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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2010

So kindisch ist es, Regeln zu befolgen und zu brechen
Die stille Perversion der Ausgrenzung: Colin McAdams mitreißender Internatsroman „Fall“ verzichtet auf die viktorianischen Klischees von Tweed und Dudelsack
Nichts ist so brutal wie die Jugendzeit. Das zerstörerische Potential, das sich in dieser Lebensphase entfaltet, richtet sich sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere. Ein Internat ist der Ort, an dem derartige Kräfte kanalisiert, bestenfalls domestiziert werden sollen. An Texten, die davon erzählen, ist die Literaturgeschichte reich. Wer sich als Autor, zumal als junger, hier einreiht, sollte dem Strom der Adoleszenzerzählungen etwas hinzuzufügen haben.
Der 1971 geborene Colin McAdam hat den Versuch unternommen, den Internatsroman quasi als Anti-Internatsroman zu inszenieren. Das Ergebnis ist ein vielleicht nicht durch und durch gelungenes, aber hoch interessantes und über weite Strecken mitreißendes Buch. Sämtlichen Anschlüssen an eine gewisse Gemütlichkeit, die dem Genre paradoxerweise – schließlich geht es zumeist um die Darstellung von Leid und Repression – nicht selten anhaftet, erteilt McAdam gleich zu Beginn eine Absage: St. Ebury, Schauplatz der Handlung, ist zwar ein kanadisches Eliteinternat, und die Insassen sind größtenteils Söhne reicher Leute, und doch: „Es war keine Schule mit Dudelsack und Profs und Tweed. Sie war keine, wo man sprach, wie man nicht spricht. Sie war weder im schottischen Hochland noch in den Hügeln Neuenglands.“ Jegliche Nostalgie- und Idyllisierungstendenzen treibt McAdam seinem Sujet umgehend aus.
Derjenige, der da spricht, heißt Noel und ist eine der zwei wesentlichen Erzählstimmen, die den Roman tragen und die Geschehnisse einiger weniger Monate in St. Ebury zwölf Jahre später zu rekonstruieren versuchen. Noel ist 18 Jahre alt, Sohn eines nach Australien versetzten Diplomaten; ein zu Beginn noch schmächtiger Typ, der das Krafttraining als Kompensation für sich entdeckt. Noels hohe Intelligenz ist unverkennbar, sein unheimlicher Hang zur Gewalt offenbart sich erst nach und nach. Der zweite Erzähler ist Noels gleichaltriger Zimmergenosse Julius, Sohn des amerikanischen Botschafters in Kanada, gut aussehende Sportskanone – eine Figur, die als Klischee angelegt wird, um als solches dekonstruiert zu werden. Denn Julius ist nicht der altbekannte Sonnyboy, sondern ein Schwerverliebter und daran durchaus auch Leidender. Fallon, genannt Fall, Julius Freundin, heißt das Mädchen, das jeder sich wünscht: ungeheuer schön und klug, gewandt und spaßbereit.
Es ist Noels tiefe Leidenschaft für Fall, die die Dinge ins Rollen bringen wird. Doch die verstörende Dreiecksgeschichte steht nur paradigmatisch für die selbstverständliche Gewalt, von der der gesamte Roman grundiert wird. An der Oberfläche funktioniert das Internatsleben nach den konventionellen Mustern, kleinen Schülerscherzen wie mit Rasierschaum gefüllten Kopfkissen inklusive. Doch schnell muss man zu der Erkenntnis gelangen, dass die meisten dieser Jungs schlicht und einfach böse sind. Sie sind es nicht wegen verkorkster Familienverhältnisse oder aus einer Abwehrreaktion, sondern aus sich heraus. Sie sind wie eingesperrte Tiere, denen die Begriffe eines geregelten Miteinanders fremd sind: „Aber“, so schreibt Noel rückblickend, „diese ganzen Regeln (. . .) Wir waren so kindisch, sie zu befolgen, und kindisch, sie zu brechen. Es waren Regeln, die mich auf das Pochen des Bluts oder die animalischen Entscheidungen, die mein Leben tatsächlich leiteten, so schlecht vorbereitet hatten.“
Dem hochreflektierten Duktus Noels setzt Colin McAdam Julius’ rein auf den Augenblick fixierte Assoziationsfetzen entgegen. Das ist eine freiwillige Verarmung sprachlicher Mittel und das Problem des Romans, denn seine im Stakkatostil aneinandergereihten Erlebnis- und Beobachtungsmomente, zum Teil über zwanzig oder mehr Seiten, sind eher manieriert als anschaulich; zudem sind sie, im Gegensatz zu Noels sinistren Einlassungen, eine Einbahnstraße: Julius’ Liebe zu Fall und die Angst, sie zu verlieren, werden perspektivisch so radikal verengt, dass die Figur Fall selbst ungreifbar bleibt: kein Charakter, sondern ein Gefäß, in das Julius seine Sehnsüchte legt.
Dass es zu einer oder gleich mehreren Katastrophen kommen wird, steht fest. Kompositorisch geschickt ist es, wie McAdam darauf hinschreibt: Es gibt das Davor und das Danach; der Kern aber bleibt lange verborgen. Dreh- und Angelpunkt von „Fall“ ist Noel, eine Figur zwischen Selbstdistanz und dem Drang zur unverstellten Authentizität des Fühlens. „Ich habe“, so Noel, „oft gedacht, stille Menschen seien die interessantesten, nicht, weil sie nachdenkliche Antworten geben können, sondern weil die lautere Welt sie ganz allgemein in eine Art Perversion gedrängt hat.“ Die stille Perversion – sie ist in „Fall“ beängstigend gut eingefangen. CHRISTOPH SCHRÖDER
COLIN McADAM: Fall. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 384 Seiten, 24,90 Euro.
Blick zurück: Zwölf Jahre danach versucht Noel im Roman, die verstörende Dreiecksgeschichte zwischen ihm, seinem Feund Julius und dem schönen Mädchen Fall im kanadischen Eliteinternat St. Ebury zu rekonstruieren. Foto: www.plainpicture.com
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