Immanuel Kant bestimmte die Anarchie 1798 als »Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt«. Das ist zunächst nur eine Denkmöglichkeit, die mit der Welt, in der wir leben, wenig zu tun zu haben scheint. Aber sie wird unterstützt durch eine Abstimmung mit den Füßen, die in der Geschichte der Menschheit auffallend häufig gegen das Leben in Herrschaft ausfiel. Thomas Wagners radikale Revision der Demokratiegeschichte folgt diesen Füßen auf ihren vielfältigen Wegen. Bis weit in die Neuzeit hinein lebte ein großer Teil der Menschheit auch deshalb in Gesellschaften ohne Staat, weil er sich dem Zugriff der Herrschenden entziehen wollte. Erzählungen über das ungebundene Leben »edler Wilder« und »Amazonen«, Freibeuter oder Beduinen regten überall auf der Welt aber auch die politische Fantasie derjenigen an, die weiter in Unfreiheit leben mussten. Die Idee der politischen Freiheit hat ihren Ursprung keineswegs allein in Europa. Fahnenflucht in die Freiheit macht diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt derdringenden Dekolonisierung des politischen Denkens. Es ist eine Einladung, die faszinierenden Fährten aufzunehmen und weiterzuverfolgen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
An "Fahnenflucht in die Freiheit" von Thomas Wagner ist einiges dran. Aber der Aufbau sei "schief und krumm". Das ist das Fazit der Rezension des Philosophen Dieter Thomä. Der Soziologe Wagner teile die Welt in Schwarz und Weiß, in Böse und Gut, Staat und Demokratie. Sein Zeitfenster von gefühlten 150.000 Jahren weise zwar einige Expertise auf, sei aber so gespickt mit Zitaten von Wissenschaftlern, die Thomä zum Teil für halbseiden hält. Zwar enthalte das Buch einige bedenkenswerte Deutungen über das Verhältnis von persönlicher Freiheit, politischem Aktivismus und staatlicher Ordnung. Aber nicht zuletzt kann Thomä dieses Buch wegen der Unversöhnlichkeit in seiner Schwarz-Weiß-Malerei nicht ernst nehmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2022Kriecherische Hündchen und freie Söhne
Unklarheit schützt nicht vor Urteilsfreude: Thomas Wagner zeichnet ein Schwarz-Weiß-Bild der Menschheitsgeschichte
Wäre dieses Buch eine Fotografie, würde man sagen: Es handelt sich um ein Schwarz-Weiß-Bild, das mit einem extremen Weitwinkelobjektiv aufgenommen worden ist. Das Panorama, das gezeigt wird, reicht von afrikanischen Sandwüsten bis zu amerikanischen Straßenschluchten, von Piraten in der Karibik bis zu Stadtindianern in Berlin, vom Auszug der Juden aus Ägypten bis zum Rückzug des Volks der Mosuo in die tibetischen Berge. Zum Raum wird hier die Zeit, denn das, was "am 1. Januar 1994" abging, steht Seit' an Seit' neben dem, was "im Jahr 682" oder "etwa vor 150 000 Jahren" geschah. Schwarz wie die Nacht erscheinen auf diesem Breitbild Bereiche, die von einem Gebilde namens "Staat" beherrscht werden. Licht wie der Tag wirken dagegen Zonen, in denen "staatenlose Gemeinwesen" existieren. Hier leben diejenigen, die gemäß dem Titel von Thomas Wagners Buch die "Fahnenflucht in die Freiheit" angetreten haben. Sie kommen - so heißt es - in den Genuss wahrer "Demokratie", also des ganzen Pakets aus "Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde", "individueller Autonomie" und "Gleichberechtigung".
Zum breiten Bild tritt also eine steile These, die auf einer eigenwilligen Deutung der Menschheitsgeschichte basiert. Wagner hält nichts von der altmodischen Annahme, der Gang der Geschichte würde von Stammesgesellschaften über Imperien und Nationalstaaten zu Demokratien führen. Stattdessen geht er davon aus, dass es seit jeher eine "Dialektik von Staat und Staatsflucht" gegeben habe, die immer wieder neu durchgespielt worden sei. Demnach etabliert sich jeweils ein "Staat" als "Zwangsregime" und "zentralisierte Herrschaftsform", und darauf folgt dann das Aufbäumen der Menschen gegen die Macht.
