»Das klügste Buch des Jahres« - The Economist
In den letzten Jahren hat sich eine neue kulturelle Elite gebildet, die sich anders als die Spaß- und Erlebnisgesellschaft der 1990er- und 2000er-Jahre durch »bewussten Konsum« bzw. betonten Konsum-Verzicht vom Rest der Gesellschaft abzuheben versucht. Es geht der sogenannten »aspirational class« dabei um die richtige Entscheidung, nicht um die günstigste oder teuerste Entscheidung.
Die promovierte Soziologin und Stadtplanerin Elizabeth Currid-Halkett zeichnet in ihrem vielbeachteten Buch ein eindrucksvolles Bild dieser neuen Elite und argumentiert, dass die ethisch und ökologisch wohlinformierten Lifestyle-Entscheidungen der vermeintlich moralisch Überlegenen die Spaltung der Gesellschaft jedoch nicht verringert oder gar überwinden hilft. Im Gegenteil: Die Konsumgewohnheiten der neuen Elite reproduzieren und verstärken sogar noch die Kluft zwischen den mobilen, weltoffenen und gebildeten Schichten und den ohnehin schon Abgehängten, den weniger Entscheidungsfreien.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In den letzten Jahren hat sich eine neue kulturelle Elite gebildet, die sich anders als die Spaß- und Erlebnisgesellschaft der 1990er- und 2000er-Jahre durch »bewussten Konsum« bzw. betonten Konsum-Verzicht vom Rest der Gesellschaft abzuheben versucht. Es geht der sogenannten »aspirational class« dabei um die richtige Entscheidung, nicht um die günstigste oder teuerste Entscheidung.
Die promovierte Soziologin und Stadtplanerin Elizabeth Currid-Halkett zeichnet in ihrem vielbeachteten Buch ein eindrucksvolles Bild dieser neuen Elite und argumentiert, dass die ethisch und ökologisch wohlinformierten Lifestyle-Entscheidungen der vermeintlich moralisch Überlegenen die Spaltung der Gesellschaft jedoch nicht verringert oder gar überwinden hilft. Im Gegenteil: Die Konsumgewohnheiten der neuen Elite reproduzieren und verstärken sogar noch die Kluft zwischen den mobilen, weltoffenen und gebildeten Schichten und den ohnehin schon Abgehängten, den weniger Entscheidungsfreien.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2021Prestigekonsum der Ehrgeizigen
Nachhaltig und diskret, aber spaltend
In seinem scharfzüngigen Klassiker "Die Theorie der feinen Leute" geißelte der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen 1899 den demonstrativen Prestigekonsum der amerikanischen Geldaristokratie als öffentliches Statusgehabe reicher Nichtstuer. An Veblens Konzept des "Geltungskonsums" haben sich seitdem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wie Vance Packard, C. Wright Mills, John Kenneth Galbraith und Pierre Bourdieu abgearbeitet. Unlängst nun auch Elizabeth Currid-Halkett, die an der Universität von Südkalifornien Soziologie lehrt. In ihrem 2017 bei Princeton University Press veröffentlichten Buch "The Sum of Small Things", das kürzlich unter dem Titel "Fair gehandelt?" auf Deutsch erschienen ist, analysiert sie Relevanz und Wirkung von "demonstrativem Konsum" in der heutigen Gesellschaft. Denn ein Jahrhundert nach Veblens "Theorie der feinen Leute" seien durch die massiven Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft Konsum, Status und der Weg zu Status zunehmend infrage gestellt.
