Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2004"Ein bißchen Angst tut gut"
mr. Ein wenig atemlos muß Lance Armstrong wohl gewesen sein, als er gleich nach dem Gewinn der Tour de France den Schluß seines zweiten Buches diktierte. Wenn wirklich "Every Second Counts", wie er als Titel und als Motto seines Lebens wählte, wenn also jede Sekunde zählt, warum ist dann auf einmal von zehn die Rede? Von zehn Sekunden, die gar nicht existieren?
Ausgerechnet in einen Appendix, noch hinter das Nachwort, hat Armstrong seine Sicht auf die Tour 2003 gequetscht. Brillant erzählt von Armstrongs Co-Autorin Sally Jenkins, scheint die aufregendste Szene des Rennens auf, beginnt sich der Schluß der Etappe nach Luz Ardiden aufzubauen, auf der Armstrong stürzt, sein Herausforderer Jan Ullrich wartet und Armstrong ihn schließlich mit einer rasenden Attacke besiegt. An diesem Tag gewann Armstrong seine fünfte Tour de France.
Bevor es allerdings dazu kommt, gerät Ullrich in einen fiktiven Rückstand. Die zehn Sekunden gewinnt Armstrong, als Mayo attackiert, Armstrong folgt - und anders als am späten Nachmittag des 21. Juli, auf der 15. Etappe der Tour de France in Wirklichkeit, Ullrich in dem Buch eben nicht. Irgendwie hat sich schon auf den ersten Metern des Anstiegs ein Vorsprung für Armstrong eingeschlichen.
Die Story ist so schön erzählt, daß man sie gern liest. Armstrong fliegt dem Gipfel entgegen und denkt daran, so viel Straße wie möglich zwischen sich und Ullrich zu bringen, da fängt sein Auge einen Blitz von Gelb auf: eine Stofftasche, mit der ein Kind winkt. "Uh-oh, I'm going to catch that thing", weiß der erfahrene Radprofi sofort, und schon hat sich sein rechter Bremshebel in der Trageschlaufe verfangen und die Straße kommt ihm entgegen. Armstrong stürzt, und so kommt es, daß er Ullrich noch einmal nachfahren muß.
Man weiß nicht, ob dies das einzige Stück Fiktion in diesem Buch ist. Denn Lance hat immer Vorsprung. Im Training. Im Rennen. In der Ehe. Bei der Krebsbekämpfung. Und wie er die Zutaten diesmal zusammenrührt, die sein erstes Buch "It's Not About The Bike" zu einem Bestseller machten, wird doch nichts Rechtes daraus. Ein paar Episoden, einige Sprüche aus dem Mannschaftsbus, Begegnungen mit Krebskranken und berühmten Politikern - wo Armstrong früher aus dem kämpferischen Überleben der Erkrankung einen Sinn für seinen sportlichen Ehrgeiz ableitete, macht er nun viele starke Worte um kaum mehr als nichts. Was soll man davon halten, daß einer, der fünfmal die Tour de France gewonnen hat, plötzlich Teamwork und Mannschaftsgeist zu entdecken scheint? Was will er uns damit sagen, daß er das Scheitern seiner Ehe nicht bemerkt haben will und mehrmals Dinners bei Kerzenlicht beschreibt mit dem Hinweis, das hätten sie sich wohl zu selten gegönnt? Oder liegt ein Hinweis in der Bemerkung, daß die Mentalität, die er seit der Krankheit hatte, nämlich den Tag zu nutzen, ihm nicht immer gutgetan habe? "Es ist zu verführerisch, jedes Problem, das schwer oder unbequem erscheint, zu lassen, es eine Verschwendung wertvoller Zeit zu nennen und weiterzugehen zu etwas Direkterem."
Kaum hat man sich versehen, ist Lance zum fünften Mal Toursieger, hat eine Ehe mit drei Kindern hinter sich, fühlt sich am wohlsten in seiner US-Postal-Mannschaft und unternimmt Mutproben, indem er von einem hohen Fels in einen Teich springt, den er sich bei Austin gekauft hat: "Die Furcht vor Dead Man's Hole ließ mich frisch fühlen. Es war die Frische aus der Angst - reinigende, klärende, schärfende Angst. Angst, die die Sinne öffnete und alles in einen klareren Blick brachte. Ich sag' mal: Ein bißchen Angst tut gut - vorausgesetzt, man kann schwimmen."
Nicht, daß Armstrong nichts zu sagen hätte. Von der Freundin etwa, die nach ihrer Krebstherapie zu den Niagarafällen fuhr aus einem einzigen Grund: "Ich wollte etwas Größeres sehen als mich selbst." Oder über das Leiden der Radrennfahrer: "Schmerz ist vergänglich. Aufgeben hält ewig." Aber erzählen will er nichts.
Besprochenes Buch: Lance Armstrong: Every Second Counts, Broadway Books, New York, 246 Seiten, 24,95 Dollar.
