Nach »Der Circle« legt Dave Eggers mit »Every« eine rasante Fortschreibung seines Weltbestsellers vor - ein hochbrisanter Thriller
Der Circle ist die größte Suchmaschine gepaart mit dem größten Social-Media-Anbieter der Welt. Eine Fusion mit dem erfolgreichsten Onlineversandhaus brachte das reichste und gefährlichste - und seltsamerweise auch beliebteste - Monopol aller Zeiten hervor: Every.
Delaney Wells ist »die Neue« bei Every und nicht gerade das, was man erwarten würde in einem Tech-Unternehmen. Als ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikskeptikerin bahnt sie sich heimlich ihren Weg, mit nur einem Ziel vor Augen: die Firma von innen heraus zu zerschlagen. Zusammen mit ihrem Kollegen, dem nicht gerade ehrgeizigen Wes Kavakian, sucht sie nach den Schwachstellen von Every und hofft, die Menschheit von der allumfassenden Überwachung und der emojigesteuerten Infantilisierung zu befreien. Aber will die Menschheit überhaupt, wofür Delaney kämpft? Will die Menschheit wirklich frei sein?
Wie schon bei »Der Circle« weiß Dave Eggers wie kein zweiter unsere Wirklichkeit so konsequent weiterzudenken, dass einem der Atem stockt beim Lesen. Man kann nur inständig hoffen, dass die Realität nicht schneller voranschreitet, als Dave Eggers schreiben kann.
Der Circle ist die größte Suchmaschine gepaart mit dem größten Social-Media-Anbieter der Welt. Eine Fusion mit dem erfolgreichsten Onlineversandhaus brachte das reichste und gefährlichste - und seltsamerweise auch beliebteste - Monopol aller Zeiten hervor: Every.
Delaney Wells ist »die Neue« bei Every und nicht gerade das, was man erwarten würde in einem Tech-Unternehmen. Als ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikskeptikerin bahnt sie sich heimlich ihren Weg, mit nur einem Ziel vor Augen: die Firma von innen heraus zu zerschlagen. Zusammen mit ihrem Kollegen, dem nicht gerade ehrgeizigen Wes Kavakian, sucht sie nach den Schwachstellen von Every und hofft, die Menschheit von der allumfassenden Überwachung und der emojigesteuerten Infantilisierung zu befreien. Aber will die Menschheit überhaupt, wofür Delaney kämpft? Will die Menschheit wirklich frei sein?
Wie schon bei »Der Circle« weiß Dave Eggers wie kein zweiter unsere Wirklichkeit so konsequent weiterzudenken, dass einem der Atem stockt beim Lesen. Man kann nur inständig hoffen, dass die Realität nicht schneller voranschreitet, als Dave Eggers schreiben kann.
Rezensent Andrian Kreye findet, dass Dave Eggers "Every" vor dem Hintergrund der kürzlich in die Öffentlichkeit getretenen Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen das Buch der Stunde ist. Der Autor hat zwar selbst kaum etwas mit digitaler Technologie am Hut, erzählt jedoch in seinem neuen Buch, das eine Fortsetzung seines Bestsellers "The Circle" ist, von Mae Holland und der digitaltechnologischen Metafirma "Every", deren Chefin sie ist, erklärt Kreye. Am amüsantesten findet der Rezensent die beschriebenen und stets ansteigenden "technologischen Zumutungen". Zwar kann ihn das Figurenpersonal nicht ganz überzeugen, dafür aber das beinahe perfekte Handwerk des Autors mit den ordentlich getakteten Plot-Twists und Pointen, die Eggers' Hollywood-Erfahrung durchscheinen lassen. Seine Sprache und die dazugehörige deutsche Übersetzung tragen Kreye auch in längeren Sequenzen durch die Handlung. "Ein tolles Buch", kann der Rezensent da nur schließen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.10.2021Subtil ist hier nichts
Dave Eggers schreibt mit seiner Fortsetzung von "Der Circle" die Gruselfantasie eines Kulturpessimisten
Wenn man Filterblasen und Cancel Culture für gefährlich hält und Twitter und Facebook manchmal die asozialen Medien nennt, dann stehen die Chancen gut, dass man Dave Eggers' neues Buch "Every" als treffende Warnung vor der Tech-Welt lesen wird. In der Fortsetzung des 2013 erschienenen Bestsellers "Der Circle", in einer nahen Zukunft nach der zweiten Pandemie, ist das Realität geworden, was manche schon jetzt als Realität empfinden: Shaming-Apps haben Gerichte ersetzt, Algorithmen manipulieren die User, allgegenwärtige Kameras disziplinieren Verhalten und Sprache, und aus Angst vor "woker" Kritik traut sich niemand mehr, eine Idee zu äußern. Man sitzt zu Hause, streamt die Leben der anderen, wird von Lieferdiensten versorgt, und geht man doch raus, dann in eine Welt, die katalogisiert ist und bewertet, jede Unsicherheit minimiert.
