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Der Autor schreibt in diesem Buch über zentrale Werke Goethes: Über die italienische Reise, die Wahlverwandtschaften, den West-östlichen Divan, die Novelle, Wilhelm Meisters Wanderjahre und den Faust. Die Betrachtungen Goethe und seine Deutsche und Goethe für den Hausgebrauch rahmen die Interpretation ein.

Produktbeschreibung
Der Autor schreibt in diesem Buch über zentrale Werke Goethes: Über die italienische Reise, die Wahlverwandtschaften, den West-östlichen Divan, die Novelle, Wilhelm Meisters Wanderjahre und den Faust. Die Betrachtungen Goethe und seine Deutsche und Goethe für den Hausgebrauch rahmen die Interpretation ein.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.1999

Kolonien des inneren Afrika
Seelenreise ohne Gepäck: Gerhard Schulz erklärt das Goethe-Gefühl

Unwirsch hat Goethe mit Blick auf den "Faust" gegenüber Eckermann die Vorstellung zurückgewiesen, es sei als Dichter seine Absicht gewesen, "nach der Verkörperung von etwas Abstraktem zu streben". Der in seiner deutschen Leserschaft grassierende Wunsch, in seinen Dichtungen die Verkörperung von Ideen erkennen zu wollen, ist ihm als Ausdruck einer besonderen Verzagtheit erschienen: der Mutlosigkeit nämlich, sich ganz demjenigen hinzugeben, was er das "Incommensurabele" nannte, also dem in keinem Begriff aufgehenden Phänomen, dem Besonderen, Einmaligen, Unvergleichlichen, das die menschliche Erkenntnis transzendiert und nur von der Poesie erfaßt werden kann: "Ei! So habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassen, Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermuthigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!"

Da verteidigte am Ende der Kunstperiode der größte Dichter seiner Zeit das Eigenrecht der Poesie gegen jene Gebildeten unter seinen Verehrern, die ihr das Verstörende, Beglückende und Irritierende dadurch auszutreiben trachteten, daß sie es der Macht des Begriffs unterwarfen. Wenn der späte Goethe mehr und mehr darauf insistierte, die Domäne der Dichtung sei das "Incommensurabele", so ging es ihm um deren Rettung auch vor jener technischen und ökonomischen Vernunft, die das Weltganze zu unterwerfen sich anschickte: "Vielmehr bin ich der Meinung, je incommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Production, desto besser."

Dieser Satz aus den Gesprächen mit Eckermann bildet gleichsam die dichtungstheoretische Leitmaxime von Gerhard Schulz' Goethe-Studien. Schulz versteht Dichtung als "Produkt äußerster Subjektivität"; schon deshalb kann sie sich nicht darin erschöpfen, Ideen zu illustrieren. Schulz' Goethe-Lektüren zielen darauf, das Bewußtsein für das "Incommensurabele" der Goetheschen Dichtungen zu schärfen, und deshalb befreit er sie aus dem Zugriff der ideen- und gesellschaftsgeschichtlichen Begriffssysteme. Wer in "Faust" ein Drama des Fortschritts und damit in Mephisto ein Werkzeug der Hegelschen Dialektik erblicken will, wird von Schulz' heiterer Skepsis darauf aufmerksam gemacht, daß es "in der Sphäre der Unendlichkeit", aus der Mephisto stammt, "keinen Fortschritt" gebe. Ein Begriff wie "Menschheitsdrama" für den "Faust" ist Schulz viel zu anspruchsvoll. Er greift statt dessen lieber auf ein Wort des späten Goethe zurück, der aus Anlaß seines "Faust" gesagt hat, so viel sich auch geschichtlich ändern möge, es bleibe "doch meistens der Menschenzustand in Freud und Leid sich gleich", so daß es auch für spätere Leser noch manche Ursache gebe, sich danach umzusehen, was vor ihnen "genossen und gelitten" worden sei.

Dichtung liest Gerhard Schulz in diesem Sinne vor allem als Darstellung des "Menschenzustands", der Conditio humana. Zu ihr gehört vor allem auch das Besondere der individuellen Empfindung, und gerade auf diesem Gebiet besitzt der Dichter, wie Goethe selbst es gesehen hat, eine besondere Zuständigkeit: "Die Region der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die Zustände und Leidenschaften der Seele heißen, ist dem Dichter angeboren, und ihre Darstellung gelingt ihm." Diesem Dichter ist sie tatsächlich wie keinem anderen vor ihm gelungen, und wenn seine Dichtungen "für den Verstand unfaßlich" bleiben, dann gerade aus diesem Grunde. Auch deshalb widmet sich Schulz in seinen Studien mit Vorliebe den Goetheschen Entdeckungen im Reich der Gefühle.

