Geschichten liegen auf der Straße, heißt es, und manch eine ist voller Wehmut und einer Portion Sarkasmus. Die Geschichte des vierundfünfzigjährigen Portugiesen Francisco Fantastico nimmt eine drastische Wendung, als er wegen Mordes verhaftet wird. Doch was schließlich als simples Verbrechen in der Zeitung steht, enthüllt sich als die Geschichte eines verlorenen Vaters, der seinen Sohn wiederfindet. Geschichten liegen auf der Straße, heißt es, und manch eine ist voll Wehmut und einer Portion Sarkasmus. Die Geschichte des vierundfünfzigjährigen Portugiesen Francisco Fantastico nimmt eine drastische Wendung, als er wegen Mordes verhaftet wird. Dabei hat alles so hoffnungsvoll angefangen: Als Francisco Fantastico seinem Sohn António nach vierzehn Jahren Schweigen seinen Aufenthaltsort bekannt gibt, besucht ihn der prompt in Genf. In freundschaftlicher Annäherung betrinken sie sich, aber der nächste Morgen sieht trostlos aus. Von der Ärmlichkeit des Lebens seines exilierten Vaters bestürzt, beschließt António ihn gegen seinen Willen nach Lissabon zurückzubringen. Im Verlauf der Reise versucht António zu verstehen, was seinen Vater damals aus Lissabon weg getrieben und ihn veranlasst hat, den Kontakt zu seiner Familie abzubrechen. Nur schwer lernt er zu begreifen, dass die Angst vor dem schlechten Ausgang einer noch nicht abgeschlossenen Geschichte stärker sein kann als die Sehnsucht nach einem guten Ende. Den Blues kann man hören. Den Tango kann man tanzen. Aber den Fado muss man fühlen. Als Federico Fantastico im Auto seinen Rausch ausschläft, wird er kurzerhand aus Genf entführt. Allerdings nicht von einem Erpresser, sondern von seinem Sohn António, der ihn zurück nach Lissabon bringen will. Die Fahrt in den Süden wird zu einer Reise durch die Geschichte und Tabus ihrer Familie, die mit der Begleichung einer alten Schuld ihr jähes Ende nimmt. Was schließlich als simpler Mord in der Zeitung steht, enthüllt sich als die Geschichte eines verlorenen Vaters, der seinen Sohn wiederfindet. "Die Bücher Urs Richles führen vor, wie man genau erzählen kann, in einer wohltuend direkten, schnörkellosen Prosa." Berner Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2001Wenn der Erzähler stiftengeht
Geschichten von nebenan: Urs Richles Roman "Fado Fantastico"
Der Kniff ist so alt wie bewährt: Der Autor stößt auf eine Geschichte, die er nicht selbst erlebt hat. Früher fanden sie sich meist in Konvoluten vergilbter Papiere, vor sich hin modernd in alten Koffern, auf staubigen Dachböden. Heute werden sie kolportiert, stehen in Zeitungen oder werden von Nachbarn, von Freunden oder Augenzeugen weitergereicht.
Urs Richles Geschichte vom portugiesischen Gastarbeiter Francisco Fantastico hat sich in Genf zugetragen, wo Urs Richle seit Jahren lebt. Nachbarn erzählen sie ihm in groben Zügen. Später liefert ein Freund die Einzelheiten nach. Francisco Fantastico - der Name ist wohl Programm und sollte uns mißtrauisch machen - hatte eine Etage tiefer gewohnt, direkt unter der Wohnung des Autors. Außer Küchengerüchen und Fado-Musik hatte man von ihm kaum etwas mitbekommen. Eine Existenz, so gewöhnlich und unauffällig wie unzählige andere auch. Man kennt sich vom Sehen, grüßt sich vielleicht im Treppenhaus, mehr Berührungspunkte gibt es nicht, und man will auch nicht mehr voneinander wissen.
