Das Experten Menschen "wie du und ich wären", fällt schwer zu glauben. Hätten sie sonst diesen Titel überhaupt verdient? In den Augen des Laien haftet ihnen etwas Extremes an; denn wer die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf die Spitze treibt, gilt zwar als unentbehrlich, doch zugleich ist und bleibt er ein Außenseiter.Gabriele Goettle hat über dreißig Vertreter dieser scheuen Spezies zum Reden gebracht. Man erfährt viel über das eigentümliche Amalgam aus Funktionsweise und Privatleben, das den Experten auszeichnet, aber auch über das Feld, daser beackert und das Pfund, mit dem er wuchert.
Den ausgewiesenen Fachmann, dem niemand etwas vormachen kann, gibt es auf allen sozialen Etagen, vom Plasmaphysiker bis zum Kanalarbeiter; und während der Spezialist für die Herstellung von Schneekugeln beinah anachronistisch anmutet, macht sich der Hirnforscher auf den Weg in eine unbekannte Zukunft. Der Bombenentschärfer weiß manches, von dem der Religionsphilosoph keine Ahnung hat, und umgekehrt. Ein Rohrpostmeister wird sich mit einem Topologen nicht leicht verständigen können, und die Ärztin aus dem Schlachthof bewundert vielleicht den Zauberer, der sich seinerseits schwer vorstellen kann, daß ein anderer sein Berufsleben ganz und gar den Maden widmet.Auch gibt es nicht nur in der Linguistik, sondern auch unter den Huren Expertinnen, denen so leicht keiner das Wasser reicht.
Berühmte und Unbekannte - Gabriele Goettle hat sie alle besucht und uns Zugang verschafft zu allerhand Geheimwissen, das in den Synapsen unserer Gesellschaft floriert, und zu denen, die es hüten.
Den ausgewiesenen Fachmann, dem niemand etwas vormachen kann, gibt es auf allen sozialen Etagen, vom Plasmaphysiker bis zum Kanalarbeiter; und während der Spezialist für die Herstellung von Schneekugeln beinah anachronistisch anmutet, macht sich der Hirnforscher auf den Weg in eine unbekannte Zukunft. Der Bombenentschärfer weiß manches, von dem der Religionsphilosoph keine Ahnung hat, und umgekehrt. Ein Rohrpostmeister wird sich mit einem Topologen nicht leicht verständigen können, und die Ärztin aus dem Schlachthof bewundert vielleicht den Zauberer, der sich seinerseits schwer vorstellen kann, daß ein anderer sein Berufsleben ganz und gar den Maden widmet.Auch gibt es nicht nur in der Linguistik, sondern auch unter den Huren Expertinnen, denen so leicht keiner das Wasser reicht.
Berühmte und Unbekannte - Gabriele Goettle hat sie alle besucht und uns Zugang verschafft zu allerhand Geheimwissen, das in den Synapsen unserer Gesellschaft floriert, und zu denen, die es hüten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005After Eight beim Schuhmacher
Gabriele Goettles wunderbare Reportagen über Experten
Als magischer Wissenshüter ist der Experte längst von der Bildfläche verschwunden. Vom Fernsehen ernannte Grippe-Experten, Nahost-Experten oder Satanismus-Experten haben ihm jedes Geheimnis ausgetrieben. Ganz gegen diesen Trend legt die Journalistin Gabriele Goettle in einem wunderbaren Reportagenband den Erfahrungskern wieder frei, der im lateinischen Terminus des Experten steckt. Sie stellt zweiunddreißig besondere Spezialisten vor. Berufe wie "Schlachthofveterinärin" oder "Biowaffenexperte" tauchen eben nicht in den ganzseitigen Werbeanzeigen der Fernschulen auf, die ja ansonsten von der "Feng-Shui-Beratung" bis zur "Bausanierung" jedes Tätigkeitsfeld anbieten.
