»Ich bin kein jüdischer Schriftsteller, weil ich russisch schreibe, kein russischer Schriftsteller weil ich über Juden schreibe, und kein litauischer Schriftsteller, weil ich nicht litauisch schreibe.« Grigori Kanowitsch (Grigorijus Kanovicius) ist ein Autor zwischen den Sprachen: In Litauen geboren, ist das Jiddische seine Schtetl-Muttersprache. Das Russische eignete er sich als Dreizehnjähriger an, dem Genozid entkommen nach Kasachstan. In seinem literarischen Werk, übersetzt in zwölf Sprachen, vergegenwärtigt er immer wieder das litauische jüdische Leben. Es ist sein Lebensthema. Es nährt das Kolorit seiner Prosa, ihren Klang und Ihre Gestimmtheit zwischen bitterer Ausweglosigkeit und unerschöpflichem Lebensglauben, zwischen skurrilem Witz und heiterer Melancholie: »Jetzt habe ich begriffen. Der Tod ist ein Feiertag. Das Ende der Arbeit. Der Tod ist ein ewiger Sabbat.« »Swetschi na wetru«/»Kerzen im Wind« (1979) hieß Grigori Kanowitschs erster Roman, der nun unter dem Titel Ewiger Sabbat wiederzuentdecken ist. Anfang der 30er-Jahre - in einem kleinen Dorf bei Vilnius lebt Daniel zunächst bei Großvater, dem Uhrmacher, und Großmutter, der Vater sitzt wegen politischer Umtriebe im Gefängnis. In einen Vogel möchte sich dieser träumende Junge verwandeln: Dann flöge er über Synagogendiener Chaim hinweg, über Fleischermeister Hillels Laden, die Frisierstube von Aaron Damski, den ersten Lehrherrn, sähe den Hochzeitsmusikanten Leiser und Doktor Gutman, und alle die Bewohner dieses Fleckens aus der Ferne. Vor allem bräuchte er nicht länger auf dem jüdischen Friedhof mit all den Krähen und beim einbeinigen Totengräber Josef zu wohnen - er sähe die Welt. Daniel wird sie bald im Ghetto kennenlernen.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit einer sehr kenntnisreichen und persönlichen Besprechung würdigt Rezensent Oleg Jurjew die nun unter dem Titel "Ewiger Sabbat" herausgegebene Neuauflage von Grigori Kanowitschs Trilogie "Kerzen im Wind". Jurjew bewundert die für die Sowjetunion ungewöhnlich freie Behandlung jüdischer Themen, die der in Litauen geborene und in einer jüdischen Familie aufgewachsene Schriftsteller in seinem Werk von 1979 schildert. Auch die Präzision und Poesie des Buches haben es dem Rezensenten angetan, allerdings hätte er sich ein Nachwort und auch einen Stellenkommentar, der eine Seite überschreitet, gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2014Der Junge, der als Schneemann überlebte
Der Untergang einer Welt, gesehen mit den wachen Augen eines Kindes, wie die jüdische Literatur kein zweites kennt: Grigori Kanowitschs bewegender Roman "Ewiger Sabbat".
Grigori Kanowitsch, der seit mehr als zwanzig Jahren in Israel lebt, wurde 1929 als Sohn eines jüdischen Schneiders in Litauen geboren, und 1979 erschien auf Russisch sein großer Roman über die deutsche Invasion. Er beschreibt das Ende eines litauischen Schtetls - zunächst die letzten Vorkriegsjahre, in denen Litauen noch unabhängig war, dann die Okkupation und das Getto -, doch die Jahre des Friedens sind in Wirklichkeit schon Jahre des Todes. Eine zentrale Metapher ist der Friedhof, und zur Kunst des Romans gehört es, dass ein heranwachsender Junge, der Ich-Erzähler Daniel, uns alles mit seinen kindlichen Augen sehen lässt.