Im Lauf der Jahrtausende hat nach Wagner immer wieder eine "Abstimmung mit den Füßen" stattgefunden, die im Ergebnis "auffallend häufig gegen den Staat" und zugunsten der Demokratie ausgefallen sei. Viele eindrucksvolle Geschichten schmücken sein Buch. Eine Ballade Alexander Puschkins über "Zigeuner", in der das "wilde Leben" der "freien Söhne" beschrieben wird, liest sich sogar in deutscher Übersetzung schmissig - ebenso die Wutrede eines Piraten gegen den Kapitän eines gekaperten Schiffes, dem vorgehalten wird, sich als "kriecherisches Hündchen Gesetzen zu fügen, die reiche Männer für ihre eigene Sicherheit gemacht haben". Die Europäer, die dem "Lockruf der Wildnis" folgen, machen nach Wagner in der weiten Welt Erfahrungen, die ihnen erst "die Idee der Demokratie schmackhaft machen". So haben etwa die "Haudenosaunee (Irokesenföderation)" mit ihrer "egalitären Konsensdemokratie das Denken der Amerikanischen Revolution, der frühen amerikanischen Frauenbewegung und nicht zuletzt das von Karl Marx und Friedrich Engels beeinflusst". Berichtet wird von der Geburt der Demokratie aus dem Geist der Wildheit.
Wagner lebt von zweiter Hand, er bedient sich bei einer großen Zahl teils mehr, teils weniger respektabler wissenschaftlicher Zeugen. So beruft er sich unter anderen auf Pierre Clastres' "Staatsfeinde", James Scotts "Mühlen der Zivilisation", Eric Hobsbawms "Banditen", Linebaughs und Redikers Buch über Seefahrer und Piraten, Antonio Negris und Michael Hardts blamables Buch "Empire" und David Graebers und David Wengrows "Anfänge". Dabei begnügt sich Wagner nicht damit, eine große Collage des unbotmäßigen Lebens zu erstellen, sondern packt das ganze Material in zwei Schubladen: "Staat" und "Demokratie". Sie stehen in seinem Schwarz-Weiß-Bild für das Böse und das Gute. Vom scharfen Gegensatz zwischen ihnen ist das ganze Buch beherrscht.
Darin liegt sein Schwachpunkt. Skandalöserweise verliert Wagner kein Sterbenswörtchen darüber, was er mit "Staat" und "Demokratie" überhaupt meint. Unklarheit schützt in diesem Fall vor Urteilsfreude nicht, und so kommt bei ihm der Staat in jedweder Form - als chinesisches Kaiserreich oder als französische Republik - schlecht weg. Umgekehrt glaubt Wagner, die Demokratie als "von Herrschaft befreite Gesellschaft" feiern zu können. Warum er sich dazu berufen fühlt, bleibt sein Geheimnis, denn bekanntlich steckt das Herrschen - kratein - unwiderruflich auch im Wort Demokratie.
Manchmal frönt Wagner dem Wunschdenken und projiziert sein Bild einer befreiten Gesellschaft in anachronistischer Weise auf vergangene Welten. So berichtet er von "Soldaten, die von Strafexpeditionen heimkamen" und "Geschichten über Gemeinschaften" erzählten, "in denen jeder und jede vollständig über seinen eigenen Körper verfügte". Als ob Soldaten je so geredet hätten! Manchmal schreckt Wagner auch vor seiner Faszination für das wilde Leben zurück, und das wirkt dann unfreiwillig komisch. So betont er zum Beispiel, dass "die Hafenprostitution des 18. Jahrhunderts nicht mit irgendeiner Form von partnerschaftlich gelebter Sexualität verwechselt werden" dürfe. Gut, dass wir darüber geredet haben!
