Looks at how people from the world's poorest societies struggle to migrate to the rich West: the effects on those left behind and on the host societies, and explores the impulses and thinking that inform Western immigration policy.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2014Europa duckt sich beim Thema Einwanderung bloß weg
Die Probleme mit den weltweiten Migrationsströmen wachsen: Paul Collier plädiert für eine neue Politik und lenkt den Blick auf die gegenwärtigen Verlierer.
Sein Großvater hieß Karl Hellenschmidt, er war ein mustergültiger, bescheiden erfolgreicher Einwanderer. Was ihm wenig nützte, als der Krieg 1914 ausbrach und er von Nationalisten zum "feindlichen Ausländer" erklärt und interniert wurde. Zwanzig Jahre später bricht wieder ein Krieg aus. "Karl Hellenschmidt jr. passt sich an und ändert seinen Namen: Er wird zu Charles Collier." Der Großvater hatte das arme Ernsbach in Deutschland verlassen, ging nach Bradford, damals eine der wohlhabendsten Städte Europas. Das hat sich inzwischen umgekehrt. Dafür kommt heute der einzige Unterhausabgeordnete der islamistischen Respect Party aus Bradford. Karl Hellenschmidt war, schreibt sein Enkel, der Archetyp des modernen Migranten.
So beginnt Paul Collier seine mutige Streitschrift für eine andere Einwanderungspolitik. Der angesehene Ökonom aus Oxford ist kein Polemiker, der sich mal zu sagen traut, was vermeintlich verboten ist. Aber über Tabus schreibt er schon, denn damit sei eine vernünftige Auseinandersetzung mit dem Phänomen der großen Einwanderungsströme aus armen Ländern in reichere belegt. Collier ist Wissenschaftler und will überzeugen; seine Befunde, gewonnen aus vielen sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und moralphilosophischen Studien zum Thema Einwanderung, nennt er oft zurückhaltend "Annahmen", weil es die große, zusammenführende Makroanalyse zu Nutzen und Schäden der weltweiten Migration nicht gibt. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass sie gebraucht wird, gerade für Europa.
Ein anfangs großer Exodus aus einem Land oder einer Region ist nicht wiedergutzumachen - auch wenn das im erregten Schlagabtausch über Flüchtlingswellen und zunehmende Armutseinwanderung (eine andere gibt es nicht) immer wieder aus dem Blick gerät. Die Leidtragenden sind vor allem arme Länder, deren Sozialmodelle dann noch schlechter funktionieren, deren Korruption mit noch weniger Widerstand rechnen muss. Und in den Zielländern wachsen die Diasporagemeinden, was die Verschmelzung mit der Mehrheitsgesellschaft verlangsamt und nicht selten, wenn der kulturelle Abstand zwischen Einwanderern und Einheimischen groß ist, stagnieren lässt.
Würde Migration abnehmen, wenn es armen Ländern besserginge? Wenn Ärzte in Sudan mehr verdienten oder die Arbeiterinnen in den Textilfabriken von Bangladesch? Paul Collier sagt: Nein. Denn die Einkommenskluft zwischen den wohlhabenden Zielstaaten und der "untersten Milliarde" bliebe bestehen. Auswanderung, sagt Collier, wird von vielen als Investition für ein gutes Leben betrachtet. Und wenn es sich mehr leisten können, weil es mehr Menschen etwas bessergeht und die Reisekosten sinken, wandern mehr aus. In Europa, warnt Collier, wird das zu großen Problemen führen, weil es hier nirgendwo ein klares Konzept mit eindeutigen, akzeptierten Regeln gibt, nur viele kurzschlüssige Reaktionen: Mal wird die Tür weiter aufgemacht, mal weniger. Collier bringt viele Belege für die Komplexität des Themas, die akademische Diskussion ergänzt er ab und an mit Geschichten aus dem wirklichen Leben, "erhellenden Geschehnissen" zum besseren Verständnis dafür, wie sich unser Alltag im Guten wie im Schlechten verändert hat. Selbst wenn man seinen immer sehr vorsichtigen Schlussfolgerungen nicht folgen will, müsste die Lektüre dieses Buches jeden von der Vision heilen, hier brauche es bloß einen einmaligen Kraftakt der reichen Länder.
