Fanny Kajsman hat genug. Ihr nutzloser Schwager ist nach Minsk abgehauen und hat ihre Schwester im Schtetl zurückgelassen. Kurzerhand trifft Fanny eine skandalöse Entscheidung: Sie wird ihren Schwager eigenhändig zurückholen.
Bewaffnet mit einem Schlachtermesser und einer gehörigen Portion Starrsinn bricht sie auf, aber die Straßen des Russischen Kaiserreichs sind gefährlich. Als sich ihr der stumme Fährmann Cicek Berschow anschließt, ist sie dankbar um die Begleitung. Doch ein Schlamassel jagt das nächste, Fannys schlichter Plan wächst sich zu einer mittelgroßen Katastrophe aus und bringt bald die Grundfesten des Russischen Reiches ins Wanken.
Ein rasanter Roadtrip durch das 19. Jahrhundert, eine Ode an Mut und Freundschaft und die Suche einer unvergesslichen Heldin nach Gerechtigkeit.
Bewaffnet mit einem Schlachtermesser und einer gehörigen Portion Starrsinn bricht sie auf, aber die Straