Während seiner Fahrten durch Albanien hört Stasiuk den Fado. Melancholie und sanfter Trotz dieser Musik sind auch den 24 kurzen erzählerischen Meditationen eigen, die thematisch wie geographisch einen weiten Bogen schlagen: von Südpolen bis Montenegro, vom Blick durchs Vergrößerungsglas auf eine alte Karte, die bosnische Dörfer verzeichnet, bis zu den Reflexionen über die neue Mobilität als Flucht aus der eigenen Geschichte, dem eigenen Leben. »Gibt es eine bessere Metapher für die Reise als eine brüchige Landkarte? Gibt es eine noblere Art der Reise als die auf den Spuren eines Schriftstellers, dessen Bücher man bewundert? So eine Reise ist eine Pilgerfahrt. Und die Pilgerfahrt ist ja nichts anderes als die ältere Schwester der Reise als solcher. Reisen heißt leben. Jedenfalls doppelt, dreifach, mehrfach leben.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2008Legitimität der Neuzeit? Da muhen doch die Kühe
Im Herzen ein Bauer: Andrzej Stasiuks Reisereportagen sind nostalgische Plädoyers für das einfache Leben auf dem Land
Andrzej Stasiuk, dessen Nachnamen die meisten noch immer aussprechen, als stecke die Überwachungsbehörde der DDR darin, wurde in Deutschland vor bald zehn Jahren mit dem Roman "Die Welt hinter Dukla" bekannt, auch wenn kaum jemand einen Schimmer davon hatte, wo Dukla liegt. Wie sollte man sich da erst die Welt dahinter vorstellen? Trotzdem glauben wir diesem Autor seine rauhbeinigen Geschichten aus dem Wilden Osten so gerne, dass er zum bekanntesten polnischen Gegenwartsliteraten im deutschsprachigen Raum wurde. Albanien, Montenegro, Rumänien, Ungarn, Slowenien, Südpolen - Stasiuks Rapporte aus den hintersten Winkeln Osteuropas kleiden sich oft ins Gewand der Reportage, obwohl es sich eher um Beschwörungen handelt. Sie atmen die romantische Aura des Vergehenden und klagen über die atmosphärischen Kollateralschäden der Modernisierung. "In unserer Welt", so schreibt Stasiuk in "Fado", einem jüngst erschienenen Bändchen mit Reiseskizzen, "gibt es immer weniger alte Dinge und Orte. Bald werden wir die Erinnerung daran verlieren, woher wir kommen, und werden um nichts in der Welt glauben wollen, dass unsere Körper vor gar nicht langer Zeit denselben Geruch ausströmten wie die der rumänischen Hirten."
Wer nie die Nase in den Dunstkreis eines Hirten hielt, so lernen wir, der weiß nicht, wie Europa schmeckt. Und wird nicht gewappnet sein, wenn Stasiuks größter Traum in Erfüllung geht: Eines Tages werden Zigeuner auf den Champs-Élysées ihr Lager aufschlagen, Bären aus Bulgarien auf dem Ku'damm ihre Kunststücke vorführen, halbwilde Ukrainer vor den Toren Mailands Kosakeneinheiten bilden, während besoffene, betende Polen die Weinberge an Rhein und Mosel verwüsten, um dort wirkungsvolleren Schnaps zu produzieren. Stasiuk bringt in seiner Feier des bäuerlichen Idylls mitunter unfreiwillig komische Sätze zu Papier: "Irgendwo muhte eine Kuh." In besseren Momenten gelingen ihm Beschreibungen abgelegener Alltagsrituale, etwa im albanischen Pogradec, einer Stadt, die von nichts so beherrscht wird wie vom Billard, durch dessen "geometrische Abstraktion und Kinetik" die besessenen Spieler ihre Alltagssorgen vergessen. An einem südpolnischen Bahnhof hat er junge Männer beobachtet, die die Aufdrucke auf ihren eigenen Sweatshirts nicht lesen können, und in Albanien Menschen angetroffen, die nur noch vor "toten Computern" hocken. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass diese Spurenlese der Verwüstung durch Zivilisation ein Projekt von historischer Notwendigkeit ist: "Ich beschreibe all das, weil kein anderer es beschreibt", sagt Stasiuk und setzt sich damit in den Rang des letzten Zeugen einer beinahe verschwundenen Welt. Stets auf dem schmalen Grat zwischen nostalgischem Kitsch und schlichtem Kulturpessimismus wandelnd, lehnt der Autor ab, was mit Medien, Beschleunigung und Vernetzung zu tun hat. Bereits am montenegrinischen Straßenbau kann sich sein Zorn entzünden: "In dieser archaischen Landschaft erinnern nur die über die Landstraße gleitenden Autos daran, dass wir im 21. Jahrhundert sind. Dieses Modernisierungsexperiment hat etwas Teuflisches an sich. Alles, was war, wird verworfen im Namen einer Neuzeit, die einer Fiktion, einer Täuschung, einem luziferischen Geisterbild gleicht." Seltsam, dass man Stasiuk, der zu seinen wenigen amerikanischen Vorbildern Jack Kerouac zählt, bereits als osteuropäischen Beat-Poeten sah. Wenn aber der Beat der Ost-Erweiterung auf dieser Schlagzahl bleibt, wird es weiterhin gemütlich zugehen. Irgendwo muht immer eine Kuh.
STEFANIE PETER
Andrzej Stasiuk: "Fado". Reiseskizzen. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 159 S., br., 9,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Herzen ein Bauer: Andrzej Stasiuks Reisereportagen sind nostalgische Plädoyers für das einfache Leben auf dem Land
Andrzej Stasiuk, dessen Nachnamen die meisten noch immer aussprechen, als stecke die Überwachungsbehörde der DDR darin, wurde in Deutschland vor bald zehn Jahren mit dem Roman "Die Welt hinter Dukla" bekannt, auch wenn kaum jemand einen Schimmer davon hatte, wo Dukla liegt. Wie sollte man sich da erst die Welt dahinter vorstellen? Trotzdem glauben wir diesem Autor seine rauhbeinigen Geschichten aus dem Wilden Osten so gerne, dass er zum bekanntesten polnischen Gegenwartsliteraten im deutschsprachigen Raum wurde. Albanien, Montenegro, Rumänien, Ungarn, Slowenien, Südpolen - Stasiuks Rapporte aus den hintersten Winkeln Osteuropas kleiden sich oft ins Gewand der Reportage, obwohl es sich eher um Beschwörungen handelt. Sie atmen die romantische Aura des Vergehenden und klagen über die atmosphärischen Kollateralschäden der Modernisierung. "In unserer Welt", so schreibt Stasiuk in "Fado", einem jüngst erschienenen Bändchen mit Reiseskizzen, "gibt es immer weniger alte Dinge und Orte. Bald werden wir die Erinnerung daran verlieren, woher wir kommen, und werden um nichts in der Welt glauben wollen, dass unsere Körper vor gar nicht langer Zeit denselben Geruch ausströmten wie die der rumänischen Hirten."
Wer nie die Nase in den Dunstkreis eines Hirten hielt, so lernen wir, der weiß nicht, wie Europa schmeckt. Und wird nicht gewappnet sein, wenn Stasiuks größter Traum in Erfüllung geht: Eines Tages werden Zigeuner auf den Champs-Élysées ihr Lager aufschlagen, Bären aus Bulgarien auf dem Ku'damm ihre Kunststücke vorführen, halbwilde Ukrainer vor den Toren Mailands Kosakeneinheiten bilden, während besoffene, betende Polen die Weinberge an Rhein und Mosel verwüsten, um dort wirkungsvolleren Schnaps zu produzieren. Stasiuk bringt in seiner Feier des bäuerlichen Idylls mitunter unfreiwillig komische Sätze zu Papier: "Irgendwo muhte eine Kuh." In besseren Momenten gelingen ihm Beschreibungen abgelegener Alltagsrituale, etwa im albanischen Pogradec, einer Stadt, die von nichts so beherrscht wird wie vom Billard, durch dessen "geometrische Abstraktion und Kinetik" die besessenen Spieler ihre Alltagssorgen vergessen. An einem südpolnischen Bahnhof hat er junge Männer beobachtet, die die Aufdrucke auf ihren eigenen Sweatshirts nicht lesen können, und in Albanien Menschen angetroffen, die nur noch vor "toten Computern" hocken. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass diese Spurenlese der Verwüstung durch Zivilisation ein Projekt von historischer Notwendigkeit ist: "Ich beschreibe all das, weil kein anderer es beschreibt", sagt Stasiuk und setzt sich damit in den Rang des letzten Zeugen einer beinahe verschwundenen Welt. Stets auf dem schmalen Grat zwischen nostalgischem Kitsch und schlichtem Kulturpessimismus wandelnd, lehnt der Autor ab, was mit Medien, Beschleunigung und Vernetzung zu tun hat. Bereits am montenegrinischen Straßenbau kann sich sein Zorn entzünden: "In dieser archaischen Landschaft erinnern nur die über die Landstraße gleitenden Autos daran, dass wir im 21. Jahrhundert sind. Dieses Modernisierungsexperiment hat etwas Teuflisches an sich. Alles, was war, wird verworfen im Namen einer Neuzeit, die einer Fiktion, einer Täuschung, einem luziferischen Geisterbild gleicht." Seltsam, dass man Stasiuk, der zu seinen wenigen amerikanischen Vorbildern Jack Kerouac zählt, bereits als osteuropäischen Beat-Poeten sah. Wenn aber der Beat der Ost-Erweiterung auf dieser Schlagzahl bleibt, wird es weiterhin gemütlich zugehen. Irgendwo muht immer eine Kuh.
STEFANIE PETER
Andrzej Stasiuk: "Fado". Reiseskizzen. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 159 S., br., 9,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen Beat-Poeten kann Stefanie Peter in Andrzej Stasiuk nicht erkennen. Zu viele Kühe. Zu gemütlich die Schlagzahl. Was der Autor in seinen Reisekizzen an bäuerlicher Idylle gegen die Moderne auffährt, lässt die Rezensentin mitunter schmunzeln: Stasiuks Traum von Europa seien noch immer Zigeuner, die "auf den Champs-Elysees ihr Lager aufschlagen, Bären aus Bulgarien auf dem Ku'damm" und ukrainische Kosakeneinheiten vor den Toren Mailands. Kitsch und Kulturpessimismus und das Auftreten des Autors als Retter der verlorenen Zeit kommen bei ihr nicht so gut an. Wenn Stasiuk mit Beschreibungen ferner Alltagsrituale (Billard in der albanischen Provinz) aufwartet, ist sie allerdings manchmal ganz Ohr.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Fado [versammelt] lebensvolle Meditationen über Südpolen oder die Ostkarpaten, über Ljubljana, Belgrad und bosnische Dörfer. 'Mitteleuropa ist heute wohl nur noch ein für Meteorologen verständlicher Begriff', zitiert Andrzej Stasiuk. Seine Reiseskizzen leben von ihren starken Bildern. Vom Zusammenführen der Theorie Europas mit der kulturellen Praxis des Kontinents.« Neue Zürcher Zeitung