Diese Ausgabe der Exercitia spiritualia mit wissenschaftlicher Einführung, Textedition, Übersetzung und Kommentar eröffnet dem heutigen Leser einen je an seinen Bedürfnissen orientierten Zugang zu diesem Werk: - Die Einführung führt zu einer wesentlich neuen Sicht Gertruds als Theologin und Künstlerin. Anhand einer Strukturanalyse ermöglicht sie zugleich eine neue Sehweise ihres Werks. - Die Edition des lateinischen Originaltextes bringt gegenüber den bisherigen Editionen einen erheblich verbesserten Text – wohl die erste wirklich kritische Ausgabe der Exercitia. - Die deutsche Übersetzung unterscheidet sich von bisherigen Übersetzungen wesentlich dadurch, daß sie nicht nur den Wortlaut, sondern auch Struktur und poetische Gestaltung des Werks erfaßt. - Der Kommentar bringt vielfältige neue Einsichten in die Theologie und künstlerische Gestaltung des Werks; zugleich gibt er dem Leser Hilfen zur Lektüre, etwa in Hinblick auf eine Verwendung des Werks in der Seelsorge. - Bibelstellenverzeichnis und Register erleichtern den wissenschaftlichen Zugang zum Werk. Leseprobe: Gott habe Erbarmen mit mir, und er sage mir Segen und Heil; er lasse sein Antlitz leuchten über mich, und er habe Erbarmen mit mir. Preis und Heil sage hinwiederum ihm in aller Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit mein Herz. Vom Angesicht des Herrn werde erschüttert das Erdreich meines Herzens, und im Lebenshauch seines Mundes werde wieder erschaffen und neu gemacht der Atem meines Lebens: auf daß mich auf rechten festen Boden führe sein lebenspendender Geisthauch, der gut ist. (Exercitium I 7-12) Gott steht am Anfang, als erstes Wort. Er ist ein Gott des Erbarmens, und dieses Erbarmen schlägt die Brücke zwischen Gott und mir, dem abschließenden Wort des ersten Satzteils. Der erbarmende Gott ist ein sprechender Gott, er spricht Gutes: Segen und Heil. Sichtbar wird Gott als Licht, und zwar als Licht seines Antlitzes; das göttliche Licht ist nicht wesenloses Licht, sondern Person, und so strahlt Gottes Licht über den Menschen und erleuchtet ihn. Dies ist sein Erbarmen, und so endet der Satz, indem nun die »Brücke« von den ersten Wörtern bis hin zum Satzende reicht. Der folgende Satz zeigt die Antwort des Menschen, der das »Gutsagen« Gottes mit dem »Gutsagen« seines Herzens aufnimmt und erwidert. Dieses Herz wird Sinnbild der ganzen Erde; wie von einem Erdbeben wird es vom Angesicht Gottes erschüttert, in seiner Starre aufgebrochen, und das gelockerte Erdreich wird aufnahmebereit für den lebenspendenden Hauch Gottes, der in einem neuen Schöpfungsakt den Lebensatem des Menschen erneuert und ihn auf sichere Lebensgrundlage - auf rechten festen Boden - führt. Dreimal erscheint in diesem letzten Satz das Wort spiritus: Der göttliche Lebenshauch am Anfang und Ende des Satzes umschließt den Lebensatem des Menschen in der Satzmitte; das allerletzte Wort des Satzes und zugleich des Abschnitts - gut - weist schließlich wieder zurück auf das allererste: Gott ist gut. In nur drei Sätzen wird hier eine Theologie entwickelt, die zwar ganz aus traditionellen Elementen besteht, in engster Anlehnung an biblische und liturgische Texte, und die doch insgesamt eine revolutionäre Sehweise Gottes und des auf ihn bezogenen Menschen aufzeigt. Die Erneuerung der Taufe beginnt hier nicht mit der Absage an Sünde und Teufel, sondern einzig im Blick auf einen Gott, der barmherzig und gut ist und der den Menschen in sein Licht und seinen Lebenshauch hineinnimmt. (aus der Einführung)