Besonderer Applaus gebührt der Journalistin für die Rettung des zu Unrecht verfemten Genres der Homestory. Denn die Autorin besucht ihre Hauptdarsteller sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Privatwohnung. Das Checklisten-Verfahren von Klatschreportern, die standardmäßig die Quadratmetergröße der Wohnung angeben und die Badezimmer durchzählen, ist nicht Goettles Fall - doch aus ihrer vorsichtigen Neugier für private Details und Fragen des Lebensstils macht sie keinen Hehl. "Im geräumigen Flur liegt unvermutet ein Gartenzwerg", heißt es über das Domizil des namhaften Einstein-Forschers. Und daß die Genfer Prostituierte, von Goettle in ihrer Stadtwohnung besucht, dreiundachtzig Franken Hundesteuer für ihre Chihuahuas bezahlt, trägt ebenso zur gelungenen Charakteristik bei wie der Zigarettentöter auf dem Tisch des vom alten Kakanien geprägten Psychoanalytikers oder die After-Eight-Täfelchen im Wintergarten des orthopädischen Schuhmachers.
In der Summe speichern diese eingesammelten Requisiten oft die Grundstimmung einer Existenz. Und nicht selten fängt Goettle mit der Instinktsicherheit eines Mediums die unterschwelligen Dissonanzen einer Biographie ein, ohne sie dreist auszuforschen. Selbst dort, wo die Meisterschaft - wie beim Mathematiker, der aus schierem Versehen stets die linke Schulter hängen läßt - durch Lebensfremdheit erkauft scheint, wahrt Goettle den Respekt vor ihren Gastgebern. Sei es die Zärtlichkeit, mit welcher der Topologe an einem verbeulten Fußball den Eulerschen Satz erklärt, sei es der Ernst, mit welchem der Tierpräparator gegen das bei Kunden beliebte, aber zutiefst unrealistische Klischee des zähnebleckenden Steinmarders ankämpft - immer zeigt Goettle größte Bewunderung für jene Konzentrate der Erfahrung.
Fast alle Wissensräume, die Goettle auf ihren Dienstreisen zusammen mit der Fotografin Elisabeth Kmölniger erkundet, sind kleine Mikrokosmen. Sagenumwobene Orte wie das Schweizer Kernforschungszentrum Cern erreicht sie mit dem Bus Nr. 9 vom Bahnhof Genf aus, um in der Kantine mit einem Teilchenphysiker über die unvorstellbar kurze "Planckzeit" zu plaudern oder im Labor die Sektflaschen zu bestaunen, die geöffnet wurden, "als wir zum ersten Mal die Antiprotonen eingefangen haben". Und das Rätsel der Rohrpost, die wir nur aus dem Puppenstudio der Kinderserie "Hallo Spencer" kennen, wird durch Goettles Reportage über den Rohrpostmeister der Berliner Charité endlich gelüftet - ein Wundermedium, das im Gegensatz zu Fax und E-Mail nicht nur Informationen, sondern auch Material wie Röntgenbilder oder Urinproben transportiert.
Goettles thematische Vorliebe gilt dem verborgenen und verzweigten Wissen, von den pneumatischen Röhren der Rohrpost über das via Hochleitung aus Alpenquellen gespeiste Wiener Trinkwassernetz bis hin zu den neuronalen Netzwerken des Gehirns. Sie behandelt die für schwache Naturen unverdaulichen Kenntnisse der Gerichtsmediziner ebenso leichthändig und anregend wie die unappetitlichen Kenntnisse der BSE-Fachleute. Zu den ausgefallensten Szenen gehört die Begegnung mit dem inzwischen verstorbenen Kulturkritiker Ivan Illich, welcher der Autorin am Rande eines Berliner Kongresses kurzerhand Aluminiumfolie und Kerze in die Hand drückte, um die von seiner Krankheit verursachten Schmerzen mit Opiumrauch zu verjagen und Goettle damit ein fast schon archetypisches Bild entrückter Weisheit zu überlassen.
