Vor zwanzig Jahren hatte der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour konstatiert: »Wir sind nie modern gewesen«, und sich an einer »symmetrischen Anthropologie« jenseits der Trennung von Natur und Kultur versucht. Nun legt er sein zweites Hauptwerk vor, das dieses faszinierende Projekt mit einer »Anthropologie der Modernen« fortschreibt und den verschiedenen Existenzweisen von Wissenschaft, Technologie, Recht, Religion, Wirtschaft und Politik in der modernen Welt nachspürt. Ein großes Panorama der Modi moderner Existenz.Latour setzt für dieses Projekt bei der globalen Verflechtung aller Lebensbereiche an, die heute nicht zuletzt am Problem des Klimawandels sichtbar wird. Zugleich zeigt sich aber an diesem Problem auch, dass es verschiedene Handlungssphären gibt, die jeweils eigene Existenzweisen besitzen: Politiker, die sich mit dem Klimaproblem befassen, sind eben keine Wissenschaftler, die Klimaforschung betreiben, und Unternehmer orientieren sich zunächst an den Maßgaben der Wirtschaftlichkeit; wissenschaftliche Ergebnisse werden daher nicht einfach in politische und ökonomische Handlungen übersetzt. Dennoch sind für Latour diese verschiedenen Existenzmodi nicht unabhängig voneinander, sondern durchdringen einander und kreieren gemeinsam Probleme, die es in der Folge auch gemeinsam zu lösen gilt. Es bedarf daher einer neuen Form der »Diplomatie«, die zwischen den einzelnen Existenzweisen vermittelt. Nicht weniger als die Zukunft unseres Planeten steht auf dem Spiel und nicht weniger als eine solche diplomatische Vermittlung versucht dieses grundlegende und wegweisende Buch zu leisten. Auf dass wir endlich modern werden!
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auf die gute alte Tugend des riskanten Denkens stößt Klaus Birnstiel in Bruno Latours neuem Buch. Für den Rezensenten genau die richtige Art, die geltenden Gesellschaftsentwürfe und Wirtschaftsweisen einer Revision zu unterziehen, auch wenn das keine Kleinigkeit ist, wie Birnstiel ahnt. Umso mehr scheint ihm Latours theoretische Nonchalance und wissenschaftliche Euphorie angebracht, wenn es darum geht, ein neues politisches Modell zu entwickeln gegen die ökologische Krise. Die vom Autor unter dem Denkbild des Anthropozän und dem Schlüsselbegriff der Diplomatie vorgeschlagenen Maßnahmen scheinen dem Rezensenten trotz all ihrer theoretischen Zähigkeit, ihres endzeitlichen Pathos und der abzusehenden Schmerzhaftigkeit der Auseinandersetzung allemal bestechend und bedenkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2015In den Trümmern der Moderne
Bruno Latour schlägt Alarm und macht Vorschläge, wie wir das Überleben unserer
Gesellschaft organisieren können: Sein neues Buch „Existenzweisen“ ist ein großer Rundumschlag
VON KLAUS BIRNSTIEL
Der Ort: ein verdunkelter Konferenzraum, irgendwo in Paris. Die Zeit: unsere unmittelbare Gegenwart. Das Problem: der Klimawandel. Auf einer Tagung zur Erderwärmung streiten sich Klimaforscher und Klimaskeptiker. Die Glaubwürdigkeit ihrer Erhebungen und Einschätzungen ist das Streitthema. Im Raum aber sind nicht nur Klimatologen und Geowissenschaftler, Politiker und Konzernstrategen, sondern auch der französische Soziologe, Wissenschaftshistoriker und Philosoph Bruno Latour. Mit Verwunderung registriert er den Glaubensstreit um die Wissenschaft. Sind „Wissen“ und „Glauben“ nicht eigentlich zwei ganz verschiedene Weltverhältnisse? Wie kann es sein, dass Skeptiker den Glauben der Wissenschaft anzweifeln – und die Wissenschaft ihnen nichts entgegenzusetzen hat als die läppische Bitte um „Vertrauen“?