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mr. Ein wenig atemlos muß Lance Armstrong wohl gewesen sein, als er gleich nach dem Gewinn der Tour de France den Schluß seines zweiten Buches diktierte. Wenn wirklich "Every Second Counts", wie er als Titel und als Motto seines Lebens wählte, wenn also jede Sekunde zählt, warum ist dann auf einmal von zehn die Rede? Von zehn Sekunden, die gar nicht existieren?
Ausgerechnet in einen Appendix, noch hinter das Nachwort, hat Armstrong seine Sicht auf die Tour 2003 gequetscht. Brillant erzählt von Armstrongs Co-Autorin Sally Jenkins, scheint die aufregendste Szene des Rennens auf, beginnt sich der Schluß der Etappe nach Luz Ardiden aufzubauen, auf der Armstrong stürzt, sein Herausforderer Jan Ullrich wartet und Armstrong ihn schließlich mit einer rasenden Attacke besiegt. An diesem Tag gewann Armstrong seine fünfte Tour de France.
Bevor es allerdings dazu kommt, gerät Ullrich in einen fiktiven Rückstand. Die zehn Sekunden gewinnt Armstrong, als Mayo attackiert, Armstrong folgt - und anders als am späten Nachmittag des 21. Juli, auf der 15. Etappe der Tour de France in Wirklichkeit, Ullrich in dem Buch eben nicht. Irgendwie hat sich schon auf den ersten Metern des Anstiegs ein Vorsprung für Armstrong eingeschlichen.
Die Story ist so schön erzählt, daß man sie gern liest. Armstrong fliegt dem Gipfel entgegen und denkt daran, so viel Straße wie möglich zwischen sich und Ullrich zu bringen, da fängt sein Auge einen Blitz von Gelb auf: eine Stofftasche, mit der ein Kind winkt. "Uh-oh, I'm going to catch that thing", weiß der erfahrene Radprofi sofort, und schon hat sich sein rechter Bremshebel in der Trageschlaufe verfangen und die Straße kommt ihm entgegen. Armstrong stürzt, und so kommt es, daß er Ullrich noch einmal nachfahren muß.
Man weiß nicht, ob dies das einzige Stück Fiktion in diesem Buch ist. Denn Lance hat immer Vorsprung. Im Training. Im Rennen. In der Ehe. Bei der Krebsbekämpfung. Und wie er die Zutaten diesmal zusammenrührt, die sein erstes Buch "It's Not About The Bike" zu einem Bestseller machten, wird doch nichts Rechtes daraus. Ein paar Episoden, einige Sprüche aus dem Mannschaftsbus, Begegnungen mit Krebskranken und berühmten Politikern - wo Armstrong früher aus dem kämpferischen Überleben der Erkrankung einen Sinn für seinen sportlichen Ehrgeiz ableitete, macht er nun viele starke Worte um kaum mehr als nichts. Was soll man davon halten, daß einer, der fünfmal die Tour de France gewonnen hat, plötzlich Teamwork und Mannschaftsgeist zu entdecken scheint? Was will er uns damit sagen, daß er das Scheitern seiner Ehe nicht bemerkt haben will und mehrmals Dinners bei Kerzenlicht beschreibt mit dem Hinweis, das hätten sie sich wohl zu selten gegönnt? Oder liegt ein Hinweis in der Bemerkung, daß die Mentalität, die er seit der Krankheit hatte, nämlich den Tag zu nutzen, ihm nicht immer gutgetan habe? "Es ist zu verführerisch, jedes Problem, das schwer oder unbequem erscheint, zu lassen, es eine Verschwendung wertvoller Zeit zu nennen und weiterzugehen zu etwas Direkterem."
Kaum hat man sich versehen, ist Lance zum fünften Mal Toursieger, hat eine Ehe mit drei Kindern hinter sich, fühlt sich am wohlsten in seiner US-Postal-Mannschaft und unternimmt Mutproben, indem er von einem hohen Fels in einen Teich springt, den er sich bei Austin gekauft hat: "Die Furcht vor Dead Man's Hole ließ mich frisch fühlen. Es war die Frische aus der Angst - reinigende, klärende, schärfende Angst. Angst, die die Sinne öffnete und alles in einen klareren Blick brachte. Ich sag' mal: Ein bißchen Angst tut gut - vorausgesetzt, man kann schwimmen."
Nicht, daß Armstrong nichts zu sagen hätte. Von der Freundin etwa, die nach ihrer Krebstherapie zu den Niagarafällen fuhr aus einem einzigen Grund: "Ich wollte etwas Größeres sehen als mich selbst." Oder über das Leiden der Radrennfahrer: "Schmerz ist vergänglich. Aufgeben hält ewig." Aber erzählen will er nichts.
Besprochenes Buch: Lance Armstrong: Every Second Counts, Broadway Books, New York, 246 Seiten, 24,95 Dollar.
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