Man kann "Every" aber auch gegen die offensichtlichen Absichten des Autors lesen. Dann ist dieser Roman keine Parodie mehr auf die selbst beseelten Techies in Kalifornien, sondern, im Gegenteil, eine Parodie auf die Gruselfantasien eines älteren, kulturpessimistischen Autors, der den Verfall der Menschheit mit seinen eigenen Affekten verwechselt. Man darf misstrauisch werden, wenn ein Autor wie Eggers einen fiktiven Internetkonzern zum Schauplatz zweier Romane macht und in Interviews berichtet, er habe kein WLAN zu Hause.
Die Geschichte von "Every" schließt ans Vorgängerbuch an. Nach dem Kauf eines E-Commerce-Riesen, "der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war", hat sich der Facebook-ähnliche Circle in das noch totalitärere Digitalunternehmen Every umbenannt. Es wickelt 82 Prozent aller Onlineeinkäufe ab und führt für viele Länder die Wahlen durch - einen Zettel in eine Urne zu werfen ist völlig veraltet. Livestream-Kameras an fast jedem Ort haben die Kriminalität drastisch reduziert. Seit die Every-App TruVoice Chats und Face-to-Face-Interaktionen auf Tabuwörter durchsucht und korrigiert, hat sich der Ton vieler Gespräche verbessert. Im gläsernen CEO-Büro der Every-Zentrale sitzt jetzt Mae Holland, die Hauptfigur des "Circle"-Buchs. Damals war sie noch eine etwas naive Mittzwanzigerin, die alle Warnungen, ihr Traumarbeitgeber könne womöglich eine menschenverachtende Allmachtsmaschine sein, übersah und als "erste vollkommen transparente Mitarbeiterin" ihr Leben per Bodycam streamte und so zur Vorzeigechefin aufstieg: das allen bekannte, total offene Every-Gesicht.
Wie in "The Circle" schickt Eggers auch in der Fortsetzung wieder eine Neue als Heldin auf den diskriminierungs- und nussfreien Campus von Every: Delaney Wells, 32. Aus ihrer Perspektive lernt der Leser das Unternehmen und seine sendungsbewussten, superreflektierten Angestellten kennen, die auf dem Campus unter Dauerbeobachtung arbeiten. Alles wird aufgezeichnet, jede bewertet jeden. Everys Firmenphilosophie "Teilen ist Heilen" lässt sich als mindestens sanfter Zwang verstehen.
Delaney kommt als Saboteurin zu Every, sie hasst Mae (die "Everyones" nennen sich beim Vornamen) und will die Manipulation und Massenüberwachung gehorsam-bequemer Mitmenschen beenden. Radikalisiert hat sich Delaney bei einer College-Dozentin, die ihre Studierenden vor der bereitwilligen Aufgabe ihrer Freiheit warnte. Nach dem College flieht Delaney vor Everys Tracking-Geräten in die Natur und wird Rangerin in einem Nationalpark, doch "auch diese letzte Bastion der Freiheit" wird vernetzt. In den Park darf nur, wer ein Smartphone hat, zur Ortung im Notfall. In dem Moment wird Delaney für Mae und Every das, was der Name Delaney auf Irisch bedeutet, eine "dunkle Herausforderin": "Sie blickte hinunter auf die vereinzelten Gebirgsseen am Fuß des Berges und entschied sich für den Krieg."
Subtil ist hier nichts. Noch vor dem ersten Kapitel schlägt Eggers mehrere Untertitel für das Buch vor, darunter: "Die letzten Tage des freien Willens". Mit leitartikelähnlichen Briefen warnt Delaneys ehemalige Dozentin sie (und das Publikum) vor Everys totalitärem Anspruch. Weniger einen Roman hat Eggers geschrieben als einen Kommentar, fast eine Parabel. Es wird sofort klar, wer gut ist und wer böse. "Hans-Georg war vertrauenswürdig, ehrlich", denkt Delaney über einen Kollegen, und dann stimmt das auch. Die Symbolik ist überdeutlich, das Offensichtliche kommentiert Eggers mit sprechenden Namen und Accessoires. Immer wenn ein Zottelbart in Lederweste auftaucht, jemand "Fight the Power" hört oder aus einer angeschlagenen Teetasse trinkt, kann man absolut sicher sein, dass es sich um einen guten Charakter handelt. Denn das Gute ist wild und ungezähmt, real, gegenüber der sauber gerankten Onlinewelt. Freie Menschen brauchen keine Rating-Scores und müssen nicht zum besten Verhalten manipuliert werden, sie können Ambivalenz aushalten und sich allein ihren Teil denken, heißt es immer wieder im Buch. Umso kurioser, dass Eggers seinem Publikum kaum Ambivalenz zutraut.
Nun darf man einem Autor, der witzig schreiben kann und anziehende Charaktere erfunden hat, Absicht unterstellen, wenn er auf Charakterentwicklung verzichtet und seinen Figuren drei Adjektive als Beschreibung anpappt. Womöglich bleiben die Everyones so ununterscheidbar, weil Individuen wirklich egal für das Unternehmen sind. Vermutlich reden sie genau gleich, weil TruVoice ihre Sprache normiert hat und sie nichts Falsches sagen wollen. Aber das Ergebnis ist, dass einem sogar die Heldin Delaney fremd bleibt, auch weil sie eine dermaßen reine Motivation hat: Als Superheldin kämpft sie allein für die Menschheit.
Den fortschrittsgläubigen Everyones jubelt Delaney eine Idee für eine neue App unter, so gestört anmaßend, dass die Menschen aufbegehren müssen. Unterstützt wird sie von ihrem Freund Wes; einer der Trogs, so heißen die letzten Tech-Skeptiker, die in schmutzigen TrogTowns leben, wo keine Kameras und Shaming-Apps für Reinheit sorgen. Mit Wes erfindet Delaney AuthentiFriend, eine App, die aus Muskelkontraktionen im Gesicht des Gegenübers seine wahren Empfindungen analysiert. Doch statt zur Revolution führt Everys neues Produkt bloß zu einem leichten Anstieg der Scheidungen. Delaney wird radikaler.
Wenn man "Every" trotzdem bis zum Ende liest, dann wegen des Cliffhangers: Klar will man wissen, welche obszöne Idee einen Tech-Giganten zum Implodieren bringen könnte. Auf dem Weg dahin wirkt aber die Künstliche Intelligenz immer verlockender, die Everyones nutzen, um sich Chat-Nachrichten aufs Wesentliche einkürzen zu lassen. Überhaupt ist das der interessanteste Effekt des Buchs: Dass man diese verblendete, überkorrekte Digitalkultur, wenn nicht sympathisch, dann doch anziehend findet. Die Alternative ist zu öde. Wer will mit Eggers' ungezähmten Trogs am Lagerfeuer sitzen und in ihrem Bierschweiß alte Punkmusik hören? Seine idealisierten Tech-Skeptiker haben eine verwelkende Kultur und keine Vision.
Dagegen wirkt die "enge und farbenfrohe Sportkleidung", die auf dem Every-Campus Frauen wie Männer tragen, damit man bei allen gleich viel sieht, auf einmal wenigstens anders. Neu. Eine beliebte Every-App heißt "Are You Sure?", vor umweltschädlichen Käufen schlägt sie Usern schonende Alternativen vor. Dass die Politik den Klimawandel bekämpfen oder irgendeine Großaufgabe lösen könnte, glaubt niemand mehr. Die Probleme der App sind offensichtlich: Marktmacht, Überwachung, Verhaltensmanipulation. Aber wenn politischer Fortschritt so weit entfernt erscheint, wirkt technischer Fortschritt umso verlockender. Wenigstens bei etwas vorn dabei sein.
Falls das also Dave Eggers' hintersinniger Plan gewesen sein könnte, falls er mit diesem apokalyptisch-raunenden Dystopie-Thriller zeigen will, wie bereitwillig man auf den "Everywhere" genannten Campus übersiedeln und wie naiv sofort Everys Apps nutzen würde, dann ist er aufgegangen. Nowhere nennen die Everyones die alt-analoge Welt: Dort passiert nichts. Das ist Größenwahn, aber deswegen muss es nicht falsch sein. Florentin Schumacher
Dave Eggers, "Every". Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dave Eggers schreibt mit seiner Fortsetzung von "Der Circle" die Gruselfantasie eines Kulturpessimisten
Wenn man Filterblasen und Cancel Culture für gefährlich hält und Twitter und Facebook manchmal die asozialen Medien nennt, dann stehen die Chancen gut, dass man Dave Eggers' neues Buch "Every" als treffende Warnung vor der Tech-Welt lesen wird. In der Fortsetzung des 2013 erschienenen Bestsellers "Der Circle", in einer nahen Zukunft nach der zweiten Pandemie, ist das Realität geworden, was manche schon jetzt als Realität empfinden: Shaming-Apps haben Gerichte ersetzt, Algorithmen manipulieren die User, allgegenwärtige Kameras disziplinieren Verhalten und Sprache, und aus Angst vor "woker" Kritik traut sich niemand mehr, eine Idee zu äußern. Man sitzt zu Hause, streamt die Leben der anderen, wird von Lieferdiensten versorgt, und geht man doch raus, dann in eine Welt, die katalogisiert ist und bewertet, jede Unsicherheit minimiert.
Man kann "Every" aber auch gegen die offensichtlichen Absichten des Autors lesen. Dann ist dieser Roman keine Parodie mehr auf die selbst beseelten Techies in Kalifornien, sondern, im Gegenteil, eine Parodie auf die Gruselfantasien eines älteren, kulturpessimistischen Autors, der den Verfall der Menschheit mit seinen eigenen Affekten verwechselt. Man darf misstrauisch werden, wenn ein Autor wie Eggers einen fiktiven Internetkonzern zum Schauplatz zweier Romane macht und in Interviews berichtet, er habe kein WLAN zu Hause.