Alles programmatische Geschwätz von Wissensgesellschaft, Kompetenznetzwerken und Know-how verblaßt hinter diesen Studien über die seltsame Poesie des Wissens. Man erfährt aus dem spannenden Buch mehr über entlegene Sachgebiete als aus jedem Wissensmagazin. Und nicht zuletzt behält man das beruhigende Gefühl zurück, daß es Menschen gibt, bei denen all jenes Wissen, das man selbst niemals erringen wird und zum Glück auch gar nicht muß, in guten Händen liegt.
ANDREAS ROSENFELDER
Gabriele Goettle: "Experten". Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Die Andere Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Band 236. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 440 S., geb., 29,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gabriele Goettles wunderbare Reportagen über Experten
Als magischer Wissenshüter ist der Experte längst von der Bildfläche verschwunden. Vom Fernsehen ernannte Grippe-Experten, Nahost-Experten oder Satanismus-Experten haben ihm jedes Geheimnis ausgetrieben. Ganz gegen diesen Trend legt die Journalistin Gabriele Goettle in einem wunderbaren Reportagenband den Erfahrungskern wieder frei, der im lateinischen Terminus des Experten steckt. Sie stellt zweiunddreißig besondere Spezialisten vor. Berufe wie "Schlachthofveterinärin" oder "Biowaffenexperte" tauchen eben nicht in den ganzseitigen Werbeanzeigen der Fernschulen auf, die ja ansonsten von der "Feng-Shui-Beratung" bis zur "Bausanierung" jedes Tätigkeitsfeld anbieten.
Besonderer Applaus gebührt der Journalistin für die Rettung des zu Unrecht verfemten Genres der Homestory. Denn die Autorin besucht ihre Hauptdarsteller sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Privatwohnung. Das Checklisten-Verfahren von Klatschreportern, die standardmäßig die Quadratmetergröße der Wohnung angeben und die Badezimmer durchzählen, ist nicht Goettles Fall - doch aus ihrer vorsichtigen Neugier für private Details und Fragen des Lebensstils macht sie keinen Hehl. "Im geräumigen Flur liegt unvermutet ein Gartenzwerg", heißt es über das Domizil des namhaften Einstein-Forschers. Und daß die Genfer Prostituierte, von Goettle in ihrer Stadtwohnung besucht, dreiundachtzig Franken Hundesteuer für ihre Chihuahuas bezahlt, trägt ebenso zur gelungenen Charakteristik bei wie der Zigarettentöter auf dem Tisch des vom alten Kakanien geprägten Psychoanalytikers oder die After-Eight-Täfelchen im Wintergarten des orthopädischen Schuhmachers.
In der Summe speichern diese eingesammelten Requisiten oft die Grundstimmung einer Existenz. Und nicht selten fängt Goettle mit der Instinktsicherheit eines Mediums die unterschwelligen Dissonanzen einer Biographie ein, ohne sie dreist auszuforschen. Selbst dort, wo die Meisterschaft - wie beim Mathematiker, der aus schierem Versehen stets die linke Schulter hängen läßt - durch Lebensfremdheit erkauft scheint, wahrt Goettle den Respekt vor ihren Gastgebern. Sei es die Zärtlichkeit, mit welcher der Topologe an einem verbeulten Fußball den Eulerschen Satz erklärt, sei es der Ernst, mit welchem der Tierpräparator gegen das bei Kunden beliebte, aber zutiefst unrealistische Klischee des zähnebleckenden Steinmarders ankämpft - immer zeigt Goettle größte Bewunderung für jene Konzentrate der Erfahrung.
