, die religiöse Erziehung oder die biographische Forschung wahrnehmen wollen, gegen die sich Alice Miller ereifert.
Das ist das Betrübliche ihres Buches, das einerseits von der unleugbaren Tatsache des Kindsmißbrauchs rührt, andrerseits aber vom Umstand, daß dem Körper die Freude an seinen ungeahnten Vermögen in der bloßen Funktion als "Körpergedächtnis" und "Informationsspeicher" verwehrt bleibt. Auf der einen Seite also die gespielte Unschuld und Naivität, die sich mit Eva identifiziert und gegen Gottes Nötigung auflehnt, durch die Früchte vom Baum der Erkenntnis verführt zu werden, ohne davon essen zu dürfen; auf der anderen Seite die Mißachtung der schlichten diesseitigen Tatsache, daß der Apfel auch der eigenen Stärkung dienen könnte. Mag trotz der stilistisch ungelenken Wendungen sein, "daß nur Menschen, die selber geschlagen wurden, den Zwang dazu in sich verspüren (was nicht heißt, daß alle ihm nachgeben)". Doch erst wenn wir den ungeahnten Reichtum von Konrad respektieren, werden wir die Hand nicht mehr gegen ihn erheben.
MARTIN STINGELIN
Alice Miller: "Evas Erwachen". Über die Auflösung emotionaler Blindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 185 S., geb., 34,- DM.
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