Er ist zehn, als wir ihm zum ersten Mal begegnen. Seine Mutter ist gestorben, sein Vater, ein Kommunist, sitzt wegen politischer Umtriebe im Gefängnis, das Kind wächst unter den Fittichen einer despotischen Großmutter auf. "Du wirst fahren, Daniel, mit mir in die Stadt", verkündet sie ihm. Es ist der erste Satz des Romans, und seine merkwürdige Syntax deutet es an: Die alte Frau spricht kein Litauisch, sie spricht Jiddisch. In ihr und vielen anderen Gestalten des Romans lässt Kanowitsch eine Welt wiederauferstehen, die es längst nicht mehr gibt.
Die Großmutter spürt ihren nahenden Tod, sie will ihren Sohn noch einmal im Gefängnis besuchen, und Daniel freut sich unbändig auf den Vater. Aber es wird nichts daraus, sie erreichen ihr Ziel nicht. Der Vater ist in ein anderes Gefängnis verlegt worden, und auch die Gans, die sie ihm mitbringen wollten, verfault bereits. Sie ist die Vorbotin eines langen Sterbens. Zuerst wird die Großmutter beerdigt, dann kommt der Großvater in ein Altersheim, er hält es dort aber nicht lange aus, und eines Tages verschwindet er spurlos.
Da nimmt der einbeinige Totengräber Josef sich des Kindes an, und der Friedhof wird zu Daniels neuem Wohnort. Als er noch kein Totengräber war und zwei Beine hatte, war Josef mit der Großmutter verlobt gewesen. Dann war ein Krieg gekommen, Josef wurde Soldat und kehrte auf Krücken heim, Daniels Urgroßmutter verhinderte die Hochzeit - und jetzt, als alles schon vorbei ist, schließt sich der Kreis. Das Leben, das er nicht geführt hat, nimmt noch einmal Gestalt an, und dass es dafür längst zu spät ist, spielt für Josef keine Rolle. Als Totengräber hat er immer im Angesicht der Ewigkeit gelebt.
Woher gewinnt dieses Epos seine Kraft, wie kommt es, dass es trotz seiner Todesbilder nirgends ein Gefühl von Morbidität aufkommen lässt? Eine Antwort findet sich im Zentrum des Romans, in der Figur seines Erzählers. Daniel steht nicht nur am Anfang seines Lebens, mit ihm gelingt Grigori Kanowitsch etwas Seltenes in der jüdischen Literatur: Er ist ein Kind, das von keiner Vergangenheit belastet wird, er braucht keine Tradition zu tragen - Daniel ist ein Junge, der nicht schon alt zur Welt gekommen ist.
Lange bleibt er ein Analphabet, ein Am Ha'aretz, wie es bei den Juden heißt. Kafka hat das als "Mann vom Lande" übersetzt, der ein Leben lang vor dem Gesetz wartet, ohne eingelassen zu werden, Daniel aber lässt sich von seinem Unwissen nicht lähmen. Im Gegenteil: Sein Blick ist unbefangen. Er sieht, wie nur der kauzige Synagogendiener die alte Lehre noch aufrechterhält und wie der koschere Schächter trauert, weil seine Söhne dem Gebot nicht mehr folgen, aber er empfindet es nicht als Verlust. Niemand hat ihn in die Tradition eingewiesen, und im entscheidenden Augenblick muss er selbst für seine Zukunft sorgen.
Als die Deutschen kommen, ist Daniel achtzehn Jahre alt. Der faschistische Ortspolizist treibt die Juden in der Synagoge zusammen, und die Schilderung dieser Schreckenszeit gehört zu den eindringlichsten Seiten des Romans. Unter den Unglücklichen ist ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter aus Deutschland nach Litauen geflohen ist, in der Nacht muss er austreten, und die Mutter lässt ihn nicht hinaus. Sie fürchtet, dass er erschossen wird, und Daniel kommt ihm zu Hilfe. ",Komm', sagte ich zu Wilhelm, ,Wir gehen nicht hinaus ... wir machen's hier ... gleich hier.' ,Nein, nein', widersprach die Mutter völlig verstört, ,das ist Gotteslästerung.' ,Gott wird es vergeben', sagte ich und führte Wilhelm in die Ecke. ,Schäm dich nicht, Kleiner. Mach!'"
