Das Schreiben Franz Hohlers ist immer auch ein Reisen. Nicht selten entsteht es unterwegs, an Bahnhöfen oder Flughäfen, im Gehen oder Warten. "Fahrplanmäßiger Aufenthalt" versammelt die neueste Kurzprosa dieses großen Meisters der kleinen Form. Die Erzählungen führen in die Ferne, nach Sarajevo, Kenia, Odessa oder auf den Maidan nach Kiew. Sie führen aber auch in einen Wartesaal am Bahnhof Schwäbisch Hall oder zur Birke vor dem eigenen Haus. Brillant beiläufig und pointiert öffnen sie die Fenster in die Wirklichkeit - die fremde wie die eigene, oder gleiten unvermutet ins Fantastische. Sie erzählen davon, was sich in unserer immer kleiner werdenden Welt entdecken lässt, wenn man nur genau hinsieht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joseph Hanimann geht mit Franz Hohler auf Wanderschaft. Witz und Sinn für die Relevanz des Beiläufigen prägen laut Hanimann die neuen Texte des Liedermachers und Schriftstellers. Wie ein fahrplanmäßiger Aufenthalt in Schwäbisch Hall-Hessental den Erzähler zu einer KZ-Gedenkstätte und quer über das Geleis führt, ist für Hanimann von "alltagsgesättigter Tragik". Auf besondere Weise inaktuell aktuell, spachlich bizarr, mitunter fantastisch und von schlemischer Rätselhaftigkeit sind diese Miniaturen, verspricht der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2020Reisen in
Flohsprüngen
Franz Hohlers Prosa für die
Zeit nach der Quarantäne
Der Liedermacher, Kabarettist und Schriftsteller Franz Hohler ist ein Mann der steten Bewegung. Der Gang bis zur Birke vor dem Haus, jener über den Max-Frisch-Platz zum Bahnhof Oerlikon, der über den „Prospekt Mira“ in Krasnojarsk oder der durch die Ordner seines Computers sind bei ihm von derselben Art. Sie bieten Anlass zu Kurzreportagen und Kürzesterzählungen. Belangloses erscheint da bedeutsam, Relevantes beiläufig. Nahes und Fernes verschränken sich zu einer verschobenen Lebensgeografie. Über alles legt sich Hohlers unverwechselbarer Witz. Ein Witz, der trotz seiner Vorliebe für Prosecco nicht perlt und sprüht, sondern in feinen Rinnsalen unsere Alltagserfahrung überzieht.
Das neue Sortiment aus seiner Produktion setzt uns der Siebenundsiebzigjährige unter dem reizvollen Titelparadox eines bewegten Stillstands vor. Während dem fahrplanmäßig vierzehnminütigen Aufenthalt des Regio-Express Nürnberg-Stuttgart in Schwäbisch Hall-Hessental gelangt der vergeblich nach einer Bahnhofsgaststätte suchende Fahrgast im titelgebenden Text zur nahe gelegenen Gedenkstätte eines Lagers, dessen Häftlinge 1945 auf den Todesmarsch nach Dachau geschickt wurden. Um die Weiterfahrt des Zugs nicht zu verpassen, überquert der Erzähler dann verbotenerweise schnell die Gleise und gibt uns Lesern eine ganz andere Marschart vor, als die Häftlinge sie damals auferlegt bekamen. Ob zu Hause ein Amseljunges nach dem Flug in die Scheibe tot liegen bleibt, ob sechs junge Pinguine mit den IMG-Nummern 5626 bis 5631 auf dem Computer entsorgt werden, ob Flüchtlinge aus unserer Gegenwart oder eben KZ-Häftlinge aus der Vergangenheit ins Blickfeld geraten – oft nimmt die alltagsgesättigte Tragik in diesen Texten skurrile Formen an.
Manche von Hohlers Miniaturen gehen von sprachlichen Bizarrerien – pardon: Selbstverständlichkeiten aus. In einem Fachartikel über die Versicherung von Kunstwerktransporten begegnet der Autor dem Wort „Allmählichkeitsschäden“, die – als abblätternde Farbe oder feine Risse im Lack – nicht versicherbar seien. In den Ablagerungen seines Schultergelenks und den weißlichen Stellen im Röntgenbild seiner Knie, sagt er sich, erfahre er solche Allmählichkeitsschäden am eigenen Leib. Und eine dankbare Freude überkommt ihn, für all diese Dinge ein Wort gefunden zu haben. Ähnlich ergeht es beim Besuch eines „desastertoleranten“ Hochsicherheitstrakts, wo die Datenmassen von Bundesbahn, Telefon, Post und Großbanken auf den Servern, zu Deutsch: Dienern, giga- und terabyteweise durchgeschleust werden. Dieses kabelverstöpselte „Hosting“ und „Housing“ kommt ihm plötzlich wie eine munteres Karawanserei für unsere verzappelte Datenmigration vor.
