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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Christoph Schröder hält Matthias Matschkes Romandebüt für mehr als die Erinnerungen eines Schauspielers. Wie der Autor seine Kindheit im Odenwald in den siebziger Jahren erinnert und dabei die alte BRD und seinen zornigen Vater wiederauferstehen lässt, findet Schröder gekonnt, unterhaltsam und wegen des Verzichts auf Abrechnungen und Nostalgie lesenswert. Die alte BRD als ödes Nest, aber auch Generationentraumata werden vom Autor treffend herausgearbeitet, findet Schröder.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2022

Endzeit im
Odenwald
Matthias Matschke und sein
Romandebüt über das
Aufwachsen in der alten BRD
Auf dem Schutzumschlag von Matthias Matschkes Debütroman ist eine Fotografie abgebildet: Ein Junge mit Mütze und Ohrenklappen hat einen Kreuzschlüssel in der Hand und müht sich, die Radmuttern eines Autos, offensichtlich eines VW Käfer, zu lösen. Beobachtet wird er dabei von einem hinter ihm hockenden Mann, der eine ähnliche Kopfbedeckung trägt und in dessen Halbprofil eine Zigarette im Mundwinkel erkennbar ist. Es handelt sich dabei, so sagt es der Bildnachweis, um eine Aufnahme aus dem Archiv des Autors: „Matthias und Christian Matschke, 1974“.
Der Ich-Erzähler des Romans, mit Namen Matthias Matschke, hat dieses Foto im Lauf seiner Jugend oft betrachtet. Doch erst viel später fällt ihm die Zigarette auf. „Mein Vater hat geraucht?“, fragt er sich: „Wie konnte ich das vergessen?“ Eine scheinbar unwichtige Szene, und doch lässt sich an ihr vieles festmachen, was diesen Roman auszeichnet. Die Detailgenauigkeit, mit der Matschke in „Falschgeld“ das Universum seiner Kindheit neu erfindet. Die Subtilität, mit der Erinnerung und deren Zuverlässigkeit infrage gestellt werden. Und nicht zuletzt die Rolle von Autos als identitätsstiftende Objekte. Schließlich sind wir inmitten der alten Bundesrepublik, nicht weit entfernt von Rüsselsheim.
Matthias Matschke ist dem Fernsehpublikum als Schauspieler in Formaten wie „Pastewka“, „Ladykracher“ oder der „Heute-Show“ bekannt. Matschke ist allerdings auch studierter Germanist, und nichts trifft auf „Falschgeld“ weniger zu als das Klischee eines Schauspielers, der auf einmal sein Leben aufschreiben will. „Falschgeld“ ist eine raffiniert mit Wirklichkeitspartikeln spielende Adoleszenzgeschichte, in der unausgesprochen vom Ende einer Epoche erzählt wird. „Ich bin Matthias Matschke“ – dieser Satz geistert als Leitmotiv durch den Roman. Und das ist zum Teil die Wahrheit und zum Teil gelogen: Matthias Matschke, der Autor, wuchs wie sein Roman-Matthias in einem 300-Seelen-Dorf im vorderen Odenwald auf, etwa 20 Kilometer südöstlich von Darmstadt. Aber der Autor ist drei Jahre älter als seine Figur. Diese Nicht-Kongruenz ist entscheidend im Hinblick auf die Perspektive und den Tonfall: Sie erlaubt dem Autor eine Halbdistanz zu seinem Alter Ego; eine Mischung aus Intimität und Ungerührtheit. Nichts in diesem Buch wird nostalgisch verbrämt, mit niemandem wird abgerechnet.
Der Vater des Roman-Matthias ist der Pastor des Dorfes, die Mutter arbeitet im nahen Dieburg bei der Post. Die Atmosphäre des Dorfs und die Gestimmtheit der Familie sind exakt eingefangen und wirken ungeheuer weit entfernt von heutigen Verhältnissen. Ein anderes Jahrhundert in einem anderen Land. Es gibt klare Regeln, Strukturen, Rituale. Diese Beengtheit ist ambivalent, denn sie ist zugleich auch ein Schutzraum, ein fast kuscheliges Nest, das die alte BRD auf ihre Weise auch war: öde, wohlhabend und erstarrt. In diesem Umfeld durchläuft Matthias eine beispielhaft durchschnittliche Entwicklung: Kindheit mit einigen Blessuren, humanistisches Gymnasium in Darmstadt, erste Liebe, erste Enttäuschung, Zivildienst.
Die Blackbox, die große Unbekannte in „Falschgeld“, das ist Christian Matschke, der Vater. Kein Familientyrann, aber ein Mann, der zu unberechenbaren Wutausbrüchen und zum Streit neigt, zumeist in völlig unwichtigen Angelegenheiten. Einmal bricht es aus ihm, dem Kriegsflüchtling aus Schlesien, heraus: Die Polacken, schreit er, hätten ihm die Heimat gestohlen. Den Einwand, seine Heimat sei doch hier, wo er jetzt lebe, ignoriert er, und in dieser Szene blitzt für einen Augenblick das Trauma einer ganzen Generation hervor. Einer Generation, die zu jung ist, um im Nationalsozialismus selbst schuldig geworden zu sein, die aber weder für die Schuld ihrer Eltern noch für das, was ihr selbst widerfahren ist, Worte gefunden hat.
Es ist kein Zufall, dass „Falschgeld“ im Jahr 1990 endet, jenem Jahr, in dem die DDR ex- und die alte Bundesrepublik implodiert ist. Das Ende zweier Staaten; das Ende der kuscheligen Aufgehobenheit. All das steckt in den Romanfiguren, all das macht Matthias Matschke, der Schriftsteller, niemals explizit, sondern lässt es in jedem einzelnen der kurzen Kapitel anschaulich werden. „Falschgeld“, das ist eindeutig das Resultat einer künstlerischen Leistung, liest sich unterhaltsam, wie ein beschwingter Bilderbogen. Dahinter steht ein reflektierter Autor, der weiß, was es bedeutet, Abschied zu nehmen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Matthias Matschke, geboren 1968, spielt in Comedy-Formaten wie „Ladykracher“ und steht auf
Theaterbühnen in Berlin und Wien. „Falschgeld“ ist sein Debütroman.
Foto: Tom Wagner
Matthias Matschke:
Falschgeld. Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.
253 Seiten, 24 Euro.
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»Und darum geht es in diesem sonderbar leisen, zart und vorsichtig tastend erzählten Roman: um [...] ein Ausprobieren von Varianten dessen, was man sich angewöhnt hat, sein Leben zu nennen.« Volker Weidermann Die Zeit 20220922