Das ist keine Blasphemie, das ist ein Akt der Menschlichkeit. Und er ist nur ein Vorspiel, denn wenig später wird Daniel dem kleinen Wilhelm das Leben retten. Aus dem Schtetl werden die Juden in ein Getto verbracht, die Deutschen veranstalten eine Razzia, um die Kinder einzufangen und in den Tod zu schicken. Wilhelms Mutter ist verzweifelt. Sie weiß nicht, wo sie ihren Sohn verstecken soll, und Daniel findet eine Lösung. "Die Lastwagen fuhren in die Straße ein, und ihre unbarmherzigen Scheinwerfer glitten über den Garten. Ich häufte Schnee an Wilhelms Beinen auf, und bald war er in den weißen Harnisch gefesselt. Ich steckte Wilhelm eine Nase an, schob ihm den Besen unter den Arm, und damit er nicht erstickte, bohrte ich mit einem Stöckchen zwei kleine Löcher in das Schneegesicht."
Daniel ist zum Erwachsenen geworden, das Kinderspiel zum Widerstand gegen die Barbarei. Später wird er andere Kinder aus dem Getto retten, und er tut es mit Hilfe von litauischen Kommunisten, aber nirgends gerät das Buch zum politischen Manifest. Es ist ein Bildungsroman ohne Bildung: Auch am Ende ist Daniel der naive Erzähler, der er am Anfang war, und während er heranwächst, bleibt er frei von allen Vorurteilen der Erziehung. Ob die litauischen Helfer jenseits der Gettomauern Kommunisten sind oder nicht, ob er auf einen dogmatischen Synagogendiener trifft oder auf einen Juden, der zum Christentum übergetreten ist: Immer sind es für ihn Menschen, denen er mit seiner eigenen, heranreifenden Menschlichkeit begegnet.
Nicht weniger eindrucksvoll als seine Erzählung ist die Entwicklung des Erzählers selbst. Als der faschistische Ortspolizist ihn vom Friedhof zu den anderen Juden in die Synagoge treibt, sieht Daniel plötzlich wieder seine verstorbene Großmutter vor sich. "Die alte Frau begleitete mich unentwegt, und ihre Anwesenheit, körperlos und unsichtbar, gewann plötzlich Gestalt." In den schweren Tagen des Gettos berät er sich ständig mit ihr, wie bei Sigmund Freud wird die Verstorbene zu seinem Über-Ich, und doch ist es anders. Bei Freud erwächst das Über-Ich aus Schuldgefühlen und wird deshalb zum "quälenden" Gewissen, das heranwachsende Kind dagegen kennt kein Schuldgefühl. Die Großmutter, im ersten Kapitel noch eine herrschsüchtige Despotin, gibt ihm jetzt die großzügigsten und tolerantesten Gedanken ein, und Kanowitsch gelingt etwas Wunderbares: Daniel ist ein Kaspar Hauser, der seine Erziehung nicht von außen erfährt, sondern von innen - im Takt seines Herzens.
Im russischen Orginal heißt der Roman "Kerzen im Wind", und unter diesem Titel erschien er 1984 erstmals in der DDR. Die Andere Bibliothek hat die damalige schöne Übersetzung von Waltraud Ahrndt unverändert übernommen, nur der Titel wurde verändert. Kanowitsch hat ein Requiem geschrieben, und im "Ewigen Sabbat" klingt etwas von der ungestörten Ruhe an, die man den Toten wünscht.
JAKOB HESSING
Grigori Kanowitsch: "Ewiger Sabbat". Roman.
Aus dem Russischen übersetzt von Waltraud Ahrndt. Die Andere Bibliothek, Berlin 2014. 606 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Untergang einer Welt, gesehen mit den wachen Augen eines Kindes, wie die jüdische Literatur kein zweites kennt: Grigori Kanowitschs bewegender Roman "Ewiger Sabbat".
Grigori Kanowitsch, der seit mehr als zwanzig Jahren in Israel lebt, wurde 1929 als Sohn eines jüdischen Schneiders in Litauen geboren, und 1979 erschien auf Russisch sein großer Roman über die deutsche Invasion. Er beschreibt das Ende eines litauischen Schtetls - zunächst die letzten Vorkriegsjahre, in denen Litauen noch unabhängig war, dann die Okkupation und das Getto -, doch die Jahre des Friedens sind in Wirklichkeit schon Jahre des Todes. Eine zentrale Metapher ist der Friedhof, und zur Kunst des Romans gehört es, dass ein heranwachsender Junge, der Ich-Erzähler Daniel, uns alles mit seinen kindlichen Augen sehen lässt.
