EINFACHE WAHRHEITEN FÜR EINE KOMPLIZIERTE WELTCorona ist eine Erfindung der Pharmaindustrie! Menschen, die daran erkranken, müssen so für ihre Sünden büßen! Oder: Das Virus wurde in chinesischen Geheimlaboren gezüchtet!Verschwörungstheorien verbreiten sich nicht nur im Netz wie Lauffeuer und sind schon lange kein Randphänomen mehr. Katharina Nocun und Pia Lamberty beschreiben, wie sich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft durch Verschwörungstheorien radikalisieren und die Demokratie als Ganzes ablehnen.Welche Rolle spielen neue Medien in diesem Prozess? Wie schnell wird jeder von uns zu einem Verschwörungstheoretiker? Und wie können wir verdrehte Fakten aufdecken und uns vor Meinungsmache schützen? Aus dem Inhalt:»Fake News und Verschwörungserzählungen, darin waren sich Experten weltweit einig, haben sich direkt zu Beginn der COVID-19-Pandemie ähnlich rasant verbreitet wie das Virus selbst. Bereits im Februar 2020 warnte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus,dass die Welt es nicht nur mit einer Pandemie, sondern auch mit einer »Infodemie« zu tun habe. Viele der Mythen, die weltweit Verbreitung fanden, kreisten um die Idee, dass es sich bei dem Virus um eine Biowaffe handele, die angeblich in einem Labor, dem Wuhan Institute of Virology, hergestellt worden sei. Einige Medien zitierten noch im Januar 2020 »Experten«, die darüber spekulierten, ob das Virus das Produkt eines chinesischen Biowaffenexperiments sein könnte. Im Netz kursierten zahllose Verschwörungserzählungen, die sich mit dem neuartigen Coronavirus befassten. In YouTube-Videos und Blogs wurde etwa verbreitet, Microsoft-Gründer Bill Gates sei für die Pandemie verantwortlich. Einige Verschwörungsideologen mutmaßten zudem, es hätte bei der COVID-19 Pandemie keine Todesopfer gegeben und bei den Angehörigen und ehemals Erkrankten, die in der Presse zu sehen waren, handele es sich allesamt um bezahlte Schauspieler. Eine solche Haltung kann gefährliche Konsequenzen haben. Wer meint, dass das Virus nicht gefährlicher sei als eine Erkältung, hält sich nicht an empfohlene Maßnahmen. So gefährdet man nicht nur sich selbst, sondern wird auch zum Risiko für andere.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2020Der Glaube an die Lüge
Theoriefern: Wie sich "Fake Facts" ausbreiten
Angela Merkel sei die Tochter von Adolf Hitler - so lautet eine Behauptung, an die mehr Leute glauben, als man sich das vorstellen mag. Aber ist jemand, der solchen Unsinn verbreitet, wirklich ein Verschwörungstheoretiker? Was die so Genannten als Beleidigung auffassen, ist noch zu viel der Ehre, befinden die Netzaktivistin Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty in ihrem Buch "Fake Facts": Wer die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, als Theorie bezeichnet, gibt ihr den Anschein von etwas Wissenschaftlichem. Dabei ist nicht jede Behauptung eine Theorie. Manches ist einfach nur eine Lüge.
Nocun und Lamberty schlagen neue Begriffe vor, die im Gegensatz zur Lüge die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Behauptung noch nicht widerlegt sein könnte. Das ist sinnvoll, denn wie soll man widerlegen, dass Echsenmenschen derzeit gegen Klone kämpfen, und zwar in unterirdischen Gängen, die von Europa nach Amerika reichen? Diese Behauptung kursiert tatsächlich. Die Autorinnen prägen den Begriff des "Verschwörungsmythos", mit dem sie übergeordnete Narrative beschreiben. Darunter fällt etwa die antisemitische Legende von der angeblichen "jüdischen Weltverschwörung". Wer in einschlägigen Gruppen mitliest, findet den immer wiederkehrenden Dialog: "Aber warum sollte jemand so etwas tun? Und wer?" - "Die Juden sind das, sie wollen die Weltherrschaft."
Zudem führen Nocun und Lamberty den Begriff der "Verschwörungserzählung" ein. Dieser bezeichnet eine konkrete Geschichte wie die von den Echsenmenschen oder den Klassiker, die Mondlandung habe nie stattgefunden. Wer so etwas verbreitet, verdient den Namen "Verschwörungstheoretiker" nicht. In "Fake Facts" heißt er "Verschwörungsideologe" - eine deutlich bessere Bezeichnung gerade angesichts der Tatsache, dass diese Ideologen keine harmlosen Irren sind, sondern oftmals in großem Stil Hetze betreiben.
