Produktdetails
  • Verlag: Scribner
  • ISBN-13: 9780330452236
  • Artikelnr.: 22578585
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2007

Nein, Eleven!
Don DeLillos lang erwarteter 9/11-Roman "Falling Man"

Da ist nichts außer der Leere über den Wolken: ein Blick, wie er nur aus dem Fenster eines Flugzeugs möglich ist, blau und weiß - und mittendrin schwarze Schrift. Der Buchumschlag erinnert daran, dass man nicht mehr auf einen blauen Himmel und ein Flugzeug schauen kann, ohne an 9/11 zu denken, und weil es ein Buch von Don DeLillo ist, muss man zugleich daran denken, dass mitten auf dem Buchcover von "Unterwelt" die dunstverhangenen Türme des World Trade Centers zu sehen waren. Dann geht es im Sturzflug auf die Erde: "Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt." "Falling Man" beginnt in dem Moment, in dem der erste Turm einstürzt, und er erzählt von der Zeit danach - "drei Tage nach den Flugzeugen", zehn Tage, drei Jahre danach.

Man hat auf dieses Buch gewartet, nachdem DeLillo schon im Dezember 2001 einen Essay geschrieben hatte, der "In den Ruinen der Zukunft" hieß; man war auf eine lange Wartezeit gefasst, nachdem er 2003, beim Erscheinen von "Cosmopolis", gesagt hatte, er habe zwanzig Jahre gebraucht, bis er begriffen habe, dass er einen Roman über die Ermordung von JFK schreiben wolle. Man hat auch mit sehr gemischten Gefühlen gewartet, weil sich schon nach den ersten Wellen der 9/11-Prosa eine leichte Gereiztheit einstellte. Da waren Frédéric Beigbeder und Jonathan Safran Foer, es kamen John Updike, Ian McEwan und ungezählte andere. Und manchmal, wenn schon wieder jemand die Türme fallen ließ, um seinen Roman mit welthistorischer Bedeutung aufzurüsten, dachte man, es könnte jetzt ruhig mal Schluss sein mit diesem "Pimp up your novel!".

Das heißt nun aber auch: dass man womöglich zu viel erwartet von Don DeLillo und dann enttäuscht ist wie die ersten amerikanischen Rezensenten. Der 70-Jährige hat nicht das Buch geschrieben, das viele von ihm erwartet haben - was erst einmal eine gute Nachricht ist. Man muss sich deshalb fragen, woher die Enttäuschung rührt: von dem Roman, wie er ist, oder eher davon, dass er nicht so ist, wie viele sich einen Roman von Don DeLillo über 9/11 vorgestellt haben? Und warum sollte ein Schriftsteller, der "Mao II" geschrieben hat, ein Update von "Mao II" schreiben? Warum sollte er wiederholen, dass Romanautoren und Terroristen ein "seltsames Band" verbindet, weil sie "das menschliche Bewusstsein überfallen"?

DeLillo hat sich selbst zurückgenommen: Er erzählt von einer Welt, in welcher der Überfall unwiderruflich stattgefunden hat. Unmittelbar danach gibt es nichts, was davon nicht erfasst würde. Und deshalb kann DeLillo auch von einer gescheiterten Ehe erzählen, von Keith und Lianne und beider Kind, von einem Paar von Ende dreißig, das es noch einmal miteinander versuchen will, weil das Ereignis es zusammenbringt. Der Einwand, dafür hätte es nicht 9/11 gebraucht, ist ein bisschen dürftig. Wovon hätte er denn berichten sollen, wenn nicht vom Alltag? Von Bin Ladins Höhlen, von bärtigen Männern in stickigen Gebetsräumen und engen Wohnungen, die den massenhaften Mord planen? Jedes Detail ist zum Zeichen geworden: die Postkarte der Freundin aus Rom, auf der "Revolt of Islam" steht, das Stillleben von Giorgio Morandi in der Wohnung von Liannes Mutter, das Küchengegenstände zeigt, welche sich unter dem insistierenden Blick in zwei Türme verwandeln. Und wo alles auf das Ereignis verweist, beginnt die Wahrnehmung unwillkürlich jener der Terroristen zu ähneln: "Die Verschwörung verengte die Welt auf die schmalste Sichtlinie, wo alles in einem Punkt zusammenläuft." DeLillos Buch ist daher ein Balanceakt: die Gegenstände, Vorgänge, Worte so aufzuladen, dass sie sich wie Eisenspäne auf einen Magneten hin gruppieren - und ihnen doch so viel Eigenständigkeit zu lassen, dass sie auch in eine andere Geschichte gehören könnten.

Es hat seine Logik, dass "Falling Man" montiert ist wie ein Film: Aufblende und Abblende, Szenen, die nicht in strenger chronologischer Reihenfolge erscheinen, die abrupt enden, Momente, die so klar und unwirklich zugleich wirken wie in einem Traum, für den keiner die Deutung kennt. Und dennoch gibt es einen großen Bogen, der sich über die Erzählung wölbt: vom ersten Satz bis zum letzten, der in den Anfang zurückläuft, obwohl sich die Erzählung phasenweise bis ins Jahr 2004 bewegt hat.

