Ob Sindbad der Seefahrer, Superman, Don Juan oder Alice im Wunderland: Literarische Heldinnen und Helden haben zahlreiche Abenteuer zu bestehen, die sie klug und welterfahren machen. Sie werden damit zu inspirierenden Begleiter:innen, die uns immer wieder neue Antworten geben auf die großen Fragen des Lebens. Dank Alberto Manguel entdecken wir die Weltliteratur neu.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2022Monogamie ist hier fehl am Platze
Eine Liebeserklärung ans Lesen, verpackt in ein Bestiarium liebens- und lesenswertester literarischer Figuren: Alberto Manguels "Fabelhafte Wesen".
Im "Tagebuch eines Lesers" notierte der argentinisch-französisch-kanadisch-portugiesische, ach was, sagen wir einfach: Weltbürger Alberto Manguel vor achtzehn Jahren den Titel eines möglichen Essays: "Die Bibliothek als Doppelgänger". Eigentlich aber gibt es den längst, denn Manguel schreibt bereits seit dem Welterfolg seiner 1996 erschienenen "Geschichte des Lesens" daran, nur eben in einem zwar essayistisch formulierten, aber im Ganzen enzyklopädischen Werk, das mittlerweile ein rundes Dutzend weiterer Bücher über das Leben mit Büchern umfasst, das einen zum Büchermenschen macht. Das jüngste, 2019 auf Englisch in den Vereinigten Staaten erschienen und nun für Manguels Verhältnisse spät (aber dazu später mehr) ins Deutsche übersetzt, heißt "Fabelhafte Wesen", und es vereint einmal mehr die Stärken dieses Autors: Begeisterung, Zugänglichkeit, Witz.
Wobei es sein erstes Buch in Form eines Lexikons geworden ist. Versammelt sind darin in enigmatischer Reihenfolge - nicht chronologisch, alphabetisch oder thematisch - 37 literarische Figuren. Die wollen hier nicht als rhetorische verstanden werden, sondern es handelt sich buchstäblich um Fabelwesen: Protagonisten aus (meist) phantastischen Erzählungen, die literaturgeschichtlich vom biblischen Jona (der auch den umfangreichsten Eintrag oder sagen wir ruhig Essay bekommt) bis zur 1938 erstmals aufgetretenen Comicfigur Superman reichen. Mit letzterem schließt Manguel übrigens eine Lücke in seinen autobiographischen Lektüreerkundungen: Er hat seine Comicliebe lange verschwiegen, obwohl er diese Gattung schon 1960 als Zwölfjähriger bei einem sechsmonatigen Aufenthalt in Baltimore ins Herz schloss, als "das größte Wunder aller amerikanischen Wunder".
Spätere Lebensmittelpunkte Manguels umfassten dann neben seinem Heimatland Argentinien England, Frankreich, Italien, die Vereinigten Staaten und Kanada - alles comicaffine Kulturen. Als er dann 2020 nach Lissabon umzog, wo Manguels legendäre Privatbibliothek von der Stadt ein eigenes Palais eingerichtet bekommt, das 2024 eröffnet werden soll, war er seit einem mehrjährigen Aufenthalt in Tahiti erstmals wieder mit einem betreffs Comics eher fremdelnden Land konfrontiert. Bei einer kürzlichen Begegnung erzählte er, dass das sein Interesse an ihnen eher noch verstärkt habe. Wer weiß, ob es neben Superman nicht auch Leselieblinge wie Little Nemo oder Krazy Kat - "Borges", so hat er einmal erklärt, "hat mir beigebracht, dass Literatur eine Liebeserfahrung ist, die keine Monogamie verlangt" - in "Fabelhafte Wesen" geschafft hätten, wenn das Buch in Portugal verfasst worden wäre.
