Das wahrnehmende und erinnernde Ich wird zum stöbernden Spuren- und Stimmensucher in der Gegenwart, zum Ohrenzeugen an Herrentischen, zum Protokollanten einer Geschichte vom Wien der dreißiger Jahre bis zum letzten Schlachtfeld des zweiten Weltkriegs vor Berlin. Das »Falsche Futter« der Weltanschauungen bleibt gegenwärtig, wo die Gegenwart noch undurchschaut mit der Vergangenheit verbunden bleibt. Zwischen den fotorealistisch scharf geschnittenen Bildern dieser Gedichte, die das Bedeutsame im alltäglich Kleinen finden, liegen der eigene Herkunftsort und die Funde in der Familiengeschichte. Ein blinder Fleck zu Anfang noch, aber im Gang durch Geschichte und zwischen Orten klären sich in den drei Abteilungen von »Falsches Futter« die Konturen, gewinnt der biographische Blick Tiefenschärfe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.1997Schneemanöver
Marcels Beyers Debüt als Lyriker · Von Ernst Osterkamp
Das Gedicht "Kirchstettner Klima" in Marcel Beyers erstem Lyrikband zeigt den Dichter bei der Jause, ein Buch in der Hand: Stoff für ein ländliches Idyll. "Laut lese ich, das Glas des roten / Göttweigers nah bei der Hand, Sitz / Blondie! Derweil ein abgetrennter / Bissen des Brotes mit gekochtem / Schinken mir an den Mund geführt: / Der Wald steht wie ein Wächter, ein / Plausch nun über Bäume." Das Klima in Kirchstetten taugt, so zeigt bereits der zweite Vers, offenbar nicht für Idyllen. Das liegt daran, daß der große Dichter Josef Weinheber in Zeiten, in denen das Gespräch über Bäume ein Verbrechen sein konnte, sich seinen Wohnsitz Kirchstetten zur Idylle zuzurichten versucht hat; in einer der zahlreichen Strophen seiner 1939 in dem Band "Kammermusik" erschienenen "Sinfonia domestica" liest sich das zum Beispiel so: "Laut lese ich, das Glas roten / Göttweigers nah bei der Hand: / Ein Lied des Wandsbeker Boten -, / Du bist Orplid, mein Land -, / der Droste erhabnes ,Im Grase'." Während Weinheber, seit 1931 Parteimitglied, sich in die große deutsche Dichtungstradition stellte und dabei doch sein hohes Sprachethos an den Nationalsozialismus verriet, klingt dem Leser Marcel Beyer, der ihn zitiert, aus dessen Gedichten die Stimme Hitlers entgegen, der seinen Hund kommandiert.
"Derweil laut / lese ich, das Glas des weißen Meßweins / nah bei der Hand Josef Im Bilde: Jetzt / Josef, blankgewichst die schwarzen Stiefel." 1940 war als "Geschenkwerk für die Freunde des Dichters" der Band "Josef Weinheber im Bilde" erschienen: der Dichter, das Parteiabzeichen am Revers, in seinem Haus und Garten. In einem der Beiträge zu diesem Buch kann man über Weinhebers Lyrikband "Adel und Untergang" (1934) lesen, der Nationalsozialismus habe "den Trümmerhaufen der Stilbeziehungen" weggeräumt und dem deutschen Volk eine wahre "Naturbeziehung" zurückgegeben. Und so führt denn Beyer das Gedicht über seine Kirchstettner Jause in einem Crescendo zum Abschluß: "Noch letzte Kapern, eingelegte / Paprika ich runterspüle. So hab ich aufgeräumt / den Trümmerhaufen. Zurückgelehnt nun les / ich laut und deutlich: Blondie fass! Der / Stilbeziehungen. Im Gegenlicht jetzt Josef, / nah bei der Hand die Zigarette. Im Gegenlicht / blinkt am Revers, schau nicht, die runde Plakette."
Beyer geht in seinen Gedichten den "Stilbeziehungen" zwischen der Gegenwart und einer nur scheinbar überwundenen Vergangenheit nach. Er schenkt dabei seinen Lesern nichts, markiert keines der Zitate, gibt keine Quellen preis und nennt allein den Vornamen der zitierten historischen Gestalten. Dies läßt seine Gedichte zunächst rätselhaft spröde und schwer zugänglich erscheinen. Es geht Beyer aber nicht um Personen, sondern um Bewußtseinsformen, deren Medium die Sprache ist. Die in seinen Gedichten zitierten Sprachfetzen sind Träger unbewältigter Ideologien: falsches, unverdautes, unverdauliches Futter. Sprachreflexion wird hier zur Geschichtsreflexion. Beyers Gedichte geben sehr konkrete, trennscharfe Bilder von Bewußtseinszuständen.