Hierzu bietet das Buch einen umfassenden Überblick und geht auch auf die aktuellen Entwicklungen in der Corona-Zeit ein. Die Autorinnen beschreiben, wie Youtube zur Verschwörungsplattform wurde, und erklären, warum in solchen Krisenzeiten, die für viele Menschen Unsicherheit und Kontrollverlust bedeuten, die Empfänglichkeit für erlogene Geschichten besonders groß ist. Denn das Phänomen ist psychologisch besser untersucht, als die öffentliche Wahrnehmung von "diesen Irren" vermuten lassen würde. Dass es eine regelrechte Verschwörungsmentalität gibt, die Menschen dazu veranlasst, sogar einander widersprechende Geschichten zu glauben, solange man ihnen nur sagt, dass sie damit einer Minderheit angehörten, erklärt manche Auswüchse.
Das Bewusstsein, besonders zu sein und auf der Seite derjenigen zu stehen, die es immer schon gewusst haben, gehört fest zum Selbstbild der Verschwörungsideologen. So fest, dass sie es nicht loslassen wollen, wie folgendes Beispiel illustriert: Eine Frau aus einem Vorort von Chicago hatte 1954 ein kleines Grüppchen um sich geschart mit der Behauptung, eine Flut werde alle Menschen töten. Ein Ufo werde aber diejenigen retten, die ihr glauben. Es gab ein festes Datum, aber weder Aliens noch Überschwemmungen zeigten sich. Da sich Forscher in die Gruppe eingeschleust hatten, sind die Reaktionen der Anhänger bekannt: Wenige strichen enttäuscht die Segel, einige ließen sich immer wieder aufs Neue vertrösten und schließlich sogar einreden, ihr starker Glaube habe die Welt gerettet. Sie waren derart überzeugt von dieser neuen Lüge, dass sie sogar darüber sprachen, die Medien davon in Kenntnis zu setzen.
Wo es so konkret wird, ist "Fake Facts" besonders lehrreich. Denn es gehört zum Nachdenken über Verschwörungserzählungen, den Grad an Absurdität derselben miteinzubeziehen. Ob man sich mit dem Gedanken wohl fühlt oder nicht: Dass sich ein nicht zu vernachlässigender Teil der Gesellschaft von jeglicher Ratio abkoppelt, ist ein Phänomen, das man im Auge behalten sollte. Nicht nur akademisch, sondern auch persönlich. Die Autorinnen geben Empfehlungen, wie man auf Betroffene im Bekanntenkreis reagieren sollte - und keine davon lautet, sie zu ignorieren.
JULIA BÄHR
Katharina Nocun und Pia Lamberty:
"Fake Facts".
Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.
Quadriga Verlag,
Köln 2020. 352 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Theoriefern: Wie sich "Fake Facts" ausbreiten
Angela Merkel sei die Tochter von Adolf Hitler - so lautet eine Behauptung, an die mehr Leute glauben, als man sich das vorstellen mag. Aber ist jemand, der solchen Unsinn verbreitet, wirklich ein Verschwörungstheoretiker? Was die so Genannten als Beleidigung auffassen, ist noch zu viel der Ehre, befinden die Netzaktivistin Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty in ihrem Buch "Fake Facts": Wer die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, als Theorie bezeichnet, gibt ihr den Anschein von etwas Wissenschaftlichem. Dabei ist nicht jede Behauptung eine Theorie. Manches ist einfach nur eine Lüge.
Nocun und Lamberty schlagen neue Begriffe vor, die im Gegensatz zur Lüge die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Behauptung noch nicht widerlegt sein könnte. Das ist sinnvoll, denn wie soll man widerlegen, dass Echsenmenschen derzeit gegen Klone kämpfen, und zwar in unterirdischen Gängen, die von Europa nach Amerika reichen? Diese Behauptung kursiert tatsächlich. Die Autorinnen prägen den Begriff des "Verschwörungsmythos", mit dem sie übergeordnete Narrative beschreiben. Darunter fällt etwa die antisemitische Legende von der angeblichen "jüdischen Weltverschwörung". Wer in einschlägigen Gruppen mitliest, findet den immer wiederkehrenden Dialog: "Aber warum sollte jemand so etwas tun? Und wer?" - "Die Juden sind das, sie wollen die Weltherrschaft."