Die Geschichte von "Every" schließt ans Vorgängerbuch an. Nach dem Kauf eines E-Commerce-Riesen, "der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war", hat sich der Facebook-ähnliche Circle in das noch totalitärere Digitalunternehmen Every umbenannt. Es wickelt 82 Prozent aller Onlineeinkäufe ab und führt für viele Länder die Wahlen durch - einen Zettel in eine Urne zu werfen ist völlig veraltet. Livestream-Kameras an fast jedem Ort haben die Kriminalität drastisch reduziert. Seit die Every-App TruVoice Chats und Face-to-Face-Interaktionen auf Tabuwörter durchsucht und korrigiert, hat sich der Ton vieler Gespräche verbessert. Im gläsernen CEO-Büro der Every-Zentrale sitzt jetzt Mae Holland, die Hauptfigur des "Circle"-Buchs. Damals war sie noch eine etwas naive Mittzwanzigerin, die alle Warnungen, ihr Traumarbeitgeber könne womöglich eine menschenverachtende Allmachtsmaschine sein, übersah und als "erste vollkommen transparente Mitarbeiterin" ihr Leben per Bodycam streamte und so zur Vorzeigechefin aufstieg: das allen bekannte, total offene Every-Gesicht.
Wie in "The Circle" schickt Eggers auch in der Fortsetzung wieder eine Neue als Heldin auf den diskriminierungs- und nussfreien Campus von Every: Delaney Wells, 32. Aus ihrer Perspektive lernt der Leser das Unternehmen und seine sendungsbewussten, superreflektierten Angestellten kennen, die auf dem Campus unter Dauerbeobachtung arbeiten. Alles wird aufgezeichnet, jede bewertet jeden. Everys Firmenphilosophie "Teilen ist Heilen" lässt sich als mindestens sanfter Zwang verstehen.
Delaney kommt als Saboteurin zu Every, sie hasst Mae (die "Everyones" nennen sich beim Vornamen) und will die Manipulation und Massenüberwachung gehorsam-bequemer Mitmenschen beenden. Radikalisiert hat sich Delaney bei einer College-Dozentin, die ihre Studierenden vor der bereitwilligen Aufgabe ihrer Freiheit warnte. Nach dem College flieht Delaney vor Everys Tracking-Geräten in die Natur und wird Rangerin in einem Nationalpark, doch "auch diese letzte Bastion der Freiheit" wird vernetzt. In den Park darf nur, wer ein Smartphone hat, zur Ortung im Notfall. In dem Moment wird Delaney für Mae und Every das, was der Name Delaney auf Irisch bedeutet, eine "dunkle Herausforderin": "Sie blickte hinunter auf die vereinzelten Gebirgsseen am Fuß des Berges und entschied sich für den Krieg."
Subtil ist hier nichts. Noch vor dem ersten Kapitel schlägt Eggers mehrere Untertitel für das Buch vor, darunter: "Die letzten Tage des freien Willens". Mit leitartikelähnlichen Briefen warnt Delaneys ehemalige Dozentin sie (und das Publikum) vor Everys totalitärem Anspruch. Weniger einen Roman hat Eggers geschrieben als einen Kommentar, fast eine Parabel. Es wird sofort klar, wer gut ist und wer böse. "Hans-Georg war vertrauenswürdig, ehrlich", denkt Delaney über einen Kollegen, und dann stimmt das auch. Die Symbolik ist überdeutlich, das Offensichtliche kommentiert Eggers mit sprechenden Namen und Accessoires. Immer wenn ein Zottelbart in Lederweste auftaucht, jemand "Fight the Power" hört oder aus einer angeschlagenen Teetasse trinkt, kann man absolut sicher sein, dass es sich um einen guten Charakter handelt. Denn das Gute ist wild und ungezähmt, real, gegenüber der sauber gerankten Onlinewelt. Freie Menschen brauchen keine Rating-Scores und müssen nicht zum besten Verhalten manipuliert werden, sie können Ambivalenz aushalten und sich allein ihren Teil denken, heißt es immer wieder im Buch. Umso kurioser, dass Eggers seinem Publikum kaum Ambivalenz zutraut.
Nun darf man einem Autor, der witzig schreiben kann und anziehende Charaktere erfunden hat, Absicht unterstellen, wenn er auf Charakterentwicklung verzichtet und seinen Figuren drei Adjektive als Beschreibung anpappt. Womöglich bleiben die Everyones so ununterscheidbar, weil Individuen wirklich egal für das Unternehmen sind. Vermutlich reden sie genau gleich, weil TruVoice ihre Sprache normiert hat und sie nichts Falsches sagen wollen. Aber das Ergebnis ist, dass einem sogar die Heldin Delaney fremd bleibt, auch weil sie eine dermaßen reine Motivation hat: Als Superheldin kämpft sie allein für die Menschheit.