Tatsächlich sieht Currid-Halkett Veblens luxusaffine, reiche Müßiggänger von einst heute ersetzt durch junge, studierte, arbeitsame Stadtmenschen mit starker Leistungsmotivation, ähnlichen Lebensvorstellungen und wachsendem Wohlstand, die sie "aspirational class" (deutsch: "aufstrebende Klasse") nennt. Diese Leute essen Bio-Rucola, unbehandelte Erdbeeren und frei laufende Hühner. Sie tragen Baumwolle aus kleinen Manufakturen, verachten Massenware und lesen das linksliberale Magazin The New Yorker. Ihre Kinder werden lange gestillt und schon im Vorschulalter zum Musik- und Yoga-Unterricht angemeldet. Die beruflich und vom Budget her keineswegs homogene Gruppe scheint ein spätes Produkt der industriellen Revolution, die mit immer niedrigeren Preisen für materielle Güter letztlich dafür sorgte, dass sich demonstrativer Konsum zur massenkompatiblen Verhaltensweise demokratisierte und so an elitärem Reiz verlor. Currid-Halketts aufstrebende Klasse setzt deshalb zur sozialen Distinktion nicht mehr sichtbar auf teure Luxusartikel wie Schmuck, Handtaschen und Autos. Vielmehr nutzt sie Kennerschaft und Informiertheit, um "nicht ohne einen Hauch von Moralität und Selbstgerechtigkeit" ethisch und ökologisch "richtige" Konsumentscheide zu treffen, die vor allem individuell ein gutes Gefühl bescheren wollen.
Weitaus aufwendiger befriedige die neue Elite allerdings ihr gesellschaftliches Geltungsbedürfnis, indem sie leise und unauffällig das Gros ihrer Finanzmittel in hohe Ausgaben für Bildung, Erziehung und Gesundheit sowie zeitsparende Hilfskräfte für Haus, Hof und Kinderbetreuung steckt. Das schaffe nicht nur Privilegien für das Wohlleben der eigenen Person, sagt die Autorin. Mit hohen Investitionen in Eliteuniversitäten, Privatschulen und kostspielige Frühförderung aller Art lasse sich der familiäre Status beim Nachwuchs reproduzieren. Solcher Prestigekonsum, auch wenn er als "unauffälliger Konsum" diskret daherkomme, spalte jedoch die Gesellschaft. Er verstelle den Blick auf die weniger komfortable Lebensrealität in der Bevölkerung und verstärke soziale Ungleichheit. Die Spaltungsthese erregte viel Aufsehen und befeuerte in Trump-Zeiten die Diskussion über die Gründe für das Erstarken rechter, autoritärer Strömungen.
Die Aussagen zu wachsender Polarisierung in der amerikanischen Gesellschaft belegt Currid-Halkett in ihrem Buch mit sorgsam ausgewerteten Daten zum Kaufverhalten amerikanischer Haushalte. Sie stammen aus den detaillierten, jährlichen Umfragen der nationalen Statistikbehörde. Trotz der Menge an Zahlen, Tabellen und Grafiken liest sich der vielstimmige, sozialwissenschaftlich breit untermauerte Text der Soziologin angenehm. Eingestreute eigene Erfahrungen machen ihn zusätzlich authentisch.
Denn Currid-Halkett verhehlt nicht, dass sie selbst zu der Gruppe gehört, die sie mit einigem Staunen und nicht ohne Ironie ins Visier nimmt. So etwa, wenn sie, die zwei kleine Söhne aufzieht, "Mutterschaft" in ihren Kreisen als "demonstrativen Müßiggang im 21. Jahrhundert" definiert. Die hitzigen Debatten dort über das Stillen als "moralische Pflicht" hält sie für sozial nicht zu vertreten. Muttermilch oder Flaschenfütterung für Babys, das sei eine Klassenfrage, sagt sie. Denn ökonomisch benachteiligte Mütter in bescheidenen Jobs könnten die Forderung nach umfänglichem Stillen ihrer Kinder weder zeitlich noch finanziell einlösen. Die eigene Person als teilnehmende Beobachterin wird auch im Kapitel über "Demonstrative Herstellung" und die nicht nur in Amerika boomenden Märkte für regionale, nachhaltige Produkte sichtbar. Ähnlich auf den 54 Seiten über das urbane Leben in Metropolen als "Paradiesen des Prestigekonsums" wie etwa New York, wo Currid-Halkett lange gelebt hat.