Er ist zehn, als wir ihm zum ersten Mal begegnen. Seine Mutter ist gestorben, sein Vater, ein Kommunist, sitzt wegen politischer Umtriebe im Gefängnis, das Kind wächst unter den Fittichen einer despotischen Großmutter auf. "Du wirst fahren, Daniel, mit mir in die Stadt", verkündet sie ihm. Es ist der erste Satz des Romans, und seine merkwürdige Syntax deutet es an: Die alte Frau spricht kein Litauisch, sie spricht Jiddisch. In ihr und vielen anderen Gestalten des Romans lässt Kanowitsch eine Welt wiederauferstehen, die es längst nicht mehr gibt.
Die Großmutter spürt ihren nahenden Tod, sie will ihren Sohn noch einmal im Gefängnis besuchen, und Daniel freut sich unbändig auf den Vater. Aber es wird nichts daraus, sie erreichen ihr Ziel nicht. Der Vater ist in ein anderes Gefängnis verlegt worden, und auch die Gans, die sie ihm mitbringen wollten, verfault bereits. Sie ist die Vorbotin eines langen Sterbens. Zuerst wird die Großmutter beerdigt, dann kommt der Großvater in ein Altersheim, er hält es dort aber nicht lange aus, und eines Tages verschwindet er spurlos.
Da nimmt der einbeinige Totengräber Josef sich des Kindes an, und der Friedhof wird zu Daniels neuem Wohnort. Als er noch kein Totengräber war und zwei Beine hatte, war Josef mit der Großmutter verlobt gewesen. Dann war ein Krieg gekommen, Josef wurde Soldat und kehrte auf Krücken heim, Daniels Urgroßmutter verhinderte die Hochzeit - und jetzt, als alles schon vorbei ist, schließt sich der Kreis. Das Leben, das er nicht geführt hat, nimmt noch einmal Gestalt an, und dass es dafür längst zu spät ist, spielt für Josef keine Rolle. Als Totengräber hat er immer im Angesicht der Ewigkeit gelebt.
Woher gewinnt dieses Epos seine Kraft, wie kommt es, dass es trotz seiner Todesbilder nirgends ein Gefühl von Morbidität aufkommen lässt? Eine Antwort findet sich im Zentrum des Romans, in der Figur seines Erzählers. Daniel steht nicht nur am Anfang seines Lebens, mit ihm gelingt Grigori Kanowitsch etwas Seltenes in der jüdischen Literatur: Er ist ein Kind, das von keiner Vergangenheit belastet wird, er braucht keine Tradition zu tragen - Daniel ist ein Junge, der nicht schon alt zur Welt gekommen ist.
Lange bleibt er ein Analphabet, ein Am Ha'aretz, wie es bei den Juden heißt. Kafka hat das als "Mann vom Lande" übersetzt, der ein Leben lang vor dem Gesetz wartet, ohne eingelassen zu werden, Daniel aber lässt sich von seinem Unwissen nicht lähmen. Im Gegenteil: Sein Blick ist unbefangen. Er sieht, wie nur der kauzige Synagogendiener die alte Lehre noch aufrechterhält und wie der koschere Schächter trauert, weil seine Söhne dem Gebot nicht mehr folgen, aber er empfindet es nicht als Verlust. Niemand hat ihn in die Tradition eingewiesen, und im entscheidenden Augenblick muss er selbst für seine Zukunft sorgen.
Als die Deutschen kommen, ist Daniel achtzehn Jahre alt. Der faschistische Ortspolizist treibt die Juden in der Synagoge zusammen, und die Schilderung dieser Schreckenszeit gehört zu den eindringlichsten Seiten des Romans. Unter den Unglücklichen ist ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter aus Deutschland nach Litauen geflohen ist, in der Nacht muss er austreten, und die Mutter lässt ihn nicht hinaus. Sie fürchtet, dass er erschossen wird, und Daniel kommt ihm zu Hilfe. ",Komm', sagte ich zu Wilhelm, ,Wir gehen nicht hinaus ... wir machen's hier ... gleich hier.' ,Nein, nein', widersprach die Mutter völlig verstört, ,das ist Gotteslästerung.' ,Gott wird es vergeben', sagte ich und führte Wilhelm in die Ecke. ,Schäm dich nicht, Kleiner. Mach!'"