Den fortschrittsgläubigen Everyones jubelt Delaney eine Idee für eine neue App unter, so gestört anmaßend, dass die Menschen aufbegehren müssen. Unterstützt wird sie von ihrem Freund Wes; einer der Trogs, so heißen die letzten Tech-Skeptiker, die in schmutzigen TrogTowns leben, wo keine Kameras und Shaming-Apps für Reinheit sorgen. Mit Wes erfindet Delaney AuthentiFriend, eine App, die aus Muskelkontraktionen im Gesicht des Gegenübers seine wahren Empfindungen analysiert. Doch statt zur Revolution führt Everys neues Produkt bloß zu einem leichten Anstieg der Scheidungen. Delaney wird radikaler.
Wenn man "Every" trotzdem bis zum Ende liest, dann wegen des Cliffhangers: Klar will man wissen, welche obszöne Idee einen Tech-Giganten zum Implodieren bringen könnte. Auf dem Weg dahin wirkt aber die Künstliche Intelligenz immer verlockender, die Everyones nutzen, um sich Chat-Nachrichten aufs Wesentliche einkürzen zu lassen. Überhaupt ist das der interessanteste Effekt des Buchs: Dass man diese verblendete, überkorrekte Digitalkultur, wenn nicht sympathisch, dann doch anziehend findet. Die Alternative ist zu öde. Wer will mit Eggers' ungezähmten Trogs am Lagerfeuer sitzen und in ihrem Bierschweiß alte Punkmusik hören? Seine idealisierten Tech-Skeptiker haben eine verwelkende Kultur und keine Vision.
Dagegen wirkt die "enge und farbenfrohe Sportkleidung", die auf dem Every-Campus Frauen wie Männer tragen, damit man bei allen gleich viel sieht, auf einmal wenigstens anders. Neu. Eine beliebte Every-App heißt "Are You Sure?", vor umweltschädlichen Käufen schlägt sie Usern schonende Alternativen vor. Dass die Politik den Klimawandel bekämpfen oder irgendeine Großaufgabe lösen könnte, glaubt niemand mehr. Die Probleme der App sind offensichtlich: Marktmacht, Überwachung, Verhaltensmanipulation. Aber wenn politischer Fortschritt so weit entfernt erscheint, wirkt technischer Fortschritt umso verlockender. Wenigstens bei etwas vorn dabei sein.
Falls das also Dave Eggers' hintersinniger Plan gewesen sein könnte, falls er mit diesem apokalyptisch-raunenden Dystopie-Thriller zeigen will, wie bereitwillig man auf den "Everywhere" genannten Campus übersiedeln und wie naiv sofort Everys Apps nutzen würde, dann ist er aufgegangen. Nowhere nennen die Everyones die alt-analoge Welt: Dort passiert nichts. Das ist Größenwahn, aber deswegen muss es nicht falsch sein. Florentin Schumacher
Dave Eggers, "Every". Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2021Mach mal Pause
Sehr aktuell, aber auch sehr gut? Dave Eggers’ „Every“ und die Whistleblowerin Frances Haugen
Als Dave Eggers neulich am Telefon über seinen neuen Roman „Every“ sprach, durfte die Welt noch nicht wissen, dass die Whistleblowerin hinter den „Facebook Files“ Frances Haugen heißt, aus Iowa stammt und als Idealistin eigentlich vorhatte, den Konzern von innen zu verändern. Sonst hätte man hervorragend darüber reden können, dass seine neue Hauptfigur Delaney Wells aus Idaho stammt und eine Idealistin ist, die den fiktiven Konzern „Every“ von innen verändern will.
Die Wirklichkeit habe ihn beim Schreiben immer wieder eingeholt, sagte Eggers am Telefon aber eh schon. Vieles, was er sich für seine Dystopie einer nahen digitalen Zukunft ausdachte, gab es plötzlich. Eine künstliche Intelligenz, die Depressionen erkennt zum Beispiel. Das ist eine der Apps, die sich Delaney für Every ausdenkt. Ihre Taktik ist – und da beginnen die Unterschiede zwischen Frances Haugen und Delaney Wells – , den Bogen des digitalen Wahnsinns bei der Produktentwicklung so zu überspannen, dass Belegschaft und Nutzer rebellieren. Komplettüberwachung, die Veröffentlichung und Bewertung aller menschlicher Handlungen, Regungen und Gefühle: All das treibt sie voran. Das ist affirmative Sabotage statt Reform. Immer frustrierter stellt sie dann fest, dass sie damit keine Empörung auslöst bei den Vorgesetzten, bei den Kolleginnen und Kollegen auf dem elysiumhaften Campus des Konzerns, sondern Begeisterung und Zuspruch. Der Schluss, den Eggers da zieht, ist wiederum sehr ähnlich wie der, den die Whistleblowerin Frances Haugen gerade in Interviews und Anhörungen betont. Nicht die Technologie ist das Problem, sondern die Menschen, die sie anwenden. „Every“ ist die Fortsetzung von Eggers erster digitaler Albtraumfantasie „The Circle“, die 2013 erschien und dann mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt wurde. Die Firma The Circle war damals dem Google-Konzern nachempfunden. Die Firma Every ist nun eine Fusion aller digitalen Konzerne – Google, Facebook, Amazon und der Rest. Mae Holland, die Hauptfigur aus „The Circle“, ist inzwischen die Chefin dieses Metakonzerns.