Man wird schwerlich in der Gegenwartsliteratur einen Autor finden, der den Verheerungen, die die Jahre von 1933 bis 1945 in den deutschen Gemütern bis heute hinterlassen haben, mit solcher Sensibilität und Beharrlichkeit nachgeht wie der zwanzig Jahre nach Kriegsende geborene Marcel Beyer. Die an das Ohr dringenden Stimmen, die Erinnerungsbilder, die fotografisch genau aufgenommenen Wirklichkeitsausschnitte: sämtliche vom Gedicht aufgezeichneten Wahrnehmungen geben die Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu erkennen: "Du / fährst den Weg ab nach den Lauten, den / Schirm der Wintermütze, Schneemanöver, / unbekannt, eines Versunkenen, im Schlaf."
Was den Autor bei seiner in drei Abteilungen aufgebauten lyrischen Spurensuche antreibt, gibt sich dem Leser erst allmählich zu erkennen. Sie beginnt in Wien mit einer Sequenz von Gedichten über Weinheber, dessen traurige Gestalt Beyer in einem mehrfachen Perspektivenwechsel zu erfassen sucht. Das Ich dieser Gedichte ist zunächst dasjenige eines heutigen Lesers, dann das eines Soldaten, der 1943 im Schützengraben Weinhebers Gedichte ("Soldatenbücherei Band 79") liest, dann das von Weinhebers Hund, der zum Zeugen von dessen Selbstmord wird, schließlich dasjenige Weinhebers selbst, der, gequält von den Erinnerungsbildern seiner Kindheit und Jugend, mit Hilfe von Morphium in den Schlaf gleitet. Diese Fähigkeit zum plötzlichen Rollenwechsel, die ihn Geschichte aus der Perspektive der Täter wie der Opfer wahrnehmen läßt, verbindet sich in Beyers Gedichten mit einer Kälte und Nüchternheit der Wahrnehmung, die alles Persönliche und Subjektive aus seinen lyrischen Zeit- und Geschichtsbildern auszublenden sucht: "Ich bin jedoch nur Augen- / Ohrenkunde", Speicherinstanz für Bilder und Stimmen, so heißt es in dem Gedicht "Im Hotel Orient", das in einem virtuosen Rollenspiel zunächst aus der Perspektive derer verfaßt erscheint, die hier auf Kunden warten: "Wir sind gepuderte Gestalten."
Die von Beyer im zweiten Teil inszenierte Gestaltenreihe gewinnt ihre Eindringlichkeit daraus, daß er mit manchmal unheimlicher Empathie die Perspektive seiner in Geschichte und Ideologien verfangenen Figuren einzunehmen versteht: "Man weiß halt / nie, wie lang man noch in diesem / Aufzug vor die Tür gehn kann, das / sieht bald aus wie frontzerschossen." Beyer durchblättert die Geschichte wie ein Fotoalbum und läßt sein Ich durch deren Akteure gleiten.
Im dritten Abschnitt dringt Beyers Erinnerungsarbeit zum biographischen Kern vor. Selten ist der Prozeß des Erinnerns so beklemmend eindrucksvoll vergegenwärtigt worden wie in dem Gedicht "Dunkle Augen", das diese Reihe eröffnet. Es führt zurück in die eigene Familiengeschichte und in das Haus, in dem der Autor aufgewachsen ist; dort hängt noch immer das Bild des KdF-Tenors auf dem Oberdeck des Mittelmeerdampfers, eines schwimmenden Urlaubsgefängnisses, zu dem der Sänger in Beyers Gedicht dennoch bis heute nur ein Wort zu sagen weiß: "Ja".
Dies ist der Bereich der Erfahrungen, der die Beharrlichkeit und Genauigkeit erklärt, mit der Beyer die Stimmen aus der Vergangenheit aufzeichnet. Die KdF-Idylle war nur die andere Seite des Infernos - jener geschichtlichen Verwüstungen, die auch die von dem "Geschenkwerk" inszenierte verlogene Idylle des Morphinisten Josef Weinheber vergessen zu machen suchte. Beyers verstörende Geschichtsbilder spiegeln Inferno und Idylle ineinander. Der Weg über eine menschenleere Heide, den das große Gedicht "Der Kippenkerl" gegen Ende des Bandes gestaltet, ist der Weg über ein von Erinnerungsspuren übersätes Schlachtfeld, auf dem kaum dem Kindesalter entronnene Soldaten im Endkampf um Berlin verheizt wurden.