Fast alle Wissensräume, die Goettle auf ihren Dienstreisen zusammen mit der Fotografin Elisabeth Kmölniger erkundet, sind kleine Mikrokosmen. Sagenumwobene Orte wie das Schweizer Kernforschungszentrum Cern erreicht sie mit dem Bus Nr. 9 vom Bahnhof Genf aus, um in der Kantine mit einem Teilchenphysiker über die unvorstellbar kurze "Planckzeit" zu plaudern oder im Labor die Sektflaschen zu bestaunen, die geöffnet wurden, "als wir zum ersten Mal die Antiprotonen eingefangen haben". Und das Rätsel der Rohrpost, die wir nur aus dem Puppenstudio der Kinderserie "Hallo Spencer" kennen, wird durch Goettles Reportage über den Rohrpostmeister der Berliner Charité endlich gelüftet - ein Wundermedium, das im Gegensatz zu Fax und E-Mail nicht nur Informationen, sondern auch Material wie Röntgenbilder oder Urinproben transportiert.
Goettles thematische Vorliebe gilt dem verborgenen und verzweigten Wissen, von den pneumatischen Röhren der Rohrpost über das via Hochleitung aus Alpenquellen gespeiste Wiener Trinkwassernetz bis hin zu den neuronalen Netzwerken des Gehirns. Sie behandelt die für schwache Naturen unverdaulichen Kenntnisse der Gerichtsmediziner ebenso leichthändig und anregend wie die unappetitlichen Kenntnisse der BSE-Fachleute. Zu den ausgefallensten Szenen gehört die Begegnung mit dem inzwischen verstorbenen Kulturkritiker Ivan Illich, welcher der Autorin am Rande eines Berliner Kongresses kurzerhand Aluminiumfolie und Kerze in die Hand drückte, um die von seiner Krankheit verursachten Schmerzen mit Opiumrauch zu verjagen und Goettle damit ein fast schon archetypisches Bild entrückter Weisheit zu überlassen.
Alles programmatische Geschwätz von Wissensgesellschaft, Kompetenznetzwerken und Know-how verblaßt hinter diesen Studien über die seltsame Poesie des Wissens. Man erfährt aus dem spannenden Buch mehr über entlegene Sachgebiete als aus jedem Wissensmagazin. Und nicht zuletzt behält man das beruhigende Gefühl zurück, daß es Menschen gibt, bei denen all jenes Wissen, das man selbst niemals erringen wird und zum Glück auch gar nicht muß, in guten Händen liegt.
ANDREAS ROSENFELDER
Gabriele Goettle: "Experten". Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Die Andere Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Band 236. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 440 S., geb., 29,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Julia Encke schätzt Gabriele Goettle, die in ihrem Reportagenband Experten verschiedenster Fachrichtungen interviewt und vorstellt, selbst als "Expertin", die als "Spezialistin in Sachen Deutschland- und Menschenkunde" seit 15 Jahren in der taz schreibt. Die Rezensentin hätte gern gewusst, wie es Goettle gelungen ist, ihre Interviewpartner zu Gesprächen zu motivieren und wie viele sich wohl gänzlich ihren Fragen verweigert haben, denn es scheint sich bei ihren Experten um eine insgesamt eher "scheue Spezies" zu handeln, wie sie anmerkt. Encke begeistert das Undramatische, mit denen die Autorin Menschen so verschiedener Berufe wie Veterinärmediziner, Kanalarbeiter oder Schneekugelhersteller vorstellt, wobei sie in ihren Interviews stets vom "Allgemeinen zum Besonderen" und vom "Beruflichen zum Privaten" übergeht, wie die Rezensentin erklärt. Am Ende einer jeden Reportage hat man tatsächlich den Eindruck, "jemanden kennen gelernt zu haben", schwärmt Encke und es beeindruckt sie besonders, dass es Goettle gelingt, auch noch das "Tabuisierte, Abseitige, Komplizierte und Ungeheuerliche" leicht fassbar zu machen, wie sie beispielsweise bei ihrem Porträt des Gerichtsmediziners Mark Benecke demonstriert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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