Nun kann Dave Eggers in seinem eigenen Leben mit digitaler Technologie nicht viel anfangen. Er telefonierte an diesem Tag wie immer auf seinem Flip-Phone, das nichts kann – nur telefonieren. Er schreibt seine Bücher, so erzählte er, auf einem 18 Jahre alten Powerbook, das nicht ans Internet angeschlossen ist. Und zwar meist auf einem Boot in der Mitte der Bucht von San Francisco. Auch sein Auto hat keinerlei digitale Funktionen, ein ebenfalls 18 Jahre alter Honda Element, ein Kastenwagen mit dem Design-Glamour einer Packung Toastbrot. „Meine Familie hasst dieses Auto“, sagte er und lachte. „Aber das piept nicht. Das sagt mir nicht dauernd, was ich tun und lassen soll. Vor ein paar Jahren waren wir in den Sommerferien in Schweden, da mieteten wir einen Volvo, und ich war schockiert, als mir das Auto sagte, dass ich jetzt gefälligst anhalten und einen Kaffee trinken sollte. Ich sei müde. Und dann hat das Auto so lange gepiept, bis ich angehalten habe.“ Nein, er will nicht, dass Maschinen mit ihm kommunizieren, ihn manipulieren, etwas über ihn wissen. Das ist ein Lebensgefühl, das in der digitalisierten Welt nur noch wenige mit ihm teilen. Gerade in San Francisco.
Im Buch heißen diese wenigen Digitalverweigerer „Trogs“, sie sind Nachkommen der Hippies, die sich aus den digitalen Netzwerken in ihre kleinen Holzhäuschen zurückgezogen haben und sich auf Slalomkursen durch die Stadt bewegen, um der Dauerüberwachung durch all die Kameras zu entkommen. Das genaue Gegenteil sind Delaneys Kolleginnen und Kollegen bei Every, die Eggers mit dem Blick eines Karikaturisten beschreibt. Die Menschen der digitalen Welt zeichnet er als neurotische Knechte, die ihren freien Willen und ihre Würde den Bequemlichkeiten und Sicherheiten der digitalen Welt geopfert haben und die ihre letzten Unsicherheiten hinter den strengen Regeln der Wokeness verstecken. Alles wollen sie für Every berechnen und bewerten. Das tiefste Innerste der Menschen, ihr Leben, ihre Werte, ihren Geschmack. Ein Verfahren, das, wie Eggers sagt, schon jetzt alle Ambivalenzen und Zwischentöne aus dem Leben vertreibt, die es lebenswert machen. Die Trogs wiederum sind hoffnungslos weltfremde Widerständler gegen diesen freiwilligen Totalitarismus.
Der größte Spaß des Buches ist die ständige Steigerung der technologischen Zumutungen, die schließlich für eine der komischsten Szenen im Buch sorgt. Algorithmen entlarven den über-woken Mann, der Präsident werden will, bei seinem Firmenbesuch als Lüstling. 2013 holte die Wirklichkeit „The Circle“ zwischen Abgabe des Manuskripts und Veröffentlichung ein. Im Juni enthüllte Edward Snowden die Überwachungsprogramme der NSA und anderer Geheimdienste. Im Oktober erschien der Roman. Dieses Mal ist die Taktung etwas besser. Am vergangenen Sonntag trat Frances Haugen an die Öffentlichkeit. Am Freitag nun erscheint „Every“. Buch der Stunde nennen Fernsehmoderatoren so was gerne. Eggers lässt einen das beim Lesen auch hin und wieder allzu deutlich spüren, dass er das auch genau so wollte. Mit dem Techlash, dem weltweiten Widerwillen gegen die negativen Effekte der neuen Technologien, sind seine moralischen Einwände gegen die Digitalisierung zu Leitartikelbinsen geworden. In den USA sind die Debatten um ideologische Verhärtungen in Woke und Anti-Woke schon längst so leergelaufen, dass seine Konstruktion einer persönlichen Anti-anti-woke-Wokeness seinen Figuren die Komplexität und Ambivalenz nimmt, die er doch gerade einklagt.