Collier hofft, mit seinen Überlegungen die dringend notwendigen Forschungen anzuregen und vielleicht sogar eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, die eine rationale Basis und das Wohl aller - der Migranten, der Zurückgebliebenen und der Aufnahmegesellschaften - im Blick hat. Kein anderes Feld der Politik sei derart unübersichtlich, sagt er und vermutet zu Recht, dass die Irrtümer der Migrationspolitik "auf eine giftige Mischung aus aufgestachelten Gefühlen und verbreitetem Unwissen zurückzuführen sind". Colliers Spezialgebiet seit Jahrzehnten sind die Gesellschaften Afrikas; mit seinem Buch "Die unterste Milliarde" über die Ursachen der Armut in scheiternden Staaten wurde er bekannt. Seine größte Empathie gilt jenen, die er die Zurückgebliebenen nennt. Warum sie im großen Spiel um Lebensglück und Wohlstand die Nettoverlierer sind und eine Obergrenze der Migration helfen kann, begründet Collier ausführlich und aus verschiedenen Perspektiven.
Der Verlust von Fachkräften und Gebildeten - Migration kann sich nicht jeder leisten, die Mittelschicht aber schon - wirft arme Länder immer wieder zurück, nicht nur ökonomisch. Ist es wirklich ein Ausdruck von Weltoffenheit, wenn in London mehr sudanesische Ärzte praktizieren als im armen Sudan? Wenn bulgarische oder rumänische Ärzte und Pflegekräfte die Lücken in deutschen oder französischen Krankenhäusern schließen - aber dort, wo sie herkommen, Pflegenotstand herrscht und sich das ohnehin schon bestehende Ungleichgewicht noch verstärkt? Auch um das zu ändern, muss Einwanderung anders geregelt werden.
Die Auswanderer, heißt es oft, seien ein Wirtschaftsfaktor für die armen Länder. Doch liest man die von Collier zusammengetragenen Fakten, relativiert sich diese Behauptung. Die sogenannten Rücküberweisungen der Ausgewanderten, global immerhin 400 Milliarden Dollar im Jahr, machen im Einzelnen tatsächlich nicht mehr als sechs bis höchstens zehn Prozent der Familienbudgets aus. Sie ersetzten also, so Collier, bestenfalls gerade mal den Verlust an Produktivkraft.
Auch die von Liberalen und Verfechtern des multikulturellen Nebeneinanders verklärte Vielfalt hat ihre Schattenseiten. Für die Zurückgebliebenen ist sie ein Verlustposten, in den Zielländern aber kann sie den Zusammenhalt der Gesellschaften empfindlich untergraben. Colliers Befund, aus vielen Studien zusammengefasst: Die Einwanderung von vielen kulturell fernen Menschen, die überproportional im Niedriglohnsektor arbeiten, schwäche nicht nur ein gemeinsames Identitätsgefühl, sondern auch akzeptierte Normen und Werte wie die gegenseitige Rücksichtnahme, die soziale Kooperation, die Umverteilungsbereitschaft - zivilisatorische Errungenschaften Europas, das seinen Wohlstand vor allem seinen differenzierten Sozialmodellen verdanke.
Steigt die Bereitschaft der Erfolgreichen, sich um jene zu bemühen, die es weniger gut getroffen haben, wenn die Migrationsrate steigt? Eher nicht, glaubt Collier, auch wenn es in Europa nicht vorstellbar ist, dass es zu einem "Steuerstreik" der Bessergestellten wie in Kalifornien kommt. Der hatte zur Folge, dass der öffentliche Dienst und vor allem das Schulwesen eines der reichsten Bundesstaaten abstürzten. Aber auch in Großbritannien stimmten 2012 nur noch 28 Prozent der Briten einer Erhöhung der Sozialausgaben zu. 1991 war es noch mehr als die Hälfte - dazwischen lagen Jahre mit starker Einwanderung und immer größeren, sich zunehmend abschottenden Auslandsgemeinden. Das könne man ändern, doch die Politik muss das wollen.