Das ist keine Blasphemie, das ist ein Akt der Menschlichkeit. Und er ist nur ein Vorspiel, denn wenig später wird Daniel dem kleinen Wilhelm das Leben retten. Aus dem Schtetl werden die Juden in ein Getto verbracht, die Deutschen veranstalten eine Razzia, um die Kinder einzufangen und in den Tod zu schicken. Wilhelms Mutter ist verzweifelt. Sie weiß nicht, wo sie ihren Sohn verstecken soll, und Daniel findet eine Lösung. "Die Lastwagen fuhren in die Straße ein, und ihre unbarmherzigen Scheinwerfer glitten über den Garten. Ich häufte Schnee an Wilhelms Beinen auf, und bald war er in den weißen Harnisch gefesselt. Ich steckte Wilhelm eine Nase an, schob ihm den Besen unter den Arm, und damit er nicht erstickte, bohrte ich mit einem Stöckchen zwei kleine Löcher in das Schneegesicht."
Daniel ist zum Erwachsenen geworden, das Kinderspiel zum Widerstand gegen die Barbarei. Später wird er andere Kinder aus dem Getto retten, und er tut es mit Hilfe von litauischen Kommunisten, aber nirgends gerät das Buch zum politischen Manifest. Es ist ein Bildungsroman ohne Bildung: Auch am Ende ist Daniel der naive Erzähler, der er am Anfang war, und während er heranwächst, bleibt er frei von allen Vorurteilen der Erziehung. Ob die litauischen Helfer jenseits der Gettomauern Kommunisten sind oder nicht, ob er auf einen dogmatischen Synagogendiener trifft oder auf einen Juden, der zum Christentum übergetreten ist: Immer sind es für ihn Menschen, denen er mit seiner eigenen, heranreifenden Menschlichkeit begegnet.
Nicht weniger eindrucksvoll als seine Erzählung ist die Entwicklung des Erzählers selbst. Als der faschistische Ortspolizist ihn vom Friedhof zu den anderen Juden in die Synagoge treibt, sieht Daniel plötzlich wieder seine verstorbene Großmutter vor sich. "Die alte Frau begleitete mich unentwegt, und ihre Anwesenheit, körperlos und unsichtbar, gewann plötzlich Gestalt." In den schweren Tagen des Gettos berät er sich ständig mit ihr, wie bei Sigmund Freud wird die Verstorbene zu seinem Über-Ich, und doch ist es anders. Bei Freud erwächst das Über-Ich aus Schuldgefühlen und wird deshalb zum "quälenden" Gewissen, das heranwachsende Kind dagegen kennt kein Schuldgefühl. Die Großmutter, im ersten Kapitel noch eine herrschsüchtige Despotin, gibt ihm jetzt die großzügigsten und tolerantesten Gedanken ein, und Kanowitsch gelingt etwas Wunderbares: Daniel ist ein Kaspar Hauser, der seine Erziehung nicht von außen erfährt, sondern von innen - im Takt seines Herzens.
Im russischen Orginal heißt der Roman "Kerzen im Wind", und unter diesem Titel erschien er 1984 erstmals in der DDR. Die Andere Bibliothek hat die damalige schöne Übersetzung von Waltraud Ahrndt unverändert übernommen, nur der Titel wurde verändert. Kanowitsch hat ein Requiem geschrieben, und im "Ewigen Sabbat" klingt etwas von der ungestörten Ruhe an, die man den Toten wünscht.
JAKOB HESSING
Grigori Kanowitsch: "Ewiger Sabbat". Roman.
Aus dem Russischen übersetzt von Waltraud Ahrndt. Die Andere Bibliothek, Berlin 2014. 606 S., geb., 38,- [Euro].
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