Das Banale kann in diesen Texten allerdings auch ins Fantastische abdriften. Der Blick aus einem mit „Bäckerei“ angeschriebenen Kaffeelokal könnte banaler kaum sein, mit dem großen Schild „ALDI Süd“, dem Automobilhändler und seinen flatternden Škoda-Fahnen daneben, dem Verkehrskreisel und der Shell-Tankstelle. „Wo bin ich, in Wiesloch oder in Wisconsin?“. Beim Verlassen des Lokals fällt der Blick auf die im Kreisel vom Wind bewegten Gewächse: Grashalme, Wiesensalbei, Lupinen, Mohn und Raps, „unsern Augen und den Bienen zuliebe.“ Was weiter? „Meine Augen freut es, Bienen sehe ich keine“.
Im Hallenbad kann ein Schwimmer auch schon mal in den Sog jener dunklen Insel mit Zypressen, einem Boot und ihm zuwinkenden weißen Gestalten geraten, die ihm bekannt vorkommen, ohne dass der Name des Malers Arnold Böcklin genannt zu werden braucht. Und einen Eisberg, der nach seinem Tod in die Hölle kommt, weil er ein paar Schiffbrüche auf dem Gewissen hat, erwartet eine des alten Sisyphos würdige Strafe. Endlos wird er im Heizkessel geschmolzen und im Kühlraum dann wieder eingefroren, verliert dabei durch die ständige Aggregatveränderung jede Erinnerung und will vom vorbeieilenden Teufel wissen, warum er eigentlich hier sei. „Weiß ich nicht“, gibt dieser zurück, denn auch er hat zwischen Hitze und Abkühlung die Erinnerung verloren. Eine Metapher zum Thema Klimaerwärmung?
Metaphorik und Sinnbilder kommen bei Franz Hohler im strengen Sinne nicht vor. Nur gedankliche Rutschspuren und kleine Rätsel, die der Autor schelmisch vor uns auslegt. Ein einziger Text verwendet in diesem Band die Form eines kollektiven Imperativs. „Flüchtlingsmanifest“ lautet sein Titel. Er mahnt, den Satz vom „vollen Boot“ bitte nicht noch einmal zu verwenden. So sind diese inaktuellen Texte auf eigene Weise aktuell. Gern hätte man auch schon gewusst, wie weit Hohlers Fuß- und Gedankensprünge – vielleicht in einem künftigen Buch? – unter Verhältnissen covidbedingt reduzierter Bewegungsfreiheit führen.
JOSEPH HANIMANN
Metaphorik und Sinnbilder im
engeren Sinne kommen nicht vor,
eher gedankliche Rutschspuren
Franz Hohler:
Fahrplanmäßiger
Aufenthalt.
Luchterhand, München. 107 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Flohsprüngen
Franz Hohlers Prosa für die
Zeit nach der Quarantäne
Der Liedermacher, Kabarettist und Schriftsteller Franz Hohler ist ein Mann der steten Bewegung. Der Gang bis zur Birke vor dem Haus, jener über den Max-Frisch-Platz zum Bahnhof Oerlikon, der über den „Prospekt Mira“ in Krasnojarsk oder der durch die Ordner seines Computers sind bei ihm von derselben Art. Sie bieten Anlass zu Kurzreportagen und Kürzesterzählungen. Belangloses erscheint da bedeutsam, Relevantes beiläufig. Nahes und Fernes verschränken sich zu einer verschobenen Lebensgeografie. Über alles legt sich Hohlers unverwechselbarer Witz. Ein Witz, der trotz seiner Vorliebe für Prosecco nicht perlt und sprüht, sondern in feinen Rinnsalen unsere Alltagserfahrung überzieht.
Das neue Sortiment aus seiner Produktion setzt uns der Siebenundsiebzigjährige unter dem reizvollen Titelparadox eines bewegten Stillstands vor. Während dem fahrplanmäßig vierzehnminütigen Aufenthalt des Regio-Express Nürnberg-Stuttgart in Schwäbisch Hall-Hessental gelangt der vergeblich nach einer Bahnhofsgaststätte suchende Fahrgast im titelgebenden Text zur nahe gelegenen Gedenkstätte eines Lagers, dessen Häftlinge 1945 auf den Todesmarsch nach Dachau geschickt wurden. Um die Weiterfahrt des Zugs nicht zu verpassen, überquert der Erzähler dann verbotenerweise schnell die Gleise und gibt uns Lesern eine ganz andere Marschart vor, als die Häftlinge sie damals auferlegt bekamen. Ob zu Hause ein Amseljunges nach dem Flug in die Scheibe tot liegen bleibt, ob sechs junge Pinguine mit den IMG-Nummern 5626 bis 5631 auf dem Computer entsorgt werden, ob Flüchtlinge aus unserer Gegenwart oder eben KZ-Häftlinge aus der Vergangenheit ins Blickfeld geraten – oft nimmt die alltagsgesättigte Tragik in diesen Texten skurrile Formen an.
Manche von Hohlers Miniaturen gehen von sprachlichen Bizarrerien – pardon: Selbstverständlichkeiten aus. In einem Fachartikel über die Versicherung von Kunstwerktransporten begegnet der Autor dem Wort „Allmählichkeitsschäden“, die – als abblätternde Farbe oder feine Risse im Lack – nicht versicherbar seien. In den Ablagerungen seines Schultergelenks und den weißlichen Stellen im Röntgenbild seiner Knie, sagt er sich, erfahre er solche Allmählichkeitsschäden am eigenen Leib. Und eine dankbare Freude überkommt ihn, für all diese Dinge ein Wort gefunden zu haben. Ähnlich ergeht es beim Besuch eines „desastertoleranten“ Hochsicherheitstrakts, wo die Datenmassen von Bundesbahn, Telefon, Post und Großbanken auf den Servern, zu Deutsch: Dienern, giga- und terabyteweise durchgeschleust werden. Dieses kabelverstöpselte „Hosting“ und „Housing“ kommt ihm plötzlich wie eine munteres Karawanserei für unsere verzappelte Datenmigration vor.
Das Banale kann in diesen Texten allerdings auch ins Fantastische abdriften. Der Blick aus einem mit „Bäckerei“ angeschriebenen Kaffeelokal könnte banaler kaum sein, mit dem großen Schild „ALDI Süd“, dem Automobilhändler und seinen flatternden Škoda-Fahnen daneben, dem Verkehrskreisel und der Shell-Tankstelle. „Wo bin ich, in Wiesloch oder in Wisconsin?“. Beim Verlassen des Lokals fällt der Blick auf die im Kreisel vom Wind bewegten Gewächse: Grashalme, Wiesensalbei, Lupinen, Mohn und Raps, „unsern Augen und den Bienen zuliebe.“ Was weiter? „Meine Augen freut es, Bienen sehe ich keine“.
Im Hallenbad kann ein Schwimmer auch schon mal in den Sog jener dunklen Insel mit Zypressen, einem Boot und ihm zuwinkenden weißen Gestalten geraten, die ihm bekannt vorkommen, ohne dass der Name des Malers Arnold Böcklin genannt zu werden braucht. Und einen Eisberg, der nach seinem Tod in die Hölle kommt, weil er ein paar Schiffbrüche auf dem Gewissen hat, erwartet eine des alten Sisyphos würdige Strafe. Endlos wird er im Heizkessel geschmolzen und im Kühlraum dann wieder eingefroren, verliert dabei durch die ständige Aggregatveränderung jede Erinnerung und will vom vorbeieilenden Teufel wissen, warum er eigentlich hier sei. „Weiß ich nicht“, gibt dieser zurück, denn auch er hat zwischen Hitze und Abkühlung die Erinnerung verloren. Eine Metapher zum Thema Klimaerwärmung?
Metaphorik und Sinnbilder kommen bei Franz Hohler im strengen Sinne nicht vor. Nur gedankliche Rutschspuren und kleine Rätsel, die der Autor schelmisch vor uns auslegt. Ein einziger Text verwendet in diesem Band die Form eines kollektiven Imperativs. „Flüchtlingsmanifest“ lautet sein Titel. Er mahnt, den Satz vom „vollen Boot“ bitte nicht noch einmal zu verwenden. So sind diese inaktuellen Texte auf eigene Weise aktuell. Gern hätte man auch schon gewusst, wie weit Hohlers Fuß- und Gedankensprünge – vielleicht in einem künftigen Buch? – unter Verhältnissen covidbedingt reduzierter Bewegungsfreiheit führen.
JOSEPH HANIMANN
Metaphorik und Sinnbilder im
engeren Sinne kommen nicht vor,
eher gedankliche Rutschspuren
Franz Hohler:
Fahrplanmäßiger
Aufenthalt.
Luchterhand, München. 107 Seiten, 18 Euro.
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»Franz Hohler ist einer, der in Widrigkeiten die Chance einer Entdeckung sieht, die er sonst nicht gemacht hätte.« Ingrid Mylo / Badische Zeitung