Es ist Manguels erste Publikation beim Diogenes Verlag, nachdem er jahrzehntelang Autor des Verlags S. Fischer war, der sich aber für dieses neue Buch nicht mehr interessiert habe, wie er berichtet. Mit Diogenes ist er aber auch deshalb bei einer guten neuen Adresse gelandet, weil sich in "Fabelhafte Wesen" noch eine weitere unbekannte Leidenschaft Manguels erstmals artikuliert: das Zeichnen. Jeder Figur ist eine kleine Federzeichnung des Verfassers beigegeben, und deren Stil steht in der Tradition solcher Diogenes-Hauszeichner wie Edward Gorey, Saul Steinberg oder Ronald Searle. Manguel ist damit übrigens dann am überzeugendsten, wenn es keine allgemein bekannten Illustrationen zu seinen Gegenständen gibt. Sein Superman, Dracula, Rotkäppchen sehen eher aus wie ungelenke Knabenübungen, und gegen John Tenniels Zeichnungen zu Lewis Carrolls "Alice"-Büchern kommt Manguels reizendes Mädchenbildnis auch nicht an. Seine Lilith dagegen ist eine ebenso originelle zeichnerische Deutung des mit der ersten Frau Adams verbundenen Mythos wie die Vignette zur Figur des Sandmönchs aus dem chinesischen Epos "Reise in den Westen", die gar nichts Orientalisierendes hat, sondern ein subtiles Charakterbild bietet. Hinreißend auch seine Visualisierungen von George Eliots Casaubon oder der hierzulande unbekannten Dona Emilia aus den brasilianischen Kinderbüchern von Monteiro Lobato.
Überhaupt sind Figuren aus Kinder- und Jugendlektüren stark vertreten in Manguels Auswahl. Natürlich sind dabei auch wieder die Grimm'schen Märchen präsent, die ihm sein deutsch-tschechisches Kindermädchen nahegebracht hatte - nahezu in jedem Buch kommt Manguel auf dieses prägende Erlebnis seiner Kindheit zurück. Mit Goethes "Faust" ist noch eine weitere deutsche Konstante in seiner Lesebiographie vertreten, eine eher erwachsene. Aber die interessanteren persönlichen Einblicke gestatten ohnehin die Figurenfaszinationen des Erwachsenen, so etwa die für den ihm erst in späten Jahren zum Herzensautor gewordenen Dante: Obwohl niemand aus der "Commedia" einzeln gewürdigt wird, ist Dante präsent. Und selbstverständlich auch der blinde Borges, dem Manguel als junger Mann in Buenos Aires vorgelesen hat. Aus dieser erzählenden Verbundenheit entstand eine biographische Nähe, die darin gipfelte, dass Manguel für einige Jahre Nachfolger von Borges als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek wurde. Beider Leben bestand immer aus Büchern, aus Büchermenschen und aus Bücherfiguren: "Zuhause, das war ein Ort in meinen Geschichten, zwischen den Buchdeckeln, mit seinen Buchstaben darin", schreibt Manguel im Vorwort zu "Fabelhafte Wesen".
Und danach beginnt er die Liste seiner Buchwohngemeinschaftsgenossen ausgerechnet mit einer Figur, zu der er ausführt: "In Monsieur Bovarys Welt ist einfach kein Platz für Fiktion." Er hätte auch einfach schreiben können: "Monsieur Bovary, ce n'est pas moi." Und dennoch widmet er diesem Stiefkind der Literaturgeschichte und der Lesergunst ein tief sympathisierendes Porträt. Wie all den hier gewürdigten Fabelwesen, selbst Satan. Den er allerdings in Wittenberg zu Luthers Wurfziel werden lässt statt - wie es richtig gewesen wäre - auf der Wartburg. ANDREAS PLATTHAUS
Alberto Manguel:
"Fabelhafte Wesen". Dracula, Alice, Superman und andere literarische Freunde.
Aus dem Englischen von Achim Stanislawski. Diogenes Verlag, Zürich 2022. 255 S., 37 Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Liebeserklärung ans Lesen, verpackt in ein Bestiarium liebens- und lesenswertester literarischer Figuren: Alberto Manguels "Fabelhafte Wesen".
Im "Tagebuch eines Lesers" notierte der argentinisch-französisch-kanadisch-portugiesische, ach was, sagen wir einfach: Weltbürger Alberto Manguel vor achtzehn Jahren den Titel eines möglichen Essays: "Die Bibliothek als Doppelgänger". Eigentlich aber gibt es den längst, denn Manguel schreibt bereits seit dem Welterfolg seiner 1996 erschienenen "Geschichte des Lesens" daran, nur eben in einem zwar essayistisch formulierten, aber im Ganzen enzyklopädischen Werk, das mittlerweile ein rundes Dutzend weiterer Bücher über das Leben mit Büchern umfasst, das einen zum Büchermenschen macht. Das jüngste, 2019 auf Englisch in den Vereinigten Staaten erschienen und nun für Manguels Verhältnisse spät (aber dazu später mehr) ins Deutsche übersetzt, heißt "Fabelhafte Wesen", und es vereint einmal mehr die Stärken dieses Autors: Begeisterung, Zugänglichkeit, Witz.
Wobei es sein erstes Buch in Form eines Lexikons geworden ist. Versammelt sind darin in enigmatischer Reihenfolge - nicht chronologisch, alphabetisch oder thematisch - 37 literarische Figuren. Die wollen hier nicht als rhetorische verstanden werden, sondern es handelt sich buchstäblich um Fabelwesen: Protagonisten aus (meist) phantastischen Erzählungen, die literaturgeschichtlich vom biblischen Jona (der auch den umfangreichsten Eintrag oder sagen wir ruhig Essay bekommt) bis zur 1938 erstmals aufgetretenen Comicfigur Superman reichen. Mit letzterem schließt Manguel übrigens eine Lücke in seinen autobiographischen Lektüreerkundungen: Er hat seine Comicliebe lange verschwiegen, obwohl er diese Gattung schon 1960 als Zwölfjähriger bei einem sechsmonatigen Aufenthalt in Baltimore ins Herz schloss, als "das größte Wunder aller amerikanischen Wunder".
Spätere Lebensmittelpunkte Manguels umfassten dann neben seinem Heimatland Argentinien England, Frankreich, Italien, die Vereinigten Staaten und Kanada - alles comicaffine Kulturen. Als er dann 2020 nach Lissabon umzog, wo Manguels legendäre Privatbibliothek von der Stadt ein eigenes Palais eingerichtet bekommt, das 2024 eröffnet werden soll, war er seit einem mehrjährigen Aufenthalt in Tahiti erstmals wieder mit einem betreffs Comics eher fremdelnden Land konfrontiert. Bei einer kürzlichen Begegnung erzählte er, dass das sein Interesse an ihnen eher noch verstärkt habe. Wer weiß, ob es neben Superman nicht auch Leselieblinge wie Little Nemo oder Krazy Kat - "Borges", so hat er einmal erklärt, "hat mir beigebracht, dass Literatur eine Liebeserfahrung ist, die keine Monogamie verlangt" - in "Fabelhafte Wesen" geschafft hätten, wenn das Buch in Portugal verfasst worden wäre.