Seit seinem Roman "Flughunde" (1995), einem faszinierenden Beitrag auch zur Akustikgeschichte des "Dritten Reichs", gehört Marcel Beyer zu den wichtigsten jüngeren deutschen Erzählern. Mit "Falsches Futter" hat er nun einen beeindruckenden lyrischen Debütband vorgelegt. Es ist dies ein oft schwieriges, oft aber auch überraschend leicht zugängliches Buch von großem Ernst, mit dem Marcel Beyer auch als Lyriker seine Könnerschaft unter Beweis stellt.
Marcel Beyer: "Falsches Futter". Gedichte. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1997. 83 S., br., 12,80 DM.
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Marcels Beyers Debüt als Lyriker · Von Ernst Osterkamp
Das Gedicht "Kirchstettner Klima" in Marcel Beyers erstem Lyrikband zeigt den Dichter bei der Jause, ein Buch in der Hand: Stoff für ein ländliches Idyll. "Laut lese ich, das Glas des roten / Göttweigers nah bei der Hand, Sitz / Blondie! Derweil ein abgetrennter / Bissen des Brotes mit gekochtem / Schinken mir an den Mund geführt: / Der Wald steht wie ein Wächter, ein / Plausch nun über Bäume." Das Klima in Kirchstetten taugt, so zeigt bereits der zweite Vers, offenbar nicht für Idyllen. Das liegt daran, daß der große Dichter Josef Weinheber in Zeiten, in denen das Gespräch über Bäume ein Verbrechen sein konnte, sich seinen Wohnsitz Kirchstetten zur Idylle zuzurichten versucht hat; in einer der zahlreichen Strophen seiner 1939 in dem Band "Kammermusik" erschienenen "Sinfonia domestica" liest sich das zum Beispiel so: "Laut lese ich, das Glas roten / Göttweigers nah bei der Hand: / Ein Lied des Wandsbeker Boten -, / Du bist Orplid, mein Land -, / der Droste erhabnes ,Im Grase'." Während Weinheber, seit 1931 Parteimitglied, sich in die große deutsche Dichtungstradition stellte und dabei doch sein hohes Sprachethos an den Nationalsozialismus verriet, klingt dem Leser Marcel Beyer, der ihn zitiert, aus dessen Gedichten die Stimme Hitlers entgegen, der seinen Hund kommandiert.
"Derweil laut / lese ich, das Glas des weißen Meßweins / nah bei der Hand Josef Im Bilde: Jetzt / Josef, blankgewichst die schwarzen Stiefel." 1940 war als "Geschenkwerk für die Freunde des Dichters" der Band "Josef Weinheber im Bilde" erschienen: der Dichter, das Parteiabzeichen am Revers, in seinem Haus und Garten. In einem der Beiträge zu diesem Buch kann man über Weinhebers Lyrikband "Adel und Untergang" (1934) lesen, der Nationalsozialismus habe "den Trümmerhaufen der Stilbeziehungen" weggeräumt und dem deutschen Volk eine wahre "Naturbeziehung" zurückgegeben. Und so führt denn Beyer das Gedicht über seine Kirchstettner Jause in einem Crescendo zum Abschluß: "Noch letzte Kapern, eingelegte / Paprika ich runterspüle. So hab ich aufgeräumt / den Trümmerhaufen. Zurückgelehnt nun les / ich laut und deutlich: Blondie fass! Der / Stilbeziehungen. Im Gegenlicht jetzt Josef, / nah bei der Hand die Zigarette. Im Gegenlicht / blinkt am Revers, schau nicht, die runde Plakette."
Beyer geht in seinen Gedichten den "Stilbeziehungen" zwischen der Gegenwart und einer nur scheinbar überwundenen Vergangenheit nach. Er schenkt dabei seinen Lesern nichts, markiert keines der Zitate, gibt keine Quellen preis und nennt allein den Vornamen der zitierten historischen Gestalten. Dies läßt seine Gedichte zunächst rätselhaft spröde und schwer zugänglich erscheinen. Es geht Beyer aber nicht um Personen, sondern um Bewußtseinsformen, deren Medium die Sprache ist. Die in seinen Gedichten zitierten Sprachfetzen sind Träger unbewältigter Ideologien: falsches, unverdautes, unverdauliches Futter. Sprachreflexion wird hier zur Geschichtsreflexion. Beyers Gedichte geben sehr konkrete, trennscharfe Bilder von Bewußtseinszuständen.
Man wird schwerlich in der Gegenwartsliteratur einen Autor finden, der den Verheerungen, die die Jahre von 1933 bis 1945 in den deutschen Gemütern bis heute hinterlassen haben, mit solcher Sensibilität und Beharrlichkeit nachgeht wie der zwanzig Jahre nach Kriegsende geborene Marcel Beyer. Die an das Ohr dringenden Stimmen, die Erinnerungsbilder, die fotografisch genau aufgenommenen Wirklichkeitsausschnitte: sämtliche vom Gedicht aufgezeichneten Wahrnehmungen geben die Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu erkennen: "Du / fährst den Weg ab nach den Lauten, den / Schirm der Wintermütze, Schneemanöver, / unbekannt, eines Versunkenen, im Schlaf."
