"Von Aristoteles stammt der Satz: »Jedwedes Ding hat seine endgültige Bestimmung; und ruht nicht eher, bis es sie erreicht hat.« Diese Einsieht ist auch Albert Egberts bewußt, der in Nimwegen Philosophie studiert und - auf Umwegen - seine persönliche Bestimmung sucht. Einiges hat er bereits erreicht: Er hat sich aus der provinziellen Enge seiner ärmlichen Herkunft im Süden der Niederlande gelöst und es geschafft, dank seines Freundes Thjum Schwanke, Sproß einer reichen Fleischwarenfabrikantendynastie, ein Haus dieser Familie mit seinem Kumpan bewohnen zu können. Doch nun befällt ihn ein Ekel gegenüber allem und jedem. Diesen können auch die ständigen Besäufnisse und Feten nicht beseitigen - im Gegenteil. Eine dieser Feten führt schließlich dazu, daß die beiden Studenten das Haus räumen müssen. In seinem Bemühen, voranzukommen, strandet Egberts im Haus der Eltern, also an seinem Ausgangspunkt. Ist folglich die Rückkehr zu seinen Ursprüngen seine Bestimmung? Hat er mit den ihn ständig begleitenden Zweifeln über seine Herkunft recht? Ist sein legitimer Vater vielleicht doch nicht sein wirklicher Vater?"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2003Kleines Wort, großer Roman
A. F. Th. van der Heijden
Genau um 16.15 Uhr war er fertig geworden: 950 Kassetten hatte Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden für den Suhrkamp Verlag signiert. Jede kostet 128 Euro und enthält acht Bücher, die zwischen 1977 und 1996 in den Niederlanden verfaßt und dort seit 1983 veröffentlicht wurden. Unter dem Titel "Die zahnlose Zeit" liegen sie jetzt in der kongenialen deutschen Übersetzung Helga van Beuningens vor: "Die Schlacht um die Blaubrücke" als Prolog, "Fallende Eltern" als erster Band, "Das Gefahrendreieck" als zweiter, "Der Anwalt der Hähne" als vierter, an den sich als Intermezzo "Der Widerborst" anschließt, und schließlich die beiden Teilbände "Der Gerichtshof der Barmherzigkeit" (3.1.) und "Unterm Pflaster der Sumpf" (3.2.). Als Orientierungshilfe hat der Verfasser dem siebenbändigen Werk ein "Gruppenporträt" seiner 400 Figuren beigelegt.
A. F. Th. van der Heijden liest selten, aber nun hat er sich doch im Frankfurter Literaturhaus mit seinem grandiosen Romanzyklus vorgestellt. Programmchefin Maria Gazzetti und der niederländische Generalkonsul Jan Zaadhof begrüßten den Schriftsteller und seine Übersetzerin, Lektor Raimund Fellinger pries die Übersetzung als "autonomes deutsches Werk", bevor er das Publikum mit einem ambitionierten Essay in das Werk seines Autors einführte. Umfang und Panorama der "Zahnlosen Zeit" hat deutsche Rezensenten veranlaßt, den Zyklus mit Prousts "Recherche", mit Joyce' "Ulysses", mit Balzacs "Comédie humaine", Dantes "Commedia", Célines "Voyage" und Uwe Johnsons "Jahrestagen" zu vergleichen - für Fellinger nur ein Schutz vor der Beschäftigung mit dem Gegenstand.
Dieser verdanke seine Singularität dem Wörtchen "und" als Movens des Gesamtzyklus. Mit dem "und" hebe van der Heijden die Zeit auf und lasse "im assoziativen Gedächtnis unterschiedliche Ereignisse aus verschiedenen Zeiten in einem Moment zusammenschießen". Um die Erinnerung zu synchronisieren, müsse der Autor solche Momente genau bezeichnen. Wie jenen Mittwoch, den 23. Juli 1980, mit dem der Prolog schließt und auch der dritte Band endet, nachdem er damit ebenfalls begonnen, dann aber über 1400 Seiten in die frühen siebziger Jahre zurückgegriffen hatte. Überdies vermittelt das "und" nach Fellinger auch zwischen den beiden Erzählern van der Heijden und seinem Helden Albert Egberts, der seine Vita einem Ghostwriter als Rohmaterial zur Verfügung stellt. Diesen Ich-Erzähler hat van der Heijden auf sein eigenes früheres Pseudonym Patrizio Canaponi getauft.
Schließlich soll das "und" auch den Leser einholen. Oder vielmehr die Hörer, denen an diesem Abend vier Passagen von dem Autor aus dem niederländischen Original und von Helga van Beuningen aus der entsprechenden Übersetzung präsentiert wurden. Aus dem Band 3.1. erfuhren sie von Alberts Geburtstag kurz vor Mitternacht des 30. April 1950, dem Geburtstag auch der niederländischen Königin, ein Stichdatum, über das die individuelle Vita des Helden mit dem Staat, an dem er sich später reiben wird, korreliert. In dem Band 3.2. lernt das Publikum Albert als Heroinsüchtigen kennen, der sich schließlich mit einem Mord an dem Neonazi Arend-Jan Bartscheer selbst ins Gefängnis befördern und so von der Droge befreien will. Schon diese wenigen Kostproben belegten die kompositorische Kraft, die hier am Werke war, um die ausschweifenden Abschweifungen des Autors zusammenzuhalten.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
A. F. Th. van der Heijden
Genau um 16.15 Uhr war er fertig geworden: 950 Kassetten hatte Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden für den Suhrkamp Verlag signiert. Jede kostet 128 Euro und enthält acht Bücher, die zwischen 1977 und 1996 in den Niederlanden verfaßt und dort seit 1983 veröffentlicht wurden. Unter dem Titel "Die zahnlose Zeit" liegen sie jetzt in der kongenialen deutschen Übersetzung Helga van Beuningens vor: "Die Schlacht um die Blaubrücke" als Prolog, "Fallende Eltern" als erster Band, "Das Gefahrendreieck" als zweiter, "Der Anwalt der Hähne" als vierter, an den sich als Intermezzo "Der Widerborst" anschließt, und schließlich die beiden Teilbände "Der Gerichtshof der Barmherzigkeit" (3.1.) und "Unterm Pflaster der Sumpf" (3.2.). Als Orientierungshilfe hat der Verfasser dem siebenbändigen Werk ein "Gruppenporträt" seiner 400 Figuren beigelegt.
A. F. Th. van der Heijden liest selten, aber nun hat er sich doch im Frankfurter Literaturhaus mit seinem grandiosen Romanzyklus vorgestellt. Programmchefin Maria Gazzetti und der niederländische Generalkonsul Jan Zaadhof begrüßten den Schriftsteller und seine Übersetzerin, Lektor Raimund Fellinger pries die Übersetzung als "autonomes deutsches Werk", bevor er das Publikum mit einem ambitionierten Essay in das Werk seines Autors einführte. Umfang und Panorama der "Zahnlosen Zeit" hat deutsche Rezensenten veranlaßt, den Zyklus mit Prousts "Recherche", mit Joyce' "Ulysses", mit Balzacs "Comédie humaine", Dantes "Commedia", Célines "Voyage" und Uwe Johnsons "Jahrestagen" zu vergleichen - für Fellinger nur ein Schutz vor der Beschäftigung mit dem Gegenstand.
Dieser verdanke seine Singularität dem Wörtchen "und" als Movens des Gesamtzyklus. Mit dem "und" hebe van der Heijden die Zeit auf und lasse "im assoziativen Gedächtnis unterschiedliche Ereignisse aus verschiedenen Zeiten in einem Moment zusammenschießen". Um die Erinnerung zu synchronisieren, müsse der Autor solche Momente genau bezeichnen. Wie jenen Mittwoch, den 23. Juli 1980, mit dem der Prolog schließt und auch der dritte Band endet, nachdem er damit ebenfalls begonnen, dann aber über 1400 Seiten in die frühen siebziger Jahre zurückgegriffen hatte. Überdies vermittelt das "und" nach Fellinger auch zwischen den beiden Erzählern van der Heijden und seinem Helden Albert Egberts, der seine Vita einem Ghostwriter als Rohmaterial zur Verfügung stellt. Diesen Ich-Erzähler hat van der Heijden auf sein eigenes früheres Pseudonym Patrizio Canaponi getauft.
Schließlich soll das "und" auch den Leser einholen. Oder vielmehr die Hörer, denen an diesem Abend vier Passagen von dem Autor aus dem niederländischen Original und von Helga van Beuningen aus der entsprechenden Übersetzung präsentiert wurden. Aus dem Band 3.1. erfuhren sie von Alberts Geburtstag kurz vor Mitternacht des 30. April 1950, dem Geburtstag auch der niederländischen Königin, ein Stichdatum, über das die individuelle Vita des Helden mit dem Staat, an dem er sich später reiben wird, korreliert. In dem Band 3.2. lernt das Publikum Albert als Heroinsüchtigen kennen, der sich schließlich mit einem Mord an dem Neonazi Arend-Jan Bartscheer selbst ins Gefängnis befördern und so von der Droge befreien will. Schon diese wenigen Kostproben belegten die kompositorische Kraft, die hier am Werke war, um die ausschweifenden Abschweifungen des Autors zusammenzuhalten.
CLAUDIA SCHÜLKE
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