Die kleine Szene eröffnet Bruno Latours neues Buch, „Existenzweisen“, das „eine Anthropologie der Modernen“ verspricht – begleitet von einer Website (www.modesofexistence.org). Das Buch ist ein Rundumschlag. Nichts weniger als das moderne Denken oder besser Sein, unsere Art, Wissen zu erwerben und zu verhandeln, die technokratisch-vernünftigen Gesellschaftsentwürfe des Abendlands, die kapitalistische Wirtschaftsweise und den Ideenhaushalt des Okzidents unterzieht Latour einer Generalrevision; auch eine Theorie der „Existenzweisen“ der gegenwärtigen Zukunft soll gleich mitgeliefert werden. Kein kleines Arbeitsprogramm; Latour geht es mit der ihm eigenen Mischung aus theoretischer Nonchalance, rhetorischer Waghalsigkeit und rückhaltloser wissenschaftlicher Euphorie an, die sein Werk kennzeichnet.
Bruno Latour ist Ende der Siebzigerjahre mit Arbeiten aus dem Bereich der „science studies“ hervorgetreten – einem Forschungsfeld, das mit der deutschen Wissenschaftsgeschichte, die meist chronistisch vorgeht, nur wenig gemein hat: geht es doch gerade nicht darum, die Entwicklung der Wissenschaften als Kette von Erfolgsmeldungen zu erzählen, sondern vielmehr darum, das Zustandekommen von „Wissenschaftlichkeit“ überhaupt zu begreifen. Das Labor mit Glaskolben und Mikroskopen, Protokollen und Tabellen, aber auch Forscherinnen und Technikern, ihren Kitteln und ihren Brillen, ihren Hoffnungen und ihrer je eigenen Geschichte, all diese Elemente trug Latour zusammen, um zu erklären, was für ein fragiles Gebilde jene angeblich so objektive „Wissenschaft“ ist, an die wir moderne Menschen bei aller Skepsis dann doch immer wieder zu glauben genötigt sind. Die französische Tradition der Epistemologie mit ihren Altmeistern wie Georges Canguilhem, aber auch dem in den Sechzigerjahren hyperaktiven Michel Foucault, bot Latour hierfür ein Netz an Anknüpfungsmöglichkeiten. Die internationale Forschungswelt nahm seine ersten Würfe begierig auf. Setzten sie doch der drögen Wissenschaftsgeschichte nach alter Schule eine frische, spannungsgeladene Perspektive entgegen, in welcher sich die vermeintlichen Gewissheiten wissenschaftlicher Erkenntnis als menschengemachte Gebilde mit je eigenen Erfolgs- oder Misserfolgsaussichten entpuppten.
Doch sind es nicht nur die Menschen des Labors, sondern auch die Dinge, die Apparate und Prozeduren, derer sich Latour annahm. Sein soziologischer wie philosophischer Grundgedanke lautet seither, dass die Welt eben nicht mit Dingen vollgestellt und von Menschen bevölkert ist, die diese Dinge nach eigenem Gutdünken hin- und herschieben, sondern dass wir alle Teil eines „Akteurnetzwerks“ sind, in welchem wir Spielzüge vollziehen – oder andere Akteure mit uns als Figuren spielen. Diese Akteure wiederum sind für Latour nicht nur Menschen, sondern auch das Wetter oder das Klima, der Boden, die Maschinen, die Tiere, und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Institutionen.
Latour hält es nicht für sinnvoll, Menschen und nichtmenschliche Akteure in der Analyse auseinanderzuhalten, wie es Philosophie, Geschichte und Soziologie seit Anbeginn der Neuzeit getan haben. Im Gegenteil: Alles erscheint ihm immer schon miteinander verwoben, und ohne diese Verwobenheit in den Blick zu nehmen, lässt sich über die je unterschiedlichen Lebensweise unter modernen Vorzeichen rein gar nichts sagen. Was zunächst klingt wie eine große Portion Heidegger („In-der-Welt-Sein“) mit einem Schuss Foucault („Prozeduren der Macht“) und einer Prise Ökologie („Erde“, oder neuerdings: „Gaia“) obendrauf und daherkam als ein Generalangriff auf die technizistischen und formalistischen Protokolle der akademischen Soziologie, ist heute als
„Akteurnetzwerktheorie“ ein wichtiger Bestandteil des Fachgesprächs. Unter anderem auch als Gegenentwurf zu der kristallinen Kälte der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung lesbar, besticht Latours Denken gerade dadurch, den Dingen in der Welt ihre Komplexität und Schwere zurückzugeben, welche sich in konstruktivistischen Theorien allzu oft verflüchtigt.