Bis der Mann eines Tages verschwindet. Ein Mord ist verübt worden. Der unauffällige Nachbar wird zum Gegenstand einer Geschichte, und der Autor hat seinen Stoff gefunden. Fortan erzählt er, als sei er dabeigewesen. Man hat die ursprüngliche Erzählanlage schon fast vergessen, als sich auf den letzten paar Seiten die beiden Ebenen wieder berühren: die Geschichte, wie sie sich zugetragen haben könnte, und die Geschichte, wie sie wirklich geschah. Was ist Wahrheit? Wessen Wahrheit? Und was ist Fiktion? Der Leser ahnt die Zusammenhänge, eine letzte Gewißheit gibt es nicht.
In dieser Vieldeutigkeit liegt die Stärke des Romans, aber auch seine Schwäche. Das Spiel mit den Möglichkeiten einer Existenz hat zwar durchaus seinen Reiz; doch am Ende bleibt man ratlos zurück. Es ist, als hätte die Geschichte zwei Erzähler: einen, der alles weiß, und einen, der wie der Leser auf Vermutungen angewiesen ist. Der Autor wäre besser auf seinem anfänglichen Beobachterposten geblieben: ein Nachbar, der Mutmaßungen anstellt über das Schicksal eines ihm letztlich fremden Mannes. Der Roman hätte dadurch an Wahrscheinlichkeit zweifellos gewonnen, zumal die Ereignisse im fernen Lissabon und in Genf seltsam blaß bleiben. Die beiden Städte sind nicht viel mehr als touristische Kulisse. Ein paar topographische Fixpunkte, die jeder kennt, mehr ist da nicht, keine Atmosphäre, kein Kolorit, keine Realität, die man fassen, sehen, riechen könnte. Und den Menschen ergeht es nicht viel besser. Sie haben eine Lebensgeschichte, aber kein Gesicht. Sie tun Dinge, die nicht motiviert sind, und was sie wirklich fühlen, wird behauptet; nachvollziehbar ist es nicht. So bleiben auch sie dem Klischee verhaftet: der Gastarbeiter, der in der Fremde verkümmert, der Boß, der sich an Schwarzarbeit bereichert, die Familie, die in Portugal zurückbleibt, im Glauben, der Vater sei bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Die Geschichte kommt zu ihrem Ende, als Franciscos Sohn darangeht, das komplizierte Geflecht von Schuld, Mißverständnissen und Lügen zu entwirren. Der Mord in der Fabrik scheint so etwas wie die logische Konsequenz eines verfehlten Lebens. Doch genau in dem Moment, da wir zu verstehen meinen, was wirklich geschah, schlägt uns der Erzähler gleichsam die Tür vor der Nase zu. Er stiehlt sich davon und überläßt uns dem Verdacht. Ein irritierender Schluß für einen Roman, der zu Beginn alles daransetzt, die Authentizität der Ereignisse zu behaupten.
KLARA OBERMÜLLER
Urs Richle: "Fado Fantastico". Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2001. 189 S., geb., 35,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichten von nebenan: Urs Richles Roman "Fado Fantastico"
Der Kniff ist so alt wie bewährt: Der Autor stößt auf eine Geschichte, die er nicht selbst erlebt hat. Früher fanden sie sich meist in Konvoluten vergilbter Papiere, vor sich hin modernd in alten Koffern, auf staubigen Dachböden. Heute werden sie kolportiert, stehen in Zeitungen oder werden von Nachbarn, von Freunden oder Augenzeugen weitergereicht.
Urs Richles Geschichte vom portugiesischen Gastarbeiter Francisco Fantastico hat sich in Genf zugetragen, wo Urs Richle seit Jahren lebt. Nachbarn erzählen sie ihm in groben Zügen. Später liefert ein Freund die Einzelheiten nach. Francisco Fantastico - der Name ist wohl Programm und sollte uns mißtrauisch machen - hatte eine Etage tiefer gewohnt, direkt unter der Wohnung des Autors. Außer Küchengerüchen und Fado-Musik hatte man von ihm kaum etwas mitbekommen. Eine Existenz, so gewöhnlich und unauffällig wie unzählige andere auch. Man kennt sich vom Sehen, grüßt sich vielleicht im Treppenhaus, mehr Berührungspunkte gibt es nicht, und man will auch nicht mehr voneinander wissen.