Ausführlich beschreibt Collier die Facetten des Phänomens der großen Einwanderung und ihre Folgen für die demokratischen Wohlfahrtsstaaten. Gefährlich nennt er die Weigerung, sich diesem Thema zu stellen, es stattdessen den extremen Rechten zu überlassen, darüber zu räsonieren. Die Migrationspolitik in Europa sei desaströs und ungerecht. Wie gelangt man nach Europa, dem Sehnsuchtsziel von Millionen Menschen? Legal ist es schwierig, es fehlt ein auf Qualifikation basierendes Punktesystem, wie es Kanada oder Australien haben, oder ein Losverfahren wie die amerikanische Green Card, was allemal gerechter die Chancen verteilen würde als die heutigen Nichtregeln. Zudem schaffen solche Verfahren Vertrauen, weil sie durchschaubar sind und auf Bildung setzen. Ganz im Gegenteil dazu das hochentwickelte Europa, das gering Qualifizierte anzieht, was die Sozialsysteme schwer belastet. Europas Einwanderung speist sich zu einem großen Teil aus dem Familiennachzug, mit allen Nachteilen wie Zwangs- oder arrangierte Ehen und großer Abhängigkeit vom aufnehmenden Clan.
Der Rest sind illegale Wege. Es ist nicht nur paradox, sondern verrückt, dass jeder, der sein Leben auf dem Mittelmeer riskiert - für nicht unerhebliche Summen, die er dafür zuvor bezahlt hat -, sobald er einen Fuß auf europäischen Boden setzt, Asyl beantragen kann und damit bessergestellt ist als seine Landsleute zu Hause. Menschenschmuggel hat derweil Konjunktur, weil es keine geregelte Einwanderung gibt und kaum abgeschoben wird. Es sei schon fast beleidigend, schreibt Collier, wie viele Staaten von Gerichten als unzumutbar angesehen würden.
Schon allein diese illegalen Wege, die dazu geführt haben, dass sich ein hochgefährlicher und brutaler Zweig der organisierten Kriminalität in ganz Europa etabliert hat, liefern alle Gründe für eine geregelte Einwanderung mit klaren Chancen und deutlichen Grenzen. Sie würde zudem das Asylrecht entlasten, das von enormer humanitärer Bedeutung ist.
REGINA MÖNCH.
Paul Collier: "Exodus". Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Siedler Verlag, München 2014. 320 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Probleme mit den weltweiten Migrationsströmen wachsen: Paul Collier plädiert für eine neue Politik und lenkt den Blick auf die gegenwärtigen Verlierer.
Sein Großvater hieß Karl Hellenschmidt, er war ein mustergültiger, bescheiden erfolgreicher Einwanderer. Was ihm wenig nützte, als der Krieg 1914 ausbrach und er von Nationalisten zum "feindlichen Ausländer" erklärt und interniert wurde. Zwanzig Jahre später bricht wieder ein Krieg aus. "Karl Hellenschmidt jr. passt sich an und ändert seinen Namen: Er wird zu Charles Collier." Der Großvater hatte das arme Ernsbach in Deutschland verlassen, ging nach Bradford, damals eine der wohlhabendsten Städte Europas. Das hat sich inzwischen umgekehrt. Dafür kommt heute der einzige Unterhausabgeordnete der islamistischen Respect Party aus Bradford. Karl Hellenschmidt war, schreibt sein Enkel, der Archetyp des modernen Migranten.
So beginnt Paul Collier seine mutige Streitschrift für eine andere Einwanderungspolitik. Der angesehene Ökonom aus Oxford ist kein Polemiker, der sich mal zu sagen traut, was vermeintlich verboten ist. Aber über Tabus schreibt er schon, denn damit sei eine vernünftige Auseinandersetzung mit dem Phänomen der großen Einwanderungsströme aus armen Ländern in reichere belegt. Collier ist Wissenschaftler und will überzeugen; seine Befunde, gewonnen aus vielen sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und moralphilosophischen Studien zum Thema Einwanderung, nennt er oft zurückhaltend "Annahmen", weil es die große, zusammenführende Makroanalyse zu Nutzen und Schäden der weltweiten Migration nicht gibt. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass sie gebraucht wird, gerade für Europa.
Ein anfangs großer Exodus aus einem Land oder einer Region ist nicht wiedergutzumachen - auch wenn das im erregten Schlagabtausch über Flüchtlingswellen und zunehmende Armutseinwanderung (eine andere gibt es nicht) immer wieder aus dem Blick gerät. Die Leidtragenden sind vor allem arme Länder, deren Sozialmodelle dann noch schlechter funktionieren, deren Korruption mit noch weniger Widerstand rechnen muss. Und in den Zielländern wachsen die Diasporagemeinden, was die Verschmelzung mit der Mehrheitsgesellschaft verlangsamt und nicht selten, wenn der kulturelle Abstand zwischen Einwanderern und Einheimischen groß ist, stagnieren lässt.