Auch in seinem neuen Buch zieht Latour gegen die Autosuggestionen der Moderne, zu Felde. Diesmal aber geht es ihm weniger um eine Wiederholung seiner bekannten These von der Vernetztheit aller Dinge und Akteure, sondern um die Entwicklung eines neuen politischen Modells im Angesicht der ökologischen Krise. Latour versteht sich als Anhänger des Denkbilds vom „Anthropozän“, jener geogeschichtlichen Generalthese also, dass der Mensch seit Beginn der Industrialisierung zum entscheidenden Faktor der erdgeschichtlichen Entwicklung geworden sei. Treibhausgase und Klimawandel verändern das Leben auf dem Planeten grundlegend. „Gaia“ aber, wie Latour die „Erde“ als Akteurin nennt, wird zurückschlagen – und der Hybris der Modernen ein Ende setzen.
Latour schlägt Alarm und ruft zu Gegenmaßnahmen auf, für die er zwei Schlüsselbegriffe konturiert: den der „Institution“, und den der „Diplomatie“. „Die Institutionen haben keine andere Rechtfertigung, als die Werte zu sammeln; ohne unterhaltene und geschätzte Institutionen kann nur der Fundamentalismus triumphieren.“ Es sind dies bemerkenswerte Sätze für einen ehedem als Bilderstürmer des Wissenschaftsbetriebs bekannt gewordenen Soziologen. Doch sind sie Ausdruck des Bemühens um einen möglichst unfallfreien Auszug aus dem einstürzenden Haus der Moderne. Latour exploriert Bereiche wie das Recht oder die Religion und versucht, deren jeweiligen Seinsmodus, ihre Art, sich gesellschaftlich fortzubewegen, anschaulich zu machen. Als Reisebegleiterin stellt er uns eine junge Forscherin an die Seite, die als Ethnografin auszieht, um nichts weniger als jene „Anthropologie der Modernen“ zu schreiben, die Latour selbst uns verspricht.
Die verfremdende Geste hat einigen theoretischen wie ästhetischen Reiz. Indem Latour zugleich die Selbstverständlichkeiten des institutionellen Gefüges lockert und seine Bindungen hinterfragt, ohne dabei aber das Eigenrecht der jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsfelder zu bestreiten, ist es ihm möglich, die Werte der jeweiligen Institutionen genauer zu bestimmen – um sodann die Frage zu stellen, wie diese in eine neue Konstellation hinübergerettet werden können. Was ihm vorschwebt, ist eine planetare „Diplomatie“, in welcher die Modalitäten unseres Daseins zwischen Recht und Religion, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur neu ausgehandelt werden. Staaten oder internationale Organisationen sind darin nur eine Gruppe von Akteuren unter vielen anderen, und im Gegensatz zu manch rechtsrheinischem Kollegen träumt Latour nicht von einer kosmopolitischen Weltregierung, sondern insistiert auf die Brutalität, die Schmerzhaftigkeit und die Zähigkeit der anstehenden Auseinandersetzung.
Auf eine Form konkreter politischer Haptik aber verzichtet Latour. Mal ist die Rede vom Recht, mal vom Labor und mal von der Politik, von der Anthropologie und von der Erde, doch bewegt sich Latours Begriffsakrobatik in derart luftdünner Höhe, dass es mitunter schwer ist, darunter die beständig beschworene „Praxis“ auszumachen, um die es ihm doch geht.
Die ökologische Bedrohung unserer Lebensgrundlagen ist für ihn so weit fortgeschritten, dass es nicht mehr darum gehen kann, die Katastrophe noch abwenden zu wollen. Die Gegenwart ist vielmehr vor die Aufgabe gestellt, aus den Trümmern der Moderne ein neues, robusteres Zivilisationsmodell zu entwickeln, das ein Weiterleben nach der Katastrophe ermöglichen soll. Latours Unterfangen durchweht darum ein endzeitliches Pathos, dessen melancholische Apokalyptik nur noch wenig gemein hat mit den ästhetischen Provokationen der Endzeitprediger der „Postmoderne“. Latour sieht sich – und uns – tatsächlich in den Moment des sich vollziehenden Weltuntergangs gestellt. Schon zeichnen sich die Konturen einer neuen Existenzweise ab, in welcher der Ökologie aus Überlebensnotwendigkeit heraus gebührender Platz zukommt, der Westen nicht mehr ausschließlich die Geschicke des Planeten bestimmt und der Mensch seinen Rang als „Krone der Schöpfung“ zugunsten einer realistischeren Einschätzung seiner Möglichkeiten und Grenzen abgibt.
Latours Buch enthält eine Fülle bemerkenswerter Einsichten und Gedanken, von Miniaturen und großen Erzählungen. Die begriffliche wie argumentative Esoterik macht es indes nicht leicht, aus diesem Stein, den der ein oder andere Kritiker sicherheitshalber gleich zum „Hauptwerk“ erklärt hat, Funken zu schlagen. Doch hat man sich einmal von Latour davon überzeugen lassen, nicht mehr vorwärts in die Wellen der Katastrophe der ganz späten Moderne zu reiten, sondern sich gleichsam seitwärts auf ihrer Schaumkrone zu bewegen, haben seinen Exerzitien etwas Bestechendes. Erlauben sie es doch, der Resignation der Ökopaxe und dem Zynismus der Funktionsträger eine gute alte abendländische Tugend entgegenzuhalten – die Tugend des riskanten Denkens.
Es geht um ein neues
politisches Modell im Angesicht
der ökologischen Krise
Latour sieht sich und uns in den
Moment des sich vollziehenden
Weltuntergangs gestellt
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 665 Seiten, 39,95 Euro. E-Book 34,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bruno Latour schlägt Alarm und macht Vorschläge, wie wir das Überleben unserer
Gesellschaft organisieren können: Sein neues Buch „Existenzweisen“ ist ein großer Rundumschlag
VON KLAUS BIRNSTIEL
Der Ort: ein verdunkelter Konferenzraum, irgendwo in Paris. Die Zeit: unsere unmittelbare Gegenwart. Das Problem: der Klimawandel. Auf einer Tagung zur Erderwärmung streiten sich Klimaforscher und Klimaskeptiker. Die Glaubwürdigkeit ihrer Erhebungen und Einschätzungen ist das Streitthema. Im Raum aber sind nicht nur Klimatologen und Geowissenschaftler, Politiker und Konzernstrategen, sondern auch der französische Soziologe, Wissenschaftshistoriker und Philosoph Bruno Latour. Mit Verwunderung registriert er den Glaubensstreit um die Wissenschaft. Sind „Wissen“ und „Glauben“ nicht eigentlich zwei ganz verschiedene Weltverhältnisse? Wie kann es sein, dass Skeptiker den Glauben der Wissenschaft anzweifeln – und die Wissenschaft ihnen nichts entgegenzusetzen hat als die läppische Bitte um „Vertrauen“?
Die kleine Szene eröffnet Bruno Latours neues Buch, „Existenzweisen“, das „eine Anthropologie der Modernen“ verspricht – begleitet von einer Website (www.modesofexistence.org). Das Buch ist ein Rundumschlag. Nichts weniger als das moderne Denken oder besser Sein, unsere Art, Wissen zu erwerben und zu verhandeln, die technokratisch-vernünftigen Gesellschaftsentwürfe des Abendlands, die kapitalistische Wirtschaftsweise und den Ideenhaushalt des Okzidents unterzieht Latour einer Generalrevision; auch eine Theorie der „Existenzweisen“ der gegenwärtigen Zukunft soll gleich mitgeliefert werden. Kein kleines Arbeitsprogramm; Latour geht es mit der ihm eigenen Mischung aus theoretischer Nonchalance, rhetorischer Waghalsigkeit und rückhaltloser wissenschaftlicher Euphorie an, die sein Werk kennzeichnet.
Bruno Latour ist Ende der Siebzigerjahre mit Arbeiten aus dem Bereich der „science studies“ hervorgetreten – einem Forschungsfeld, das mit der deutschen Wissenschaftsgeschichte, die meist chronistisch vorgeht, nur wenig gemein hat: geht es doch gerade nicht darum, die Entwicklung der Wissenschaften als Kette von Erfolgsmeldungen zu erzählen, sondern vielmehr darum, das Zustandekommen von „Wissenschaftlichkeit“ überhaupt zu begreifen. Das Labor mit Glaskolben und Mikroskopen, Protokollen und Tabellen, aber auch Forscherinnen und Technikern, ihren Kitteln und ihren Brillen, ihren Hoffnungen und ihrer je eigenen Geschichte, all diese Elemente trug Latour zusammen, um zu erklären, was für ein fragiles Gebilde jene angeblich so objektive „Wissenschaft“ ist, an die wir moderne Menschen bei aller Skepsis dann doch immer wieder zu glauben genötigt sind. Die französische Tradition der Epistemologie mit ihren Altmeistern wie Georges Canguilhem, aber auch dem in den Sechzigerjahren hyperaktiven Michel Foucault, bot Latour hierfür ein Netz an Anknüpfungsmöglichkeiten. Die internationale Forschungswelt nahm seine ersten Würfe begierig auf. Setzten sie doch der drögen Wissenschaftsgeschichte nach alter Schule eine frische, spannungsgeladene Perspektive entgegen, in welcher sich die vermeintlichen Gewissheiten wissenschaftlicher Erkenntnis als menschengemachte Gebilde mit je eigenen Erfolgs- oder Misserfolgsaussichten entpuppten.
