Produktdetails
  • Verlag: Scribner
  • ISBN-13: 9781416546023
  • Artikelnr.: 21070654
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2007

Nein, Eleven!
Don DeLillos lang erwarteter 9/11-Roman "Falling Man"

Da ist nichts außer der Leere über den Wolken: ein Blick, wie er nur aus dem Fenster eines Flugzeugs möglich ist, blau und weiß - und mittendrin schwarze Schrift. Der Buchumschlag erinnert daran, dass man nicht mehr auf einen blauen Himmel und ein Flugzeug schauen kann, ohne an 9/11 zu denken, und weil es ein Buch von Don DeLillo ist, muss man zugleich daran denken, dass mitten auf dem Buchcover von "Unterwelt" die dunstverhangenen Türme des World Trade Centers zu sehen waren. Dann geht es im Sturzflug auf die Erde: "Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt." "Falling Man" beginnt in dem Moment, in dem der erste Turm einstürzt, und er erzählt von der Zeit danach - "drei Tage nach den Flugzeugen", zehn Tage, drei Jahre danach.

Man hat auf dieses Buch gewartet, nachdem DeLillo schon im Dezember 2001 einen Essay geschrieben hatte, der "In den Ruinen der Zukunft" hieß; man war auf eine lange Wartezeit gefasst, nachdem er 2003, beim Erscheinen von "Cosmopolis", gesagt hatte, er habe zwanzig Jahre gebraucht, bis er begriffen habe, dass er einen Roman über die Ermordung von JFK schreiben wolle. Man hat auch mit sehr gemischten Gefühlen gewartet, weil sich schon nach den ersten Wellen der 9/11-Prosa eine leichte Gereiztheit einstellte. Da waren Frédéric Beigbeder und Jonathan Safran Foer, es kamen John Updike, Ian McEwan und ungezählte andere. Und manchmal, wenn schon wieder jemand die Türme fallen ließ, um seinen Roman mit welthistorischer Bedeutung aufzurüsten, dachte man, es könnte jetzt ruhig mal Schluss sein mit diesem "Pimp up your novel!".

Das heißt nun aber auch: dass man womöglich zu viel erwartet von Don DeLillo und dann enttäuscht ist wie die ersten amerikanischen Rezensenten. Der 70-Jährige hat nicht das Buch geschrieben, das viele von ihm erwartet haben - was erst einmal eine gute Nachricht ist. Man muss sich deshalb fragen, woher die Enttäuschung rührt: von dem Roman, wie er ist, oder eher davon, dass er nicht so ist, wie viele sich einen Roman von Don DeLillo über 9/11 vorgestellt haben? Und warum sollte ein Schriftsteller, der "Mao II" geschrieben hat, ein Update von "Mao II" schreiben? Warum sollte er wiederholen, dass Romanautoren und Terroristen ein "seltsames Band" verbindet, weil sie "das menschliche Bewusstsein überfallen"?

DeLillo hat sich selbst zurückgenommen: Er erzählt von einer Welt, in welcher der Überfall unwiderruflich stattgefunden hat. Unmittelbar danach gibt es nichts, was davon nicht erfasst würde. Und deshalb kann DeLillo auch von einer gescheiterten Ehe erzählen, von Keith und Lianne und beider Kind, von einem Paar von Ende dreißig, das es noch einmal miteinander versuchen will, weil das Ereignis es zusammenbringt. Der Einwand, dafür hätte es nicht 9/11 gebraucht, ist ein bisschen dürftig. Wovon hätte er denn berichten sollen, wenn nicht vom Alltag? Von Bin Ladins Höhlen, von bärtigen Männern in stickigen Gebetsräumen und engen Wohnungen, die den massenhaften Mord planen? Jedes Detail ist zum Zeichen geworden: die Postkarte der Freundin aus Rom, auf der "Revolt of Islam" steht, das Stillleben von Giorgio Morandi in der Wohnung von Liannes Mutter, das Küchengegenstände zeigt, welche sich unter dem insistierenden Blick in zwei Türme verwandeln. Und wo alles auf das Ereignis verweist, beginnt die Wahrnehmung unwillkürlich jener der Terroristen zu ähneln: "Die Verschwörung verengte die Welt auf die schmalste Sichtlinie, wo alles in einem Punkt zusammenläuft." DeLillos Buch ist daher ein Balanceakt: die Gegenstände, Vorgänge, Worte so aufzuladen, dass sie sich wie Eisenspäne auf einen Magneten hin gruppieren - und ihnen doch so viel Eigenständigkeit zu lassen, dass sie auch in eine andere Geschichte gehören könnten.

Es hat seine Logik, dass "Falling Man" montiert ist wie ein Film: Aufblende und Abblende, Szenen, die nicht in strenger chronologischer Reihenfolge erscheinen, die abrupt enden, Momente, die so klar und unwirklich zugleich wirken wie in einem Traum, für den keiner die Deutung kennt. Und dennoch gibt es einen großen Bogen, der sich über die Erzählung wölbt: vom ersten Satz bis zum letzten, der in den Anfang zurückläuft, obwohl sich die Erzählung phasenweise bis ins Jahr 2004 bewegt hat.

So wenig, wie es in dieser Struktur eine politische Lösung geben kann oder patriotischen Trost, so wenig findet das Paar wieder zusammen; es trennt sich auch nicht endgültig. Jedes der drei Kapitel ist ein Spiel von Fliehkräften und Anziehungskräften. Und jedes Kapitel hat einen kleinen Appendix, der in den Kopf von Hammad, einem der Terroristen, zu schauen versucht, einem der 19 Männer aus der postumen Bildergalerie, wobei sich DeLillo die Pointe nicht entgehen lässt, dass er in einem Buch über Gerhard Richters RAF-Zyklus ein Fahndungsplakat mit 19 Personen gesehen hat. Diese Passagen enthalten nichts, was einen überraschte; aber sie kehren die Blickrichtung um, sie bilden erst einen Kontrapunkt, dann einen Schnittpunkt, wenn der Roman mitten im Satz von Hammad im Innern des Flugzeugs, das auf den Nordturm prallt, auf Keith überblendet, den dieser Aufprall aus seinem Bürostuhl gegen die Wand schleudert.

Das Bild eines Mannes im Anzug, der eine Aktentasche trägt und sich durch einen Sturm aus Rauch und Asche kämpft, habe am Anfang seiner Arbeit gestanden, sagt DeLillo. Der Mann hat das Gesicht von Keith Neudecker bekommen, der am Mittag des 11. September leicht verletzt vor der Wohnungstür seiner Ex-Frau steht. Und aus dem berühmten Foto, das am 11. September um 9.41 Uhr entstand, ist der Performancekünstler "Falling Man" entstanden, der wie ein Gespenst durch den Roman geistert, der mit einem Sicherheitsgurt von Balkonen, Hochbahnen und Brücken springt, um in der Haltung zu verharren, die das Foto einfriert.

Gegenläufige Bewegungen spannen den Roman bis zum Zerreißen. Lianne betreut eine Gruppe von Alzheimer-Patienten in Harlem und kämpft ohnmächtig gegen das Vergessen, Keith beginnt eine heimliche Affäre mit einer Frau, deren Aktentasche er aus dem Nordturm mitgenommen hat, und hört ihr zu, wenn sie in ihrer Erinnerung wieder und wieder Flucht und Rettung durchlebt. Und aus dieser Spannung entsteht jenes leichte Vibrieren, das sich nur in DeLillos Prosa findet. Da räsoniert der Kunsthändler Martin, der Freund von Liannes Mutter, über das Ende Amerikas, ein Mann mit einer obskuren Vergangenheit, die zurückweist in die Tage der Kommune I und der Roten Brigaden, und sagt: "Man baut ein solches Ding, um zu sehen, wie es einstürzt."

"Falling Man" ist ein Buch, das immer wieder auseinanderzudriften droht; nie erweckt es den Eindruck, es habe die Sache im Griff; es wirkt verhalten, es kommt ohne jene wunderbaren Welterklärungssätze aus, die sonst in DeLillos Prosa wie Blitze aufleuchten. Und es ist zugleich voller Sätze, die einen unwiderstehlichen Sound haben, die man laut lesen muss, obwohl ein Roman kein Text zum Rezitieren ist. Es ist die Sprache, die alles zusammenhält: durch die Präzision, mit der sie die flüchtigsten Gefühlsregungen beschreibt und die Verwüstungen der Außenwelt, das verschwundene Tageslicht oder den Moment, in dem ein Hemd vom Himmel herunterschwebt - "er ging und sah es fallen, die Ärmel flatterten wie nichts in diesem Leben."

Mit diesem Satz endet der Roman, und es ist dieses Bild des freien Falls, das ihn heimsucht, immer wieder, stärker als die Schuttberge, die grotesk verbogenen Stahlträger, die von Asche bedeckten Menschen, die sich wie in einem Horrorfilm durch die Straßen schleppen. DeLillo braucht kein Brueghel-Gemälde, keinen "Triumph des Todes" wie in "Unterwelt". Das Bild des fallenden Mannes "brannte ein Loch in ihre Seele und ihren Körper, lieber Gott, er war ein fallender Engel, und seine Schönheit war schrecklich". DeLillo hält sich an das, was dokumentiert ist - und taucht es ins Entwicklerbad seiner Prosa. Vor mehr als zwanzig Jahren hat er in einem Interview von der "tiefreichenden narrativen Struktur terroristischer Akte" gesprochen. Jetzt, in "Falling Man", lässt er im Alltag der Zeit nach 9/11 sichtbar werden, wie der Terror die Bilder einer neuen großen Erzählung geschaffen hat - und wie der Schriftsteller versucht, ihre Wirkung zu entziffern.

PETER KÖRTE

Don DeLillo: "Falling Man". A Novel. Scribner, New York 2007, 256 Seiten, 27 Euro. Die deutsche Ausgabe erscheint im Herbst 2007 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.08.2021

Die Vorsehung
New-York-Romane müssen sich seit den Anschlägen
dazu verhalten. Und ein Autor nahm einiges vorweg
Als die Anschläge vom 11. September 2001 stattfanden, waren sie von Don DeLillo längst erfunden worden. In einer Reihe von Romanen, die zwischen 1977 und 1991 erschienen – „Spieler“, „Weißes Rauschen“, „Mao II“ –, entwarf der Schriftsteller Panoramen einer amerikanischen Gegenwart, in der Terrorismus und seine medialen Darstellungen eine nervöse, paranoide Gesellschaft hervorgebracht hatten, die sich von Bombenanschlägen und der Angst vor diffusen Katastrophen leiten ließ. Bill Gray, alternder Schriftsteller und Figur in „Mao II“, steht dieser Entwicklung ratlos gegenüber. Was war passiert, dass ein paar Spinner mit Bomben einen Intellektuellen wie ihn derart ins Abseits befördern und praktisch die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit für sich beanspruchen konnten?
Nicht wenige Autoren fühlten sich trotz dieses verständlichen Gefühls der Ohnmacht berufen, die Anschläge vom 11. September irgendwie zu erklären, obwohl die zerstörten Türme alles in den Schatten stellten, was sich DeLillo Jahrzehnte zuvor ausgedacht hatte. Wie sich Romane, die im Jahr 2020 spielen, irgendwie mit dem Coronavirus auseinandersetzen müssen, so mussten sich für einige Jahre alle Romane, die 2001 oder danach in New York spielten, irgendwie zu den Anschlägen verhalten. Die Stadt selbst wurde zur Metapher, zum Zeichen des Widerstands, der Solidarität und des Zusammenhalts, der nur allzu schnell in einen dumpfen Patriotismus kippte und zu den Zivilisationsbrüchen des War on Terror führte. New York vor 2001 wurde deshalb im Rückblick auch zum Symbol einer verloren gegangenen, sorgenlosen Welt, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beim endgültigen Sieg des amerikanischen Lebensmodells angekommen gewesen zu sein schien.
Das New York in Thomas Pynchons bisher letztem Roman „Bleeding Edge“ von 2013 ist eine solche surreale, utopische Welt, in der die Menschen reden, als wären sie Figuren in einer Sitcom, jeder Geld hat oder wenigstens so tut, und das gerade aufkommende Internet mit all seinen Umwälzungen und unerkannten Gefahren mit kindlicher Freude begrüßt wird. Alles scheint schon im Frühjahr 2001 auf die Anschläge hinzuweisen: angebliche Verbindungen des Bush-Clans nach Saudi-Arabien, brutale Computerspiele, Geldströme in und aus dem Nahen Osten. Jeder hängt hier mit drin, und die Gewalt scheint nicht von außen zu kommen, sondern sich irgendwie aus einer selbstvergessenen Welt der Jahrtausendwende zu manifestieren.
Die andere Metapher neben New York, die sich in der Literatur weitaus weniger, dafür aber umso eindrucksvoller finden lässt, ist die des Falling Man, des Menschen, der aus den brennenden Türmen stürzt. Es war wieder Don DeLillo, der 2007 seinem Roman über die Anschläge diesen Titel gab. Neben den Traumata der Überlebenden aus dem World Trade Center beschreibt er auch die Perspektive der Terroristen, die er als unsichere Zweifler darstellt. Dazwischen taucht immer wieder ein Aktionskünstler auf, der ein Bild nachahmt, das der Fotograf Richard Drew am 11. September aufnahm. Es zeigt einen Mann in schwarzer Hose und weißem Oberteil, der kopfüber aus dem Nordturm des World Trade Center stürzt.
Auch wegen DeLillo ist das Bild bis heute zu so einem starken Symbol der Anschläge geworden, denn obwohl er auf der Fotografie recht gut zu erkennen ist, wurde der Falling Man nie identifiziert. Es ist ein Bild, das noch immer Wut und Trauer auslöst, denn der Mann kann in seiner Anonymität wie er da kopfüber vor der sterilen Fassade des Hochhauses zu hängen scheint, für alle Opfer der Anschläge stehen und sogar für alle Menschen, die bei den Anschlägen nicht gestorben sind, aber aus ihrem gewohnten Leben gerissen wurden. Bei DeLillo sind alle zu Falling Men geworden, in eine neue Zeit der Ungewissheit geworfen.
Diesen stürzenden Mann und die Kulisse New Yorks hat schließlich 2018 die Autorin Ottessa Moshfegh in ihrem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ zusammengeführt. Eine junge New Yorkerin, wohlhabend und gebildet, möchte darin mit der Hilfe von Medikamenten ein Jahr durchschlafen. Mit minimalem Personal zeichnet der Roman das Bild einer Gesellschaft im Dämmerschlaf, betäubt von Alkohol, Fernsehen und Langeweile. New York ist eine Stadt voller generischer Menschen, in der nur eine selbstverliebte Kunstmarktszene für minimale Abwechslung sorgt und wo echte Beziehungen zu anderen Menschen so selten und wertvoll sind wie sonst nichts, auch wenn das keiner der Figuren bewusst zu sein scheint. Der nahezu perfekt komponierte Roman endet unerwartet am 11. September, als die Erzählerin meint, in einer Nachrichtensendung, die sie auf Videokassette aufgenommen hat und in Dauerschleife laufen lässt, ihre beste und einzige Freundin zu erkennen, wie sie aus dem 87. Stock des Nordturms springt. „Da ist sie, eine Frau, die ins Unbekannte taucht, und sie ist hellwach.“
Die Literatur, die über den 11. September 2001 geschrieben wurde, ist keine Chronik der Ereignisse und keine Erklärung der Anschläge. Sie zeigt uns das, was die zahllosen Videos und Bilder von diesem Tag nicht wissen.
NICOLAS FREUND
Don DeLillo: Falling Man. Roman. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 272 Seiten, 12 Euro.
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