Zudem führen Nocun und Lamberty den Begriff der "Verschwörungserzählung" ein. Dieser bezeichnet eine konkrete Geschichte wie die von den Echsenmenschen oder den Klassiker, die Mondlandung habe nie stattgefunden. Wer so etwas verbreitet, verdient den Namen "Verschwörungstheoretiker" nicht. In "Fake Facts" heißt er "Verschwörungsideologe" - eine deutlich bessere Bezeichnung gerade angesichts der Tatsache, dass diese Ideologen keine harmlosen Irren sind, sondern oftmals in großem Stil Hetze betreiben.
Hierzu bietet das Buch einen umfassenden Überblick und geht auch auf die aktuellen Entwicklungen in der Corona-Zeit ein. Die Autorinnen beschreiben, wie Youtube zur Verschwörungsplattform wurde, und erklären, warum in solchen Krisenzeiten, die für viele Menschen Unsicherheit und Kontrollverlust bedeuten, die Empfänglichkeit für erlogene Geschichten besonders groß ist. Denn das Phänomen ist psychologisch besser untersucht, als die öffentliche Wahrnehmung von "diesen Irren" vermuten lassen würde. Dass es eine regelrechte Verschwörungsmentalität gibt, die Menschen dazu veranlasst, sogar einander widersprechende Geschichten zu glauben, solange man ihnen nur sagt, dass sie damit einer Minderheit angehörten, erklärt manche Auswüchse.
Das Bewusstsein, besonders zu sein und auf der Seite derjenigen zu stehen, die es immer schon gewusst haben, gehört fest zum Selbstbild der Verschwörungsideologen. So fest, dass sie es nicht loslassen wollen, wie folgendes Beispiel illustriert: Eine Frau aus einem Vorort von Chicago hatte 1954 ein kleines Grüppchen um sich geschart mit der Behauptung, eine Flut werde alle Menschen töten. Ein Ufo werde aber diejenigen retten, die ihr glauben. Es gab ein festes Datum, aber weder Aliens noch Überschwemmungen zeigten sich. Da sich Forscher in die Gruppe eingeschleust hatten, sind die Reaktionen der Anhänger bekannt: Wenige strichen enttäuscht die Segel, einige ließen sich immer wieder aufs Neue vertrösten und schließlich sogar einreden, ihr starker Glaube habe die Welt gerettet. Sie waren derart überzeugt von dieser neuen Lüge, dass sie sogar darüber sprachen, die Medien davon in Kenntnis zu setzen.
Wo es so konkret wird, ist "Fake Facts" besonders lehrreich. Denn es gehört zum Nachdenken über Verschwörungserzählungen, den Grad an Absurdität derselben miteinzubeziehen. Ob man sich mit dem Gedanken wohl fühlt oder nicht: Dass sich ein nicht zu vernachlässigender Teil der Gesellschaft von jeglicher Ratio abkoppelt, ist ein Phänomen, das man im Auge behalten sollte. Nicht nur akademisch, sondern auch persönlich. Die Autorinnen geben Empfehlungen, wie man auf Betroffene im Bekanntenkreis reagieren sollte - und keine davon lautet, sie zu ignorieren.
JULIA BÄHR
Katharina Nocun und Pia Lamberty:
"Fake Facts".
Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.
Quadriga Verlag,
Köln 2020. 352 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Buch zur Stunde." Ralf Dörwang, titel thesen temperamente, 17.05.2020 "ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit" Matthias Meisner, Tagesspiegel, 17.06.2020 "Eines der derzeit wichtigsten politischen Bücher." Thomas Schürmann, HÖRZU, 22.06.2020 "Fake Facts ist das ideale Buch für einen Sommer, in dem ein veganer Imbissbudenbetreiber mit antisemitischen Sprüchen Anhänger um sich schart, in dem rechtsextreme Elitesoldaten auffliegen und sich manche Menschen eher vor Bill Gates als vor einer Pandemie fürchten." Christian Rabhansl, DLF Lesart, 04.07.2020 "Wer sich über das Thema Verschwörungserzählungen leicht lesbar, gut verständlich und breit informieren möchte, ist bei den Autorinnen in guten Händen und kann sicher sein, ausschließlich überprüfbare Erklärungen, Thesen und Erläuterungen präsentiert zu bekommen." Matthias Hoffmann, AK-Beiträge, 05/2021