Doch sind es nicht nur die Menschen des Labors, sondern auch die Dinge, die Apparate und Prozeduren, derer sich Latour annahm. Sein soziologischer wie philosophischer Grundgedanke lautet seither, dass die Welt eben nicht mit Dingen vollgestellt und von Menschen bevölkert ist, die diese Dinge nach eigenem Gutdünken hin- und herschieben, sondern dass wir alle Teil eines „Akteurnetzwerks“ sind, in welchem wir Spielzüge vollziehen – oder andere Akteure mit uns als Figuren spielen. Diese Akteure wiederum sind für Latour nicht nur Menschen, sondern auch das Wetter oder das Klima, der Boden, die Maschinen, die Tiere, und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Institutionen.
Latour hält es nicht für sinnvoll, Menschen und nichtmenschliche Akteure in der Analyse auseinanderzuhalten, wie es Philosophie, Geschichte und Soziologie seit Anbeginn der Neuzeit getan haben. Im Gegenteil: Alles erscheint ihm immer schon miteinander verwoben, und ohne diese Verwobenheit in den Blick zu nehmen, lässt sich über die je unterschiedlichen Lebensweise unter modernen Vorzeichen rein gar nichts sagen. Was zunächst klingt wie eine große Portion Heidegger („In-der-Welt-Sein“) mit einem Schuss Foucault („Prozeduren der Macht“) und einer Prise Ökologie („Erde“, oder neuerdings: „Gaia“) obendrauf und daherkam als ein Generalangriff auf die technizistischen und formalistischen Protokolle der akademischen Soziologie, ist heute als
„Akteurnetzwerktheorie“ ein wichtiger Bestandteil des Fachgesprächs. Unter anderem auch als Gegenentwurf zu der kristallinen Kälte der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung lesbar, besticht Latours Denken gerade dadurch, den Dingen in der Welt ihre Komplexität und Schwere zurückzugeben, welche sich in konstruktivistischen Theorien allzu oft verflüchtigt.
Auch in seinem neuen Buch zieht Latour gegen die Autosuggestionen der Moderne, zu Felde. Diesmal aber geht es ihm weniger um eine Wiederholung seiner bekannten These von der Vernetztheit aller Dinge und Akteure, sondern um die Entwicklung eines neuen politischen Modells im Angesicht der ökologischen Krise. Latour versteht sich als Anhänger des Denkbilds vom „Anthropozän“, jener geogeschichtlichen Generalthese also, dass der Mensch seit Beginn der Industrialisierung zum entscheidenden Faktor der erdgeschichtlichen Entwicklung geworden sei. Treibhausgase und Klimawandel verändern das Leben auf dem Planeten grundlegend. „Gaia“ aber, wie Latour die „Erde“ als Akteurin nennt, wird zurückschlagen – und der Hybris der Modernen ein Ende setzen.
Latour schlägt Alarm und ruft zu Gegenmaßnahmen auf, für die er zwei Schlüsselbegriffe konturiert: den der „Institution“, und den der „Diplomatie“. „Die Institutionen haben keine andere Rechtfertigung, als die Werte zu sammeln; ohne unterhaltene und geschätzte Institutionen kann nur der Fundamentalismus triumphieren.“ Es sind dies bemerkenswerte Sätze für einen ehedem als Bilderstürmer des Wissenschaftsbetriebs bekannt gewordenen Soziologen. Doch sind sie Ausdruck des Bemühens um einen möglichst unfallfreien Auszug aus dem einstürzenden Haus der Moderne. Latour exploriert Bereiche wie das Recht oder die Religion und versucht, deren jeweiligen Seinsmodus, ihre Art, sich gesellschaftlich fortzubewegen, anschaulich zu machen. Als Reisebegleiterin stellt er uns eine junge Forscherin an die Seite, die als Ethnografin auszieht, um nichts weniger als jene „Anthropologie der Modernen“ zu schreiben, die Latour selbst uns verspricht.
Die verfremdende Geste hat einigen theoretischen wie ästhetischen Reiz. Indem Latour zugleich die Selbstverständlichkeiten des institutionellen Gefüges lockert und seine Bindungen hinterfragt, ohne dabei aber das Eigenrecht der jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsfelder zu bestreiten, ist es ihm möglich, die Werte der jeweiligen Institutionen genauer zu bestimmen – um sodann die Frage zu stellen, wie diese in eine neue Konstellation hinübergerettet werden können. Was ihm vorschwebt, ist eine planetare „Diplomatie“, in welcher die Modalitäten unseres Daseins zwischen Recht und Religion, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur neu ausgehandelt werden. Staaten oder internationale Organisationen sind darin nur eine Gruppe von Akteuren unter vielen anderen, und im Gegensatz zu manch rechtsrheinischem Kollegen träumt Latour nicht von einer kosmopolitischen Weltregierung, sondern insistiert auf die Brutalität, die Schmerzhaftigkeit und die Zähigkeit der anstehenden Auseinandersetzung.
Auf eine Form konkreter politischer Haptik aber verzichtet Latour. Mal ist die Rede vom Recht, mal vom Labor und mal von der Politik, von der Anthropologie und von der Erde, doch bewegt sich Latours Begriffsakrobatik in derart luftdünner Höhe, dass es mitunter schwer ist, darunter die beständig beschworene „Praxis“ auszumachen, um die es ihm doch geht.
Die ökologische Bedrohung unserer Lebensgrundlagen ist für ihn so weit fortgeschritten, dass es nicht mehr darum gehen kann, die Katastrophe noch abwenden zu wollen. Die Gegenwart ist vielmehr vor die Aufgabe gestellt, aus den Trümmern der Moderne ein neues, robusteres Zivilisationsmodell zu entwickeln, das ein Weiterleben nach der Katastrophe ermöglichen soll. Latours Unterfangen durchweht darum ein endzeitliches Pathos, dessen melancholische Apokalyptik nur noch wenig gemein hat mit den ästhetischen Provokationen der Endzeitprediger der „Postmoderne“. Latour sieht sich – und uns – tatsächlich in den Moment des sich vollziehenden Weltuntergangs gestellt. Schon zeichnen sich die Konturen einer neuen Existenzweise ab, in welcher der Ökologie aus Überlebensnotwendigkeit heraus gebührender Platz zukommt, der Westen nicht mehr ausschließlich die Geschicke des Planeten bestimmt und der Mensch seinen Rang als „Krone der Schöpfung“ zugunsten einer realistischeren Einschätzung seiner Möglichkeiten und Grenzen abgibt.
Latours Buch enthält eine Fülle bemerkenswerter Einsichten und Gedanken, von Miniaturen und großen Erzählungen. Die begriffliche wie argumentative Esoterik macht es indes nicht leicht, aus diesem Stein, den der ein oder andere Kritiker sicherheitshalber gleich zum „Hauptwerk“ erklärt hat, Funken zu schlagen. Doch hat man sich einmal von Latour davon überzeugen lassen, nicht mehr vorwärts in die Wellen der Katastrophe der ganz späten Moderne zu reiten, sondern sich gleichsam seitwärts auf ihrer Schaumkrone zu bewegen, haben seinen Exerzitien etwas Bestechendes. Erlauben sie es doch, der Resignation der Ökopaxe und dem Zynismus der Funktionsträger eine gute alte abendländische Tugend entgegenzuhalten – die Tugend des riskanten Denkens.
Es geht um ein neues
politisches Modell im Angesicht
der ökologischen Krise
Latour sieht sich und uns in den
Moment des sich vollziehenden
Weltuntergangs gestellt
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 665 Seiten, 39,95 Euro. E-Book 34,99 Euro.
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»Latours Buch enthält eine Fülle bemerkenswerter Einsichten und Gedanken, von Miniaturen und großen Erzählungen.« Klaus Birnstiel Süddeutsche Zeitung 20150205