Dieses Buch ist zwar als systematische Konstruktion schief und krumm, aber nicht ohne Wert. Wagner bezieht sich gelegentlich auf den Dreischritt der Befreiung in der Fassung von Graeber und Wengrow: "wegziehen, ungehorsam sein und neue soziale Welten aufbauen". Beim letzten Schritt fällt Wagner platt auf die Nase, aber seine Expertise bei den ersten beiden Schritten ist beachtlich. Wenn man sich den Schwarz-Weiß-Filter wegdenkt, mit dem er die Welt in Dunkel- und Lichtzonen aufteilt, dann kann man seinem Buch Anregungen entnehmen, wie das Verhältnis zwischen individueller Freiheit, politischer Bewegung und institutioneller Ordnung neu zu deuten und zu fassen ist - und dieses Vorhaben ist spielentscheidend für die Zukunft der Menschheit. DIETER THOMÄ
Thomas Wagner:
"Fahnenflucht in die Freiheit". Wie der Staat sich seine Feinde schuf: Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 271 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unklarheit schützt nicht vor Urteilsfreude: Thomas Wagner zeichnet ein Schwarz-Weiß-Bild der Menschheitsgeschichte
Wäre dieses Buch eine Fotografie, würde man sagen: Es handelt sich um ein Schwarz-Weiß-Bild, das mit einem extremen Weitwinkelobjektiv aufgenommen worden ist. Das Panorama, das gezeigt wird, reicht von afrikanischen Sandwüsten bis zu amerikanischen Straßenschluchten, von Piraten in der Karibik bis zu Stadtindianern in Berlin, vom Auszug der Juden aus Ägypten bis zum Rückzug des Volks der Mosuo in die tibetischen Berge. Zum Raum wird hier die Zeit, denn das, was "am 1. Januar 1994" abging, steht Seit' an Seit' neben dem, was "im Jahr 682" oder "etwa vor 150 000 Jahren" geschah. Schwarz wie die Nacht erscheinen auf diesem Breitbild Bereiche, die von einem Gebilde namens "Staat" beherrscht werden. Licht wie der Tag wirken dagegen Zonen, in denen "staatenlose Gemeinwesen" existieren. Hier leben diejenigen, die gemäß dem Titel von Thomas Wagners Buch die "Fahnenflucht in die Freiheit" angetreten haben. Sie kommen - so heißt es - in den Genuss wahrer "Demokratie", also des ganzen Pakets aus "Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde", "individueller Autonomie" und "Gleichberechtigung".
Zum breiten Bild tritt also eine steile These, die auf einer eigenwilligen Deutung der Menschheitsgeschichte basiert. Wagner hält nichts von der altmodischen Annahme, der Gang der Geschichte würde von Stammesgesellschaften über Imperien und Nationalstaaten zu Demokratien führen. Stattdessen geht er davon aus, dass es seit jeher eine "Dialektik von Staat und Staatsflucht" gegeben habe, die immer wieder neu durchgespielt worden sei. Demnach etabliert sich jeweils ein "Staat" als "Zwangsregime" und "zentralisierte Herrschaftsform", und darauf folgt dann das Aufbäumen der Menschen gegen die Macht.
Im Lauf der Jahrtausende hat nach Wagner immer wieder eine "Abstimmung mit den Füßen" stattgefunden, die im Ergebnis "auffallend häufig gegen den Staat" und zugunsten der Demokratie ausgefallen sei. Viele eindrucksvolle Geschichten schmücken sein Buch. Eine Ballade Alexander Puschkins über "Zigeuner", in der das "wilde Leben" der "freien Söhne" beschrieben wird, liest sich sogar in deutscher Übersetzung schmissig - ebenso die Wutrede eines Piraten gegen den Kapitän eines gekaperten Schiffes, dem vorgehalten wird, sich als "kriecherisches Hündchen Gesetzen zu fügen, die reiche Männer für ihre eigene Sicherheit gemacht haben". Die Europäer, die dem "Lockruf der Wildnis" folgen, machen nach Wagner in der weiten Welt Erfahrungen, die ihnen erst "die Idee der Demokratie schmackhaft machen". So haben etwa die "Haudenosaunee (Irokesenföderation)" mit ihrer "egalitären Konsensdemokratie das Denken der Amerikanischen Revolution, der frühen amerikanischen Frauenbewegung und nicht zuletzt das von Karl Marx und Friedrich Engels beeinflusst". Berichtet wird von der Geburt der Demokratie aus dem Geist der Wildheit.
Wagner lebt von zweiter Hand, er bedient sich bei einer großen Zahl teils mehr, teils weniger respektabler wissenschaftlicher Zeugen. So beruft er sich unter anderen auf Pierre Clastres' "Staatsfeinde", James Scotts "Mühlen der Zivilisation", Eric Hobsbawms "Banditen", Linebaughs und Redikers Buch über Seefahrer und Piraten, Antonio Negris und Michael Hardts blamables Buch "Empire" und David Graebers und David Wengrows "Anfänge". Dabei begnügt sich Wagner nicht damit, eine große Collage des unbotmäßigen Lebens zu erstellen, sondern packt das ganze Material in zwei Schubladen: "Staat" und "Demokratie". Sie stehen in seinem Schwarz-Weiß-Bild für das Böse und das Gute. Vom scharfen Gegensatz zwischen ihnen ist das ganze Buch beherrscht.
Darin liegt sein Schwachpunkt. Skandalöserweise verliert Wagner kein Sterbenswörtchen darüber, was er mit "Staat" und "Demokratie" überhaupt meint. Unklarheit schützt in diesem Fall vor Urteilsfreude nicht, und so kommt bei ihm der Staat in jedweder Form - als chinesisches Kaiserreich oder als französische Republik - schlecht weg. Umgekehrt glaubt Wagner, die Demokratie als "von Herrschaft befreite Gesellschaft" feiern zu können. Warum er sich dazu berufen fühlt, bleibt sein Geheimnis, denn bekanntlich steckt das Herrschen - kratein - unwiderruflich auch im Wort Demokratie.
Manchmal frönt Wagner dem Wunschdenken und projiziert sein Bild einer befreiten Gesellschaft in anachronistischer Weise auf vergangene Welten. So berichtet er von "Soldaten, die von Strafexpeditionen heimkamen" und "Geschichten über Gemeinschaften" erzählten, "in denen jeder und jede vollständig über seinen eigenen Körper verfügte". Als ob Soldaten je so geredet hätten! Manchmal schreckt Wagner auch vor seiner Faszination für das wilde Leben zurück, und das wirkt dann unfreiwillig komisch. So betont er zum Beispiel, dass "die Hafenprostitution des 18. Jahrhunderts nicht mit irgendeiner Form von partnerschaftlich gelebter Sexualität verwechselt werden" dürfe. Gut, dass wir darüber geredet haben!
Dieses Buch ist zwar als systematische Konstruktion schief und krumm, aber nicht ohne Wert. Wagner bezieht sich gelegentlich auf den Dreischritt der Befreiung in der Fassung von Graeber und Wengrow: "wegziehen, ungehorsam sein und neue soziale Welten aufbauen". Beim letzten Schritt fällt Wagner platt auf die Nase, aber seine Expertise bei den ersten beiden Schritten ist beachtlich. Wenn man sich den Schwarz-Weiß-Filter wegdenkt, mit dem er die Welt in Dunkel- und Lichtzonen aufteilt, dann kann man seinem Buch Anregungen entnehmen, wie das Verhältnis zwischen individueller Freiheit, politischer Bewegung und institutioneller Ordnung neu zu deuten und zu fassen ist - und dieses Vorhaben ist spielentscheidend für die Zukunft der Menschheit. DIETER THOMÄ
Thomas Wagner:
"Fahnenflucht in die Freiheit". Wie der Staat sich seine Feinde schuf: Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 271 S., geb., 25,- Euro.
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