Es ist Manguels erste Publikation beim Diogenes Verlag, nachdem er jahrzehntelang Autor des Verlags S. Fischer war, der sich aber für dieses neue Buch nicht mehr interessiert habe, wie er berichtet. Mit Diogenes ist er aber auch deshalb bei einer guten neuen Adresse gelandet, weil sich in "Fabelhafte Wesen" noch eine weitere unbekannte Leidenschaft Manguels erstmals artikuliert: das Zeichnen. Jeder Figur ist eine kleine Federzeichnung des Verfassers beigegeben, und deren Stil steht in der Tradition solcher Diogenes-Hauszeichner wie Edward Gorey, Saul Steinberg oder Ronald Searle. Manguel ist damit übrigens dann am überzeugendsten, wenn es keine allgemein bekannten Illustrationen zu seinen Gegenständen gibt. Sein Superman, Dracula, Rotkäppchen sehen eher aus wie ungelenke Knabenübungen, und gegen John Tenniels Zeichnungen zu Lewis Carrolls "Alice"-Büchern kommt Manguels reizendes Mädchenbildnis auch nicht an. Seine Lilith dagegen ist eine ebenso originelle zeichnerische Deutung des mit der ersten Frau Adams verbundenen Mythos wie die Vignette zur Figur des Sandmönchs aus dem chinesischen Epos "Reise in den Westen", die gar nichts Orientalisierendes hat, sondern ein subtiles Charakterbild bietet. Hinreißend auch seine Visualisierungen von George Eliots Casaubon oder der hierzulande unbekannten Dona Emilia aus den brasilianischen Kinderbüchern von Monteiro Lobato.
Überhaupt sind Figuren aus Kinder- und Jugendlektüren stark vertreten in Manguels Auswahl. Natürlich sind dabei auch wieder die Grimm'schen Märchen präsent, die ihm sein deutsch-tschechisches Kindermädchen nahegebracht hatte - nahezu in jedem Buch kommt Manguel auf dieses prägende Erlebnis seiner Kindheit zurück. Mit Goethes "Faust" ist noch eine weitere deutsche Konstante in seiner Lesebiographie vertreten, eine eher erwachsene. Aber die interessanteren persönlichen Einblicke gestatten ohnehin die Figurenfaszinationen des Erwachsenen, so etwa die für den ihm erst in späten Jahren zum Herzensautor gewordenen Dante: Obwohl niemand aus der "Commedia" einzeln gewürdigt wird, ist Dante präsent. Und selbstverständlich auch der blinde Borges, dem Manguel als junger Mann in Buenos Aires vorgelesen hat. Aus dieser erzählenden Verbundenheit entstand eine biographische Nähe, die darin gipfelte, dass Manguel für einige Jahre Nachfolger von Borges als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek wurde. Beider Leben bestand immer aus Büchern, aus Büchermenschen und aus Bücherfiguren: "Zuhause, das war ein Ort in meinen Geschichten, zwischen den Buchdeckeln, mit seinen Buchstaben darin", schreibt Manguel im Vorwort zu "Fabelhafte Wesen".
Und danach beginnt er die Liste seiner Buchwohngemeinschaftsgenossen ausgerechnet mit einer Figur, zu der er ausführt: "In Monsieur Bovarys Welt ist einfach kein Platz für Fiktion." Er hätte auch einfach schreiben können: "Monsieur Bovary, ce n'est pas moi." Und dennoch widmet er diesem Stiefkind der Literaturgeschichte und der Lesergunst ein tief sympathisierendes Porträt. Wie all den hier gewürdigten Fabelwesen, selbst Satan. Den er allerdings in Wittenberg zu Luthers Wurfziel werden lässt statt - wie es richtig gewesen wäre - auf der Wartburg. ANDREAS PLATTHAUS
Alberto Manguel:
"Fabelhafte Wesen". Dracula, Alice, Superman und andere literarische Freunde.
Aus dem Englischen von Achim Stanislawski. Diogenes Verlag, Zürich 2022. 255 S., 37 Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus ist hingerissen von den "Buchwohngemeinschaftsgenossen", die Autor Alberto Manguel in seinem neuen Band versammelt. Um "Fabelhafte Wesen" geht es diesmal, die Anordnung ist lexikalisch, mit einer kleinen Zeichnung des Autors zu jeder Figur, so der Rezensent. Stark vertreten sind Märchengestalten und Comicfiguren, lesen wir. Und warum auch nicht: "Literatur ist eine Liebeserfahrung, die keine Monogamie verlangt", zitiert Platthaus den Autor und man kann davon ausgehen, dass er ihm von Herzen zustimmt. Von Manguels Freude an seinen Fabelwesen lässt sich der Rezensent jedenfalls gern anstecken.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH