Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.1998Der Rücken der Metzgersfrau
Margaret Forster stöbert in Familiengeheimnissen
Früher hat allen Frauen der Rücken wehgetan. Jedenfalls all den Frauen in England, die in Margaret Forsters Romanen leise leiden, weil sie ihr Leben für andere leben. Die Autorin sozialkritischer Familienbiographien behandelt subtil immer wieder das gleiche Thema: Wie man in verwandtschaftlichen Gemeinwesen oder in intimen Partnerschaften einander doch fremd bleibt. Und wie lange weiterwirkt, was früher geschehen ist. Die Generationen scheinen wie ein Netzwerk miteinander verbunden zu sein - noch in großer zeitlicher Entfernung sind sie einander vertraut, ohne Genaues zu wissen. Und fremd sind sie sich in nächster Nähe.
Um ein Leben in schmerzhaft gebücktem Dauerzustand geht es zum Beispiel in der romanhaft angelegten Dokumentargeschichte der opferbereiten Dienerin, Zofe der faszinierend anmaßenden Schriftstellerin Elizabeth Barrett-Browning. "Wer dient, kann nie hoffen, die Kluft zwischen sich und denen, die bedient werden, zu überbrücken." Bitter und illusionslos sieht die Dienerin die Welt. Nicht anders tun dies auch die Frauen in "Familiengeheimnisse", Margaret Forsters Roman über die eigene Familie.
Die Enkelin bemüht sich einfühlsam um genaueste Beschreibung der Lebensbürden von Großmutter und Mutter; sie kontrastiert deren schweres Los mit dem so viel leichteren eigenen Leben als gutsituierte Schriftstellerin. Und doch, trotz aller Veränderungen in den modernen Zeiten: "Wir sind unsere Vergangenheit, vor allem die Vergangenheit unserer Familien." Und da darf man als Chronistin nachempfinden, hinzuerfinden, interpretieren. Doch auch gründlichste Recherche in Stadt- und Kirchenarchiven bringt nur wenig Licht in die frühe Zeit der Großmutter.
Die Familiengeheimnisse des Buchtitels sind die dunklen Jahre im Leben der ungewöhnlich tüchtigen Großmutter Margaret Ann Jordan, die mit knapp dreißig Jahren den Metzger Thomas Hind heiratet. Die arme Margaret Ann hat Sinn für Schönes. Sie plagt sich als Dienstmädchen in wohlhabendem Hause und kauft bei Hind, der den saubersten Stand in der Markthalle hat, den Sonntagsbraten. Was hat Margaret Ann in den ersten 23 Jahren ihres Lebens gemacht? Die Familie erfährt nie etwas darüber. Nach ihrem Tod taucht eine weitere Tochter auf und fordert ihren Anteil am Erbe. Keiner weiß, wer ihr Vater ist. Auch die spannend erzählten Nachforschungen der Enkelin, die einen beträchtlichen Teil dieses Buches ausmachen, bringen die Wahrheit nicht ans Licht.
Ganz unspektakulär vollzieht sich diese private Sozialgeschichte in einer nordenglischen Industriestadt. Unwiderstehlich ist der Sog des Erzählens von den kleinen Tragödien, den Minikatastrophen oder auch bescheidenen Komödien, vom ärmlichen und zuweilen hoffnungsvollen Tageseinerlei in den engen, mit den Errungenschaften des Jahrhunderts verbesserten, doch immer noch bedrückenden Verhältnissen. Verdrängtes kommt zum Vorschein, verschlissenes Gefühl gewinnt neue Kraft. Frühere Zeiten werden auf diese Weise aus der Erinnerung in die Gegenwart überführt. Und im Erzählen gelingt schließlich die Zwiesprache mit der Vergangenheit.
"Ich kann meine Vergangenheit nicht verstehen, wenn ich nicht die Vergangenheit meiner Großmutter, meiner Mutter und die der Frauen ihrer Generation verstehen kann, die der einfachen Frauen aus der Unterschicht, von denen ich abstamme." So hat sich Margaret Forster eine Aufgabe gestellt. Doch sie kann sie nur zur Hälfte erfüllen. Denn ihre Neugier - und auch die wachsende des Lesers - wird nicht befriedigt. Daß die Großmutter vor den ehelichen Töchtern die frühe Vergangenheit geheimgehalten hat, sei ein "perfektes Verbrechen", das allerdings doch nicht so genannt werden könne. Denn Margaret Ann hatte (aus Haß, Scham, Enttäuschung?) beschlossen, keine Vergangenheit zu haben.
Wo bei anderen Erinnerungen lagern, scheint Leere gewesen zu sein. Sie muß aber doch empfunden haben, behauptet jedenfalls die Enkelin, wie wichtig für die Zukunft Geschichte ist, auch wenn sie ihre eigene Geschichte leugnete. Denn das nie ausgesprochene tiefe Gefühl füreinander hat hundert Jahre Einsamkeit überlebt. ARND RÜHLE
Margaret Forster: "Familiengeheimnisse". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Dietlind Kaiser. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 1997. 400 S., geb., Abb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Margaret Forster stöbert in Familiengeheimnissen
Früher hat allen Frauen der Rücken wehgetan. Jedenfalls all den Frauen in England, die in Margaret Forsters Romanen leise leiden, weil sie ihr Leben für andere leben. Die Autorin sozialkritischer Familienbiographien behandelt subtil immer wieder das gleiche Thema: Wie man in verwandtschaftlichen Gemeinwesen oder in intimen Partnerschaften einander doch fremd bleibt. Und wie lange weiterwirkt, was früher geschehen ist. Die Generationen scheinen wie ein Netzwerk miteinander verbunden zu sein - noch in großer zeitlicher Entfernung sind sie einander vertraut, ohne Genaues zu wissen. Und fremd sind sie sich in nächster Nähe.
Um ein Leben in schmerzhaft gebücktem Dauerzustand geht es zum Beispiel in der romanhaft angelegten Dokumentargeschichte der opferbereiten Dienerin, Zofe der faszinierend anmaßenden Schriftstellerin Elizabeth Barrett-Browning. "Wer dient, kann nie hoffen, die Kluft zwischen sich und denen, die bedient werden, zu überbrücken." Bitter und illusionslos sieht die Dienerin die Welt. Nicht anders tun dies auch die Frauen in "Familiengeheimnisse", Margaret Forsters Roman über die eigene Familie.
Die Enkelin bemüht sich einfühlsam um genaueste Beschreibung der Lebensbürden von Großmutter und Mutter; sie kontrastiert deren schweres Los mit dem so viel leichteren eigenen Leben als gutsituierte Schriftstellerin. Und doch, trotz aller Veränderungen in den modernen Zeiten: "Wir sind unsere Vergangenheit, vor allem die Vergangenheit unserer Familien." Und da darf man als Chronistin nachempfinden, hinzuerfinden, interpretieren. Doch auch gründlichste Recherche in Stadt- und Kirchenarchiven bringt nur wenig Licht in die frühe Zeit der Großmutter.
Die Familiengeheimnisse des Buchtitels sind die dunklen Jahre im Leben der ungewöhnlich tüchtigen Großmutter Margaret Ann Jordan, die mit knapp dreißig Jahren den Metzger Thomas Hind heiratet. Die arme Margaret Ann hat Sinn für Schönes. Sie plagt sich als Dienstmädchen in wohlhabendem Hause und kauft bei Hind, der den saubersten Stand in der Markthalle hat, den Sonntagsbraten. Was hat Margaret Ann in den ersten 23 Jahren ihres Lebens gemacht? Die Familie erfährt nie etwas darüber. Nach ihrem Tod taucht eine weitere Tochter auf und fordert ihren Anteil am Erbe. Keiner weiß, wer ihr Vater ist. Auch die spannend erzählten Nachforschungen der Enkelin, die einen beträchtlichen Teil dieses Buches ausmachen, bringen die Wahrheit nicht ans Licht.
Ganz unspektakulär vollzieht sich diese private Sozialgeschichte in einer nordenglischen Industriestadt. Unwiderstehlich ist der Sog des Erzählens von den kleinen Tragödien, den Minikatastrophen oder auch bescheidenen Komödien, vom ärmlichen und zuweilen hoffnungsvollen Tageseinerlei in den engen, mit den Errungenschaften des Jahrhunderts verbesserten, doch immer noch bedrückenden Verhältnissen. Verdrängtes kommt zum Vorschein, verschlissenes Gefühl gewinnt neue Kraft. Frühere Zeiten werden auf diese Weise aus der Erinnerung in die Gegenwart überführt. Und im Erzählen gelingt schließlich die Zwiesprache mit der Vergangenheit.
"Ich kann meine Vergangenheit nicht verstehen, wenn ich nicht die Vergangenheit meiner Großmutter, meiner Mutter und die der Frauen ihrer Generation verstehen kann, die der einfachen Frauen aus der Unterschicht, von denen ich abstamme." So hat sich Margaret Forster eine Aufgabe gestellt. Doch sie kann sie nur zur Hälfte erfüllen. Denn ihre Neugier - und auch die wachsende des Lesers - wird nicht befriedigt. Daß die Großmutter vor den ehelichen Töchtern die frühe Vergangenheit geheimgehalten hat, sei ein "perfektes Verbrechen", das allerdings doch nicht so genannt werden könne. Denn Margaret Ann hatte (aus Haß, Scham, Enttäuschung?) beschlossen, keine Vergangenheit zu haben.
Wo bei anderen Erinnerungen lagern, scheint Leere gewesen zu sein. Sie muß aber doch empfunden haben, behauptet jedenfalls die Enkelin, wie wichtig für die Zukunft Geschichte ist, auch wenn sie ihre eigene Geschichte leugnete. Denn das nie ausgesprochene tiefe Gefühl füreinander hat hundert Jahre Einsamkeit überlebt. ARND RÜHLE
Margaret Forster: "Familiengeheimnisse". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Dietlind Kaiser. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 1997. 400 S., geb., Abb., 42,- DM.
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