So wenig, wie es in dieser Struktur eine politische Lösung geben kann oder patriotischen Trost, so wenig findet das Paar wieder zusammen; es trennt sich auch nicht endgültig. Jedes der drei Kapitel ist ein Spiel von Fliehkräften und Anziehungskräften. Und jedes Kapitel hat einen kleinen Appendix, der in den Kopf von Hammad, einem der Terroristen, zu schauen versucht, einem der 19 Männer aus der postumen Bildergalerie, wobei sich DeLillo die Pointe nicht entgehen lässt, dass er in einem Buch über Gerhard Richters RAF-Zyklus ein Fahndungsplakat mit 19 Personen gesehen hat. Diese Passagen enthalten nichts, was einen überraschte; aber sie kehren die Blickrichtung um, sie bilden erst einen Kontrapunkt, dann einen Schnittpunkt, wenn der Roman mitten im Satz von Hammad im Innern des Flugzeugs, das auf den Nordturm prallt, auf Keith überblendet, den dieser Aufprall aus seinem Bürostuhl gegen die Wand schleudert.

Das Bild eines Mannes im Anzug, der eine Aktentasche trägt und sich durch einen Sturm aus Rauch und Asche kämpft, habe am Anfang seiner Arbeit gestanden, sagt DeLillo. Der Mann hat das Gesicht von Keith Neudecker bekommen, der am Mittag des 11. September leicht verletzt vor der Wohnungstür seiner Ex-Frau steht. Und aus dem berühmten Foto, das am 11. September um 9.41 Uhr entstand, ist der Performancekünstler "Falling Man" entstanden, der wie ein Gespenst durch den Roman geistert, der mit einem Sicherheitsgurt von Balkonen, Hochbahnen und Brücken springt, um in der Haltung zu verharren, die das Foto einfriert.

Gegenläufige Bewegungen spannen den Roman bis zum Zerreißen. Lianne betreut eine Gruppe von Alzheimer-Patienten in Harlem und kämpft ohnmächtig gegen das Vergessen, Keith beginnt eine heimliche Affäre mit einer Frau, deren Aktentasche er aus dem Nordturm mitgenommen hat, und hört ihr zu, wenn sie in ihrer Erinnerung wieder und wieder Flucht und Rettung durchlebt. Und aus dieser Spannung entsteht jenes leichte Vibrieren, das sich nur in DeLillos Prosa findet. Da räsoniert der Kunsthändler Martin, der Freund von Liannes Mutter, über das Ende Amerikas, ein Mann mit einer obskuren Vergangenheit, die zurückweist in die Tage der Kommune I und der Roten Brigaden, und sagt: "Man baut ein solches Ding, um zu sehen, wie es einstürzt."

"Falling Man" ist ein Buch, das immer wieder auseinanderzudriften droht; nie erweckt es den Eindruck, es habe die Sache im Griff; es wirkt verhalten, es kommt ohne jene wunderbaren Welterklärungssätze aus, die sonst in DeLillos Prosa wie Blitze aufleuchten. Und es ist zugleich voller Sätze, die einen unwiderstehlichen Sound haben, die man laut lesen muss, obwohl ein Roman kein Text zum Rezitieren ist. Es ist die Sprache, die alles zusammenhält: durch die Präzision, mit der sie die flüchtigsten Gefühlsregungen beschreibt und die Verwüstungen der Außenwelt, das verschwundene Tageslicht oder den Moment, in dem ein Hemd vom Himmel herunterschwebt - "er ging und sah es fallen, die Ärmel flatterten wie nichts in diesem Leben."

Mit diesem Satz endet der Roman, und es ist dieses Bild des freien Falls, das ihn heimsucht, immer wieder, stärker als die Schuttberge, die grotesk verbogenen Stahlträger, die von Asche bedeckten Menschen, die sich wie in einem Horrorfilm durch die Straßen schleppen. DeLillo braucht kein Brueghel-Gemälde, keinen "Triumph des Todes" wie in "Unterwelt". Das Bild des fallenden Mannes "brannte ein Loch in ihre Seele und ihren Körper, lieber Gott, er war ein fallender Engel, und seine Schönheit war schrecklich". DeLillo hält sich an das, was dokumentiert ist - und taucht es ins Entwicklerbad seiner Prosa. Vor mehr als zwanzig Jahren hat er in einem Interview von der "tiefreichenden narrativen Struktur terroristischer Akte" gesprochen. Jetzt, in "Falling Man", lässt er im Alltag der Zeit nach 9/11 sichtbar werden, wie der Terror die Bilder einer neuen großen Erzählung geschaffen hat - und wie der Schriftsteller versucht, ihre Wirkung zu entziffern.

PETER KÖRTE

Don DeLillo: "Falling Man". A Novel. Scribner, New York 2007, 256 Seiten, 27 Euro. Die deutsche Ausgabe erscheint im Herbst 2007 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
»DeLillo beschreibt nicht nur individuelle Traumata, sondern auch die Traumatisierung einer ganzen Stadt. Ohne versöhnliches Ende übrigens. Das ist sehr berührend, auch 20 Jahre danach, das noch einmal zu lesen, man hat die Bilder sofort vor Augen.« Dorothea Westphal Deutschlandfunk Kultur 20210911