Würde Migration abnehmen, wenn es armen Ländern besserginge? Wenn Ärzte in Sudan mehr verdienten oder die Arbeiterinnen in den Textilfabriken von Bangladesch? Paul Collier sagt: Nein. Denn die Einkommenskluft zwischen den wohlhabenden Zielstaaten und der "untersten Milliarde" bliebe bestehen. Auswanderung, sagt Collier, wird von vielen als Investition für ein gutes Leben betrachtet. Und wenn es sich mehr leisten können, weil es mehr Menschen etwas bessergeht und die Reisekosten sinken, wandern mehr aus. In Europa, warnt Collier, wird das zu großen Problemen führen, weil es hier nirgendwo ein klares Konzept mit eindeutigen, akzeptierten Regeln gibt, nur viele kurzschlüssige Reaktionen: Mal wird die Tür weiter aufgemacht, mal weniger. Collier bringt viele Belege für die Komplexität des Themas, die akademische Diskussion ergänzt er ab und an mit Geschichten aus dem wirklichen Leben, "erhellenden Geschehnissen" zum besseren Verständnis dafür, wie sich unser Alltag im Guten wie im Schlechten verändert hat. Selbst wenn man seinen immer sehr vorsichtigen Schlussfolgerungen nicht folgen will, müsste die Lektüre dieses Buches jeden von der Vision heilen, hier brauche es bloß einen einmaligen Kraftakt der reichen Länder.
Collier hofft, mit seinen Überlegungen die dringend notwendigen Forschungen anzuregen und vielleicht sogar eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, die eine rationale Basis und das Wohl aller - der Migranten, der Zurückgebliebenen und der Aufnahmegesellschaften - im Blick hat. Kein anderes Feld der Politik sei derart unübersichtlich, sagt er und vermutet zu Recht, dass die Irrtümer der Migrationspolitik "auf eine giftige Mischung aus aufgestachelten Gefühlen und verbreitetem Unwissen zurückzuführen sind". Colliers Spezialgebiet seit Jahrzehnten sind die Gesellschaften Afrikas; mit seinem Buch "Die unterste Milliarde" über die Ursachen der Armut in scheiternden Staaten wurde er bekannt. Seine größte Empathie gilt jenen, die er die Zurückgebliebenen nennt. Warum sie im großen Spiel um Lebensglück und Wohlstand die Nettoverlierer sind und eine Obergrenze der Migration helfen kann, begründet Collier ausführlich und aus verschiedenen Perspektiven.
Der Verlust von Fachkräften und Gebildeten - Migration kann sich nicht jeder leisten, die Mittelschicht aber schon - wirft arme Länder immer wieder zurück, nicht nur ökonomisch. Ist es wirklich ein Ausdruck von Weltoffenheit, wenn in London mehr sudanesische Ärzte praktizieren als im armen Sudan? Wenn bulgarische oder rumänische Ärzte und Pflegekräfte die Lücken in deutschen oder französischen Krankenhäusern schließen - aber dort, wo sie herkommen, Pflegenotstand herrscht und sich das ohnehin schon bestehende Ungleichgewicht noch verstärkt? Auch um das zu ändern, muss Einwanderung anders geregelt werden.
Die Auswanderer, heißt es oft, seien ein Wirtschaftsfaktor für die armen Länder. Doch liest man die von Collier zusammengetragenen Fakten, relativiert sich diese Behauptung. Die sogenannten Rücküberweisungen der Ausgewanderten, global immerhin 400 Milliarden Dollar im Jahr, machen im Einzelnen tatsächlich nicht mehr als sechs bis höchstens zehn Prozent der Familienbudgets aus. Sie ersetzten also, so Collier, bestenfalls gerade mal den Verlust an Produktivkraft.
Auch die von Liberalen und Verfechtern des multikulturellen Nebeneinanders verklärte Vielfalt hat ihre Schattenseiten. Für die Zurückgebliebenen ist sie ein Verlustposten, in den Zielländern aber kann sie den Zusammenhalt der Gesellschaften empfindlich untergraben. Colliers Befund, aus vielen Studien zusammengefasst: Die Einwanderung von vielen kulturell fernen Menschen, die überproportional im Niedriglohnsektor arbeiten, schwäche nicht nur ein gemeinsames Identitätsgefühl, sondern auch akzeptierte Normen und Werte wie die gegenseitige Rücksichtnahme, die soziale Kooperation, die Umverteilungsbereitschaft - zivilisatorische Errungenschaften Europas, das seinen Wohlstand vor allem seinen differenzierten Sozialmodellen verdanke.