Am Ende steht der Eindruck, dass das vorliegende Buch ungeachtet seiner amerikanischen Besonderheiten aktuelle Konsumentwicklungen weltweit spiegelt und wichtige Denkanstöße gibt. Auch Thorstein Veblen als früher Polemiker gegen kapitalistische Wohlstandsexzesse fände es sicher interessant und bedenkenswert, "dass heutige Statussymbole besonders verhängnisvoll sind, weil sie Praktiken und Güter einschließen, die eine viel weitreichendere Bedeutung als materielle Güter haben". ULLA FÖLSING
Elizabeth Currid-Halkett: Fair gehandelt? Wie unser Konsumverhalten die Gesellschaft spaltet, übersetzt von Judith Wenk, btb Verlag, München 2021, 12 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachhaltig und diskret, aber spaltend
In seinem scharfzüngigen Klassiker "Die Theorie der feinen Leute" geißelte der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen 1899 den demonstrativen Prestigekonsum der amerikanischen Geldaristokratie als öffentliches Statusgehabe reicher Nichtstuer. An Veblens Konzept des "Geltungskonsums" haben sich seitdem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wie Vance Packard, C. Wright Mills, John Kenneth Galbraith und Pierre Bourdieu abgearbeitet. Unlängst nun auch Elizabeth Currid-Halkett, die an der Universität von Südkalifornien Soziologie lehrt. In ihrem 2017 bei Princeton University Press veröffentlichten Buch "The Sum of Small Things", das kürzlich unter dem Titel "Fair gehandelt?" auf Deutsch erschienen ist, analysiert sie Relevanz und Wirkung von "demonstrativem Konsum" in der heutigen Gesellschaft. Denn ein Jahrhundert nach Veblens "Theorie der feinen Leute" seien durch die massiven Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft Konsum, Status und der Weg zu Status zunehmend infrage gestellt.
Tatsächlich sieht Currid-Halkett Veblens luxusaffine, reiche Müßiggänger von einst heute ersetzt durch junge, studierte, arbeitsame Stadtmenschen mit starker Leistungsmotivation, ähnlichen Lebensvorstellungen und wachsendem Wohlstand, die sie "aspirational class" (deutsch: "aufstrebende Klasse") nennt. Diese Leute essen Bio-Rucola, unbehandelte Erdbeeren und frei laufende Hühner. Sie tragen Baumwolle aus kleinen Manufakturen, verachten Massenware und lesen das linksliberale Magazin The New Yorker. Ihre Kinder werden lange gestillt und schon im Vorschulalter zum Musik- und Yoga-Unterricht angemeldet. Die beruflich und vom Budget her keineswegs homogene Gruppe scheint ein spätes Produkt der industriellen Revolution, die mit immer niedrigeren Preisen für materielle Güter letztlich dafür sorgte, dass sich demonstrativer Konsum zur massenkompatiblen Verhaltensweise demokratisierte und so an elitärem Reiz verlor. Currid-Halketts aufstrebende Klasse setzt deshalb zur sozialen Distinktion nicht mehr sichtbar auf teure Luxusartikel wie Schmuck, Handtaschen und Autos. Vielmehr nutzt sie Kennerschaft und Informiertheit, um "nicht ohne einen Hauch von Moralität und Selbstgerechtigkeit" ethisch und ökologisch "richtige" Konsumentscheide zu treffen, die vor allem individuell ein gutes Gefühl bescheren wollen.