Dass „Every“ trotzdem gut lesbar ist, liegt vor allem am Handwerk. Man spürt, dass Dave Eggers viel Erfahrung in Hollywood gesammelt hat. Die Plot-Twists sind sauber getaktet. Die Figuren erfüllen ihre Handlungsfunktionen. Es gibt Pointen und Komik. Ein Cliffhanger am Ende lässt Raum für einen dritten Teil. Er schreibt handwerklich so perfekt, dass einen seine Sprache (auch in der Übersetzung) über die Längen und Redundanzen trägt. Die Qualität seines Schreibens ist übrigens wissenschaftlich bewiesen. Ob es ihm gefällt oder nicht, es war ausgerechnet ein Computer, der herausfand, dass er perfekte Romane schreibt. An der Stanford University haben sie vor ein paar Jahren ein Programm entwickelt, das 5000 Romane verglich, um herauszufinden, was einen Bestseller ausmacht. 2800 Parameter verwendet die künstliche Intelligenz, darunter Thema, Handlung, Stil und Figuren, aber auch Satzlängen, Interpunktion und Wortwahl. Den höchsten Wert für den „paradigmatischen Roman der Gegenwart“ errechnete der Algorithmus für „The Circle“. Ein tolles Buch. Aber nur, wenn man Rechnern seinen Glauben schenken will.
ANDRIAN KREYE
Im Buch heißen die wenigen
Digitalverweigerer „Trogs“, sie
sind Nachkommen der Hippies
Frances Haugen belastet Facebook schwer – auch deshalb ist Dave Eggers’ neues Buch „Every“ über die Datenkraken das Buch der Stunde.
Foto: Reuters
Dave Eggers:
Every. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2021.
592 Seiten. 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sehr aktuell, aber auch sehr gut? Dave Eggers’ „Every“ und die Whistleblowerin Frances Haugen
Als Dave Eggers neulich am Telefon über seinen neuen Roman „Every“ sprach, durfte die Welt noch nicht wissen, dass die Whistleblowerin hinter den „Facebook Files“ Frances Haugen heißt, aus Iowa stammt und als Idealistin eigentlich vorhatte, den Konzern von innen zu verändern. Sonst hätte man hervorragend darüber reden können, dass seine neue Hauptfigur Delaney Wells aus Idaho stammt und eine Idealistin ist, die den fiktiven Konzern „Every“ von innen verändern will.
Die Wirklichkeit habe ihn beim Schreiben immer wieder eingeholt, sagte Eggers am Telefon aber eh schon. Vieles, was er sich für seine Dystopie einer nahen digitalen Zukunft ausdachte, gab es plötzlich. Eine künstliche Intelligenz, die Depressionen erkennt zum Beispiel. Das ist eine der Apps, die sich Delaney für Every ausdenkt. Ihre Taktik ist – und da beginnen die Unterschiede zwischen Frances Haugen und Delaney Wells – , den Bogen des digitalen Wahnsinns bei der Produktentwicklung so zu überspannen, dass Belegschaft und Nutzer rebellieren. Komplettüberwachung, die Veröffentlichung und Bewertung aller menschlicher Handlungen, Regungen und Gefühle: All das treibt sie voran. Das ist affirmative Sabotage statt Reform. Immer frustrierter stellt sie dann fest, dass sie damit keine Empörung auslöst bei den Vorgesetzten, bei den Kolleginnen und Kollegen auf dem elysiumhaften Campus des Konzerns, sondern Begeisterung und Zuspruch. Der Schluss, den Eggers da zieht, ist wiederum sehr ähnlich wie der, den die Whistleblowerin Frances Haugen gerade in Interviews und Anhörungen betont. Nicht die Technologie ist das Problem, sondern die Menschen, die sie anwenden. „Every“ ist die Fortsetzung von Eggers erster digitaler Albtraumfantasie „The Circle“, die 2013 erschien und dann mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt wurde. Die Firma The Circle war damals dem Google-Konzern nachempfunden. Die Firma Every ist nun eine Fusion aller digitalen Konzerne – Google, Facebook, Amazon und der Rest. Mae Holland, die Hauptfigur aus „The Circle“, ist inzwischen die Chefin dieses Metakonzerns.
Nun kann Dave Eggers in seinem eigenen Leben mit digitaler Technologie nicht viel anfangen. Er telefonierte an diesem Tag wie immer auf seinem Flip-Phone, das nichts kann – nur telefonieren. Er schreibt seine Bücher, so erzählte er, auf einem 18 Jahre alten Powerbook, das nicht ans Internet angeschlossen ist. Und zwar meist auf einem Boot in der Mitte der Bucht von San Francisco. Auch sein Auto hat keinerlei digitale Funktionen, ein ebenfalls 18 Jahre alter Honda Element, ein Kastenwagen mit dem Design-Glamour einer Packung Toastbrot. „Meine Familie hasst dieses Auto“, sagte er und lachte. „Aber das piept nicht. Das sagt mir nicht dauernd, was ich tun und lassen soll. Vor ein paar Jahren waren wir in den Sommerferien in Schweden, da mieteten wir einen Volvo, und ich war schockiert, als mir das Auto sagte, dass ich jetzt gefälligst anhalten und einen Kaffee trinken sollte. Ich sei müde. Und dann hat das Auto so lange gepiept, bis ich angehalten habe.“ Nein, er will nicht, dass Maschinen mit ihm kommunizieren, ihn manipulieren, etwas über ihn wissen. Das ist ein Lebensgefühl, das in der digitalisierten Welt nur noch wenige mit ihm teilen. Gerade in San Francisco.