Steigt die Bereitschaft der Erfolgreichen, sich um jene zu bemühen, die es weniger gut getroffen haben, wenn die Migrationsrate steigt? Eher nicht, glaubt Collier, auch wenn es in Europa nicht vorstellbar ist, dass es zu einem "Steuerstreik" der Bessergestellten wie in Kalifornien kommt. Der hatte zur Folge, dass der öffentliche Dienst und vor allem das Schulwesen eines der reichsten Bundesstaaten abstürzten. Aber auch in Großbritannien stimmten 2012 nur noch 28 Prozent der Briten einer Erhöhung der Sozialausgaben zu. 1991 war es noch mehr als die Hälfte - dazwischen lagen Jahre mit starker Einwanderung und immer größeren, sich zunehmend abschottenden Auslandsgemeinden. Das könne man ändern, doch die Politik muss das wollen.
Ausführlich beschreibt Collier die Facetten des Phänomens der großen Einwanderung und ihre Folgen für die demokratischen Wohlfahrtsstaaten. Gefährlich nennt er die Weigerung, sich diesem Thema zu stellen, es stattdessen den extremen Rechten zu überlassen, darüber zu räsonieren. Die Migrationspolitik in Europa sei desaströs und ungerecht. Wie gelangt man nach Europa, dem Sehnsuchtsziel von Millionen Menschen? Legal ist es schwierig, es fehlt ein auf Qualifikation basierendes Punktesystem, wie es Kanada oder Australien haben, oder ein Losverfahren wie die amerikanische Green Card, was allemal gerechter die Chancen verteilen würde als die heutigen Nichtregeln. Zudem schaffen solche Verfahren Vertrauen, weil sie durchschaubar sind und auf Bildung setzen. Ganz im Gegenteil dazu das hochentwickelte Europa, das gering Qualifizierte anzieht, was die Sozialsysteme schwer belastet. Europas Einwanderung speist sich zu einem großen Teil aus dem Familiennachzug, mit allen Nachteilen wie Zwangs- oder arrangierte Ehen und großer Abhängigkeit vom aufnehmenden Clan.
Der Rest sind illegale Wege. Es ist nicht nur paradox, sondern verrückt, dass jeder, der sein Leben auf dem Mittelmeer riskiert - für nicht unerhebliche Summen, die er dafür zuvor bezahlt hat -, sobald er einen Fuß auf europäischen Boden setzt, Asyl beantragen kann und damit bessergestellt ist als seine Landsleute zu Hause. Menschenschmuggel hat derweil Konjunktur, weil es keine geregelte Einwanderung gibt und kaum abgeschoben wird. Es sei schon fast beleidigend, schreibt Collier, wie viele Staaten von Gerichten als unzumutbar angesehen würden.
Schon allein diese illegalen Wege, die dazu geführt haben, dass sich ein hochgefährlicher und brutaler Zweig der organisierten Kriminalität in ganz Europa etabliert hat, liefern alle Gründe für eine geregelte Einwanderung mit klaren Chancen und deutlichen Grenzen. Sie würde zudem das Asylrecht entlasten, das von enormer humanitärer Bedeutung ist.
REGINA MÖNCH.
Paul Collier: "Exodus". Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Siedler Verlag, München 2014. 320 S., geb., 22,99 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Vom gesellschaftlichen Vertrauen -
wie Paul Collier die Migration sieht
Der Oxforder Armutsforscher Paul Collier hat ein nüchternes Buch zu Migration geschrieben, das auch der lesen sollte, der die Aufnahme von Flüchtlingen nicht als Maßnahme der Migrationspolitik versteht. Für Collier sind die Wanderungsströme Folge globaler ökonomischer Ungleichgewichte, die in einigen Jahrzehnten überwunden sein werden. Bis dahin sind Nutzen und Nachteile für beide Seiten abzuwägen, für die Herkunftsgesellschaften und die Zielländer der Wanderungen. Es sei wie beim Essen, sagt Collier: Es geht nicht ums Ob, sondern ums Wieviel.
Einwanderung kann den reichen Gesellschaften nützen, solange sie deren öffentliche Güter nicht in Gefahr bringt. Dazu zählt Collier an erster Stelle das gesellschaftliche Vertrauen, ein Gefühl von Gemeinschaft, ohne das eine arbeitsteilige Wirtschaft ebenso wenig existieren kann wie der Rechts- und Sozialstaat mit seinen Sicherungs- und Transferleistungen. Zu große Gruppen nicht absorbierter Fremder bedrohen das „Clubgut“ des kooperativen Vertrauens auch unter den Einheimischen, sie erschweren die Aufnahme der Neuen in den Club der Mehrheitsgesellschaft. Dabei versucht sich Collier in tabellarischen Modellen, die Migrationsraten und Absorptionraten in mathematische Verhältnisse setzen. Die ökonomischen Effekte auf die Zielländer hält Collier für überschätzt, aber insgesamt für leicht positiv.
Die Auswanderungsländer gewinnen durch Rückflüsse des nach Hause überwiesenen Geldes, oft auch durch die Bildungstransfers bei Heimkehr und durch den Ansporn bei den Zurückgebliebenen, sich ihrerseits zu ertüchtigen. Doch bedroht Auswanderung die armen Gesellschaften auch durch den Verlust der Besten. Gerade wer Armut langfristig bekämpfen will, könne, so Collier, nicht für unbegrenzte Migration sein. „Daher kann man die Migration nicht der individuellen Entscheidung der Migranten überlassen; sie muss von den Staaten gesteuert werden.“ Der britische Wissenschaftler ist Enkel deutscher Migranten; die derzeitige Politik Deutschlands sieht er skeptisch.
GUSTAV SEIBT
Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Aus d. Englischen v. Klaus-Dieter Schmidt. Pantheon Verlag, München 2016. 320 S., 14,99 Euro.
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Vom gesellschaftlichen Vertrauen -
wie Paul Collier die Migration sieht
Der Oxforder Armutsforscher Paul Collier hat ein nüchternes Buch zu Migration geschrieben, das auch der lesen sollte, der die Aufnahme von Flüchtlingen nicht als Maßnahme der Migrationspolitik versteht. Für Collier sind die Wanderungsströme Folge globaler ökonomischer Ungleichgewichte, die in einigen Jahrzehnten überwunden sein werden. Bis dahin sind Nutzen und Nachteile für beide Seiten abzuwägen, für die Herkunftsgesellschaften und die Zielländer der Wanderungen. Es sei wie beim Essen, sagt Collier: Es geht nicht ums Ob, sondern ums Wieviel.
Einwanderung kann den reichen Gesellschaften nützen, solange sie deren öffentliche Güter nicht in Gefahr bringt. Dazu zählt Collier an erster Stelle das gesellschaftliche Vertrauen, ein Gefühl von Gemeinschaft, ohne das eine arbeitsteilige Wirtschaft ebenso wenig existieren kann wie der Rechts- und Sozialstaat mit seinen Sicherungs- und Transferleistungen. Zu große Gruppen nicht absorbierter Fremder bedrohen das „Clubgut“ des kooperativen Vertrauens auch unter den Einheimischen, sie erschweren die Aufnahme der Neuen in den Club der Mehrheitsgesellschaft. Dabei versucht sich Collier in tabellarischen Modellen, die Migrationsraten und Absorptionraten in mathematische Verhältnisse setzen. Die ökonomischen Effekte auf die Zielländer hält Collier für überschätzt, aber insgesamt für leicht positiv.
Die Auswanderungsländer gewinnen durch Rückflüsse des nach Hause überwiesenen Geldes, oft auch durch die Bildungstransfers bei Heimkehr und durch den Ansporn bei den Zurückgebliebenen, sich ihrerseits zu ertüchtigen. Doch bedroht Auswanderung die armen Gesellschaften auch durch den Verlust der Besten. Gerade wer Armut langfristig bekämpfen will, könne, so Collier, nicht für unbegrenzte Migration sein. „Daher kann man die Migration nicht der individuellen Entscheidung der Migranten überlassen; sie muss von den Staaten gesteuert werden.“ Der britische Wissenschaftler ist Enkel deutscher Migranten; die derzeitige Politik Deutschlands sieht er skeptisch.
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Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Aus d. Englischen v. Klaus-Dieter Schmidt. Pantheon Verlag, München 2016. 320 S., 14,99 Euro.
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