Weitaus aufwendiger befriedige die neue Elite allerdings ihr gesellschaftliches Geltungsbedürfnis, indem sie leise und unauffällig das Gros ihrer Finanzmittel in hohe Ausgaben für Bildung, Erziehung und Gesundheit sowie zeitsparende Hilfskräfte für Haus, Hof und Kinderbetreuung steckt. Das schaffe nicht nur Privilegien für das Wohlleben der eigenen Person, sagt die Autorin. Mit hohen Investitionen in Eliteuniversitäten, Privatschulen und kostspielige Frühförderung aller Art lasse sich der familiäre Status beim Nachwuchs reproduzieren. Solcher Prestigekonsum, auch wenn er als "unauffälliger Konsum" diskret daherkomme, spalte jedoch die Gesellschaft. Er verstelle den Blick auf die weniger komfortable Lebensrealität in der Bevölkerung und verstärke soziale Ungleichheit. Die Spaltungsthese erregte viel Aufsehen und befeuerte in Trump-Zeiten die Diskussion über die Gründe für das Erstarken rechter, autoritärer Strömungen.
Die Aussagen zu wachsender Polarisierung in der amerikanischen Gesellschaft belegt Currid-Halkett in ihrem Buch mit sorgsam ausgewerteten Daten zum Kaufverhalten amerikanischer Haushalte. Sie stammen aus den detaillierten, jährlichen Umfragen der nationalen Statistikbehörde. Trotz der Menge an Zahlen, Tabellen und Grafiken liest sich der vielstimmige, sozialwissenschaftlich breit untermauerte Text der Soziologin angenehm. Eingestreute eigene Erfahrungen machen ihn zusätzlich authentisch.
Denn Currid-Halkett verhehlt nicht, dass sie selbst zu der Gruppe gehört, die sie mit einigem Staunen und nicht ohne Ironie ins Visier nimmt. So etwa, wenn sie, die zwei kleine Söhne aufzieht, "Mutterschaft" in ihren Kreisen als "demonstrativen Müßiggang im 21. Jahrhundert" definiert. Die hitzigen Debatten dort über das Stillen als "moralische Pflicht" hält sie für sozial nicht zu vertreten. Muttermilch oder Flaschenfütterung für Babys, das sei eine Klassenfrage, sagt sie. Denn ökonomisch benachteiligte Mütter in bescheidenen Jobs könnten die Forderung nach umfänglichem Stillen ihrer Kinder weder zeitlich noch finanziell einlösen. Die eigene Person als teilnehmende Beobachterin wird auch im Kapitel über "Demonstrative Herstellung" und die nicht nur in Amerika boomenden Märkte für regionale, nachhaltige Produkte sichtbar. Ähnlich auf den 54 Seiten über das urbane Leben in Metropolen als "Paradiesen des Prestigekonsums" wie etwa New York, wo Currid-Halkett lange gelebt hat.
Am Ende steht der Eindruck, dass das vorliegende Buch ungeachtet seiner amerikanischen Besonderheiten aktuelle Konsumentwicklungen weltweit spiegelt und wichtige Denkanstöße gibt. Auch Thorstein Veblen als früher Polemiker gegen kapitalistische Wohlstandsexzesse fände es sicher interessant und bedenkenswert, "dass heutige Statussymbole besonders verhängnisvoll sind, weil sie Praktiken und Güter einschließen, die eine viel weitreichendere Bedeutung als materielle Güter haben". ULLA FÖLSING
Elizabeth Currid-Halkett: Fair gehandelt? Wie unser Konsumverhalten die Gesellschaft spaltet, übersetzt von Judith Wenk, btb Verlag, München 2021, 12 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Ulla Fölsing holt sich Denkanstöße in Sachen Konsum bei der Soziologin Elizabeth Currid-Halkett. Auch wenn die Autorin vornehmlich die USA in den Blick nimmt, um die Wende vom elitären Konsum zum demokratisierten Konsum und weiter zum die Gesellschaft spaltenden Prestigekonsum mit statistischen Daten, Grafiken und eigenen Erfahrungen zu illustrieren, erkennt Fölsing die Allgemeingültigkeit der Studie. Gut gefallen hat ihr, dass die Autorin sich selbst als Teil der von ihr beobachteten demonstrativen Konsumenten mit Sinn für Bio-Produkte und Baby-Yoga sieht und ihren Gegenstand nicht nur mit reichem sozialwissenschaftlichem Material untermauert, sondern immer wieder auch mit Ironie betrachtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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