Im Buch heißen diese wenigen Digitalverweigerer „Trogs“, sie sind Nachkommen der Hippies, die sich aus den digitalen Netzwerken in ihre kleinen Holzhäuschen zurückgezogen haben und sich auf Slalomkursen durch die Stadt bewegen, um der Dauerüberwachung durch all die Kameras zu entkommen. Das genaue Gegenteil sind Delaneys Kolleginnen und Kollegen bei Every, die Eggers mit dem Blick eines Karikaturisten beschreibt. Die Menschen der digitalen Welt zeichnet er als neurotische Knechte, die ihren freien Willen und ihre Würde den Bequemlichkeiten und Sicherheiten der digitalen Welt geopfert haben und die ihre letzten Unsicherheiten hinter den strengen Regeln der Wokeness verstecken. Alles wollen sie für Every berechnen und bewerten. Das tiefste Innerste der Menschen, ihr Leben, ihre Werte, ihren Geschmack. Ein Verfahren, das, wie Eggers sagt, schon jetzt alle Ambivalenzen und Zwischentöne aus dem Leben vertreibt, die es lebenswert machen. Die Trogs wiederum sind hoffnungslos weltfremde Widerständler gegen diesen freiwilligen Totalitarismus.
Der größte Spaß des Buches ist die ständige Steigerung der technologischen Zumutungen, die schließlich für eine der komischsten Szenen im Buch sorgt. Algorithmen entlarven den über-woken Mann, der Präsident werden will, bei seinem Firmenbesuch als Lüstling. 2013 holte die Wirklichkeit „The Circle“ zwischen Abgabe des Manuskripts und Veröffentlichung ein. Im Juni enthüllte Edward Snowden die Überwachungsprogramme der NSA und anderer Geheimdienste. Im Oktober erschien der Roman. Dieses Mal ist die Taktung etwas besser. Am vergangenen Sonntag trat Frances Haugen an die Öffentlichkeit. Am Freitag nun erscheint „Every“. Buch der Stunde nennen Fernsehmoderatoren so was gerne. Eggers lässt einen das beim Lesen auch hin und wieder allzu deutlich spüren, dass er das auch genau so wollte. Mit dem Techlash, dem weltweiten Widerwillen gegen die negativen Effekte der neuen Technologien, sind seine moralischen Einwände gegen die Digitalisierung zu Leitartikelbinsen geworden. In den USA sind die Debatten um ideologische Verhärtungen in Woke und Anti-Woke schon längst so leergelaufen, dass seine Konstruktion einer persönlichen Anti-anti-woke-Wokeness seinen Figuren die Komplexität und Ambivalenz nimmt, die er doch gerade einklagt.
Dass „Every“ trotzdem gut lesbar ist, liegt vor allem am Handwerk. Man spürt, dass Dave Eggers viel Erfahrung in Hollywood gesammelt hat. Die Plot-Twists sind sauber getaktet. Die Figuren erfüllen ihre Handlungsfunktionen. Es gibt Pointen und Komik. Ein Cliffhanger am Ende lässt Raum für einen dritten Teil. Er schreibt handwerklich so perfekt, dass einen seine Sprache (auch in der Übersetzung) über die Längen und Redundanzen trägt. Die Qualität seines Schreibens ist übrigens wissenschaftlich bewiesen. Ob es ihm gefällt oder nicht, es war ausgerechnet ein Computer, der herausfand, dass er perfekte Romane schreibt. An der Stanford University haben sie vor ein paar Jahren ein Programm entwickelt, das 5000 Romane verglich, um herauszufinden, was einen Bestseller ausmacht. 2800 Parameter verwendet die künstliche Intelligenz, darunter Thema, Handlung, Stil und Figuren, aber auch Satzlängen, Interpunktion und Wortwahl. Den höchsten Wert für den „paradigmatischen Roman der Gegenwart“ errechnete der Algorithmus für „The Circle“. Ein tolles Buch. Aber nur, wenn man Rechnern seinen Glauben schenken will.
ANDRIAN KREYE
Im Buch heißen die wenigen
Digitalverweigerer „Trogs“, sie
sind Nachkommen der Hippies
Frances Haugen belastet Facebook schwer – auch deshalb ist Dave Eggers’ neues Buch „Every“ über die Datenkraken das Buch der Stunde.
Foto: Reuters
Dave Eggers:
Every. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2021.
592 Seiten. 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de