Was den Autor bei seiner in drei Abteilungen aufgebauten lyrischen Spurensuche antreibt, gibt sich dem Leser erst allmählich zu erkennen. Sie beginnt in Wien mit einer Sequenz von Gedichten über Weinheber, dessen traurige Gestalt Beyer in einem mehrfachen Perspektivenwechsel zu erfassen sucht. Das Ich dieser Gedichte ist zunächst dasjenige eines heutigen Lesers, dann das eines Soldaten, der 1943 im Schützengraben Weinhebers Gedichte ("Soldatenbücherei Band 79") liest, dann das von Weinhebers Hund, der zum Zeugen von dessen Selbstmord wird, schließlich dasjenige Weinhebers selbst, der, gequält von den Erinnerungsbildern seiner Kindheit und Jugend, mit Hilfe von Morphium in den Schlaf gleitet. Diese Fähigkeit zum plötzlichen Rollenwechsel, die ihn Geschichte aus der Perspektive der Täter wie der Opfer wahrnehmen läßt, verbindet sich in Beyers Gedichten mit einer Kälte und Nüchternheit der Wahrnehmung, die alles Persönliche und Subjektive aus seinen lyrischen Zeit- und Geschichtsbildern auszublenden sucht: "Ich bin jedoch nur Augen- / Ohrenkunde", Speicherinstanz für Bilder und Stimmen, so heißt es in dem Gedicht "Im Hotel Orient", das in einem virtuosen Rollenspiel zunächst aus der Perspektive derer verfaßt erscheint, die hier auf Kunden warten: "Wir sind gepuderte Gestalten."
Die von Beyer im zweiten Teil inszenierte Gestaltenreihe gewinnt ihre Eindringlichkeit daraus, daß er mit manchmal unheimlicher Empathie die Perspektive seiner in Geschichte und Ideologien verfangenen Figuren einzunehmen versteht: "Man weiß halt / nie, wie lang man noch in diesem / Aufzug vor die Tür gehn kann, das / sieht bald aus wie frontzerschossen." Beyer durchblättert die Geschichte wie ein Fotoalbum und läßt sein Ich durch deren Akteure gleiten.
Im dritten Abschnitt dringt Beyers Erinnerungsarbeit zum biographischen Kern vor. Selten ist der Prozeß des Erinnerns so beklemmend eindrucksvoll vergegenwärtigt worden wie in dem Gedicht "Dunkle Augen", das diese Reihe eröffnet. Es führt zurück in die eigene Familiengeschichte und in das Haus, in dem der Autor aufgewachsen ist; dort hängt noch immer das Bild des KdF-Tenors auf dem Oberdeck des Mittelmeerdampfers, eines schwimmenden Urlaubsgefängnisses, zu dem der Sänger in Beyers Gedicht dennoch bis heute nur ein Wort zu sagen weiß: "Ja".
Dies ist der Bereich der Erfahrungen, der die Beharrlichkeit und Genauigkeit erklärt, mit der Beyer die Stimmen aus der Vergangenheit aufzeichnet. Die KdF-Idylle war nur die andere Seite des Infernos - jener geschichtlichen Verwüstungen, die auch die von dem "Geschenkwerk" inszenierte verlogene Idylle des Morphinisten Josef Weinheber vergessen zu machen suchte. Beyers verstörende Geschichtsbilder spiegeln Inferno und Idylle ineinander. Der Weg über eine menschenleere Heide, den das große Gedicht "Der Kippenkerl" gegen Ende des Bandes gestaltet, ist der Weg über ein von Erinnerungsspuren übersätes Schlachtfeld, auf dem kaum dem Kindesalter entronnene Soldaten im Endkampf um Berlin verheizt wurden.
Seit seinem Roman "Flughunde" (1995), einem faszinierenden Beitrag auch zur Akustikgeschichte des "Dritten Reichs", gehört Marcel Beyer zu den wichtigsten jüngeren deutschen Erzählern. Mit "Falsches Futter" hat er nun einen beeindruckenden lyrischen Debütband vorgelegt. Es ist dies ein oft schwieriges, oft aber auch überraschend leicht zugängliches Buch von großem Ernst, mit dem Marcel Beyer auch als Lyriker seine Könnerschaft unter Beweis stellt.
Marcel Beyer: "Falsches Futter". Gedichte. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1997. 83 S., br., 12,80 DM.
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