Dabei macht er klar, daß es durchaus realhistorische Gründe für die einzigartige Entfaltung einer literarischen Gefühlskultur im Werk Goethes gab. Die Deutschen waren diejenigen unter den europäischen Nationen, die keine Kolonien besaßen. Ihre Entdeckungsreisen führten in das Innere der Seele. In diesem dunklen lockenden Kontinent entdeckt das Goethesche Werk jene "Exotik der Gefühle", die das Leitthema von Schulz' Buch bildet. Sie entfaltet sich, wie er in eindringlichen Textanalysen zeigt, zum Beispiel in den "Wahlverwandtschaften" im Tagebuch der Ottilie, das von der Faszination des Exotischen kündet ("Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören"), um dann doch wieder in die Irrungen und Wirrungen des eigenen Seelenhaushalts zurückzulenken: "Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind."

Aber Ottilie wandelt eben auch nicht ungestraft durch den heimischen englischen Garten, wo es durchaus keiner Elefanten und Tiger bedarf, um die Seelenruhe zu verlieren. Ohnehin droht ja, wie Schulz an der späten "Novelle" zeigt, in der Moderne den Menschen weniger von wilden Tieren, von Löwe und Tiger, Gefahr, als von ihrer "inneren Exotik", von der Anarchie der Gefühle und der "Lust der Versuchung". Daß Goethe bei seiner Erkundung des "Menschenzustands" die Sphäre des Erotischen mit, wie Schulz sagt, "gesteigerter Sensibilität" ausleuchtet, wird im übrigen jedem Leser von Goethes Lyrik plausibel sein.

Wenn Goethes dichterische Einbildungskraft im "West-östlichen Divan" tatsächlich in exotische Bereiche ausgreift, dann unterscheidet sich sein Orientalismus dennoch grundsätzlich von demjenigen der Nationen mit Kolonialbesitz; nicht um die Imagination des Verlockend-Anderen und Bunt-Bedrohlichen geht es hier, sondern um die poetische Vergegenwärtigung von "Einheit, Weltkenntnis und Weltbild als Wunschziel", das der eigenen zerrissenen Gegenwart entgegengesetzt wird. Es ist dies also eine Dichtung, die so in Paris oder London nicht hätte entstehen können. Was, so fragt Schulz einleitend in einem längeren Gedankenspiel, wäre Goethe geworden, wenn er nicht in Frankfurt und Weimar, sondern in London gelebt hätte - Goethe, der so sehr Partikularist war, daß er noch unter die "Quintessenzen" der Auswanderer in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" den Satz fügte: "Wir fürchten uns vor einer Hauptstadt." Natürlich läßt sich diese Frage nicht beantworten, aber sie hilft, "das spezifisch deutsche Spannungsfeld zwischen politischer Kleinstaaterei und intellektueller Universalität" zu erkennen, in dem sich das Einmalige und Besondere von Goethes Persönlichkeit und Werk entfalteten. Innerhalb dieses Spannungsfelds entwickelte sich Goethe, wie Schulz zeigt, zu dem "klassischen Nationalautor" der Deutschen, der "in einem Umfang und einer Intensität wie kein anderer deutscher Autor seinen Deutschen zu einem Bewußtsein über sich selbst verholfen" habe - mit poetischen Großgebilden wie dem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" und mit literarischer Kleinmeisterei wie seinen zahllosen Spruchdichtungen; beidem widmet Schulz gründliche Studien. Damit Goethe zum "Nationalautor" der Deutschen werden konnte, bedurfte es allerdings, wie Schulz betont, des Umwegs der Italienischen Reise. Erst der Aufenthalt in der Fremde lehrte ihn, die Beschränkungen der eigenen Lebensbedingungen und damit auch die Exotik des Eigenen zu erkennen. Wie lehrreich es sein kann, von außen auf das Eigene zu blicken, zeigt aufs schönste auch dieses Goethe-Buch eines deutschen Germanisten, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Melbourne lehrte, unbelästigt von jenen akademischen Moden, die manchen seiner deutschen Kollegen dort weiterhin nach Ideen suchen ließen, wo er der auffälligsten Phänomene hätte teilhaftig werden können. Elegant und pointensicher gibt Gerhard Schulz mit nie erlöschender Neugier auf poetische Vergegenwärtigungen der Menschenzustände neue Einblicke in die Dichtungen eines "Nationalautors", zu dessen wesentlichen Eigenheiten "Internationalität als kritische Perspektive für seine Reflexion auf die Deutschheit" gehört. Darin nun freilich kommen der Dichter und sein Interpret aufs trefflichste überein. ERNST OSTERKAMP

Gerhard Schulz: "Exotik der Gefühle". Goethe und seine Deutschen. Verlag C. H. Beck, München 1998. 223 Seiten, geb., 48,- DM.

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