Bis der Mann eines Tages verschwindet. Ein Mord ist verübt worden. Der unauffällige Nachbar wird zum Gegenstand einer Geschichte, und der Autor hat seinen Stoff gefunden. Fortan erzählt er, als sei er dabeigewesen. Man hat die ursprüngliche Erzählanlage schon fast vergessen, als sich auf den letzten paar Seiten die beiden Ebenen wieder berühren: die Geschichte, wie sie sich zugetragen haben könnte, und die Geschichte, wie sie wirklich geschah. Was ist Wahrheit? Wessen Wahrheit? Und was ist Fiktion? Der Leser ahnt die Zusammenhänge, eine letzte Gewißheit gibt es nicht.
In dieser Vieldeutigkeit liegt die Stärke des Romans, aber auch seine Schwäche. Das Spiel mit den Möglichkeiten einer Existenz hat zwar durchaus seinen Reiz; doch am Ende bleibt man ratlos zurück. Es ist, als hätte die Geschichte zwei Erzähler: einen, der alles weiß, und einen, der wie der Leser auf Vermutungen angewiesen ist. Der Autor wäre besser auf seinem anfänglichen Beobachterposten geblieben: ein Nachbar, der Mutmaßungen anstellt über das Schicksal eines ihm letztlich fremden Mannes. Der Roman hätte dadurch an Wahrscheinlichkeit zweifellos gewonnen, zumal die Ereignisse im fernen Lissabon und in Genf seltsam blaß bleiben. Die beiden Städte sind nicht viel mehr als touristische Kulisse. Ein paar topographische Fixpunkte, die jeder kennt, mehr ist da nicht, keine Atmosphäre, kein Kolorit, keine Realität, die man fassen, sehen, riechen könnte. Und den Menschen ergeht es nicht viel besser. Sie haben eine Lebensgeschichte, aber kein Gesicht. Sie tun Dinge, die nicht motiviert sind, und was sie wirklich fühlen, wird behauptet; nachvollziehbar ist es nicht. So bleiben auch sie dem Klischee verhaftet: der Gastarbeiter, der in der Fremde verkümmert, der Boß, der sich an Schwarzarbeit bereichert, die Familie, die in Portugal zurückbleibt, im Glauben, der Vater sei bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Die Geschichte kommt zu ihrem Ende, als Franciscos Sohn darangeht, das komplizierte Geflecht von Schuld, Mißverständnissen und Lügen zu entwirren. Der Mord in der Fabrik scheint so etwas wie die logische Konsequenz eines verfehlten Lebens. Doch genau in dem Moment, da wir zu verstehen meinen, was wirklich geschah, schlägt uns der Erzähler gleichsam die Tür vor der Nase zu. Er stiehlt sich davon und überläßt uns dem Verdacht. Ein irritierender Schluß für einen Roman, der zu Beginn alles daransetzt, die Authentizität der Ereignisse zu behaupten.
KLARA OBERMÜLLER
Urs Richle: "Fado Fantastico". Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2001. 189 S., geb., 35,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Michael Bauer ist von Urs Richles schriftstellerischem Talent so überzeugt, dass er ihn in der Nachfolge von Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Urs Widmer und Adolf Muschg sieht. Das ist dem Rezensenten bereits nach Richles Romandebüt "Das Loch in der Decke der Stube" von 1992 deutlich geworden, und der neue Roman hat Bauer in seiner Annahme nur bestärkt. Es geht - wie immer bei Richle - um die thematischen Pole Heimat und Fremde. Ein portugiesischer Arbeiter wird in der Schweiz in einen Mord verwickelt. Aber der Autor hat aus dem Plot keinen Kriminalroman gebastelt, sondern die rätselhaft schwermütigen und leidenschaftliche Klänge des Fado, die kein Musikwissenschaftler zu deuten vermag, in die Sprache seines Romans übersetzt, seufzt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Immer präzise, gut recherchiert, überaus geschickt und mit subtilen psychologischen Strategien - ein Buch, das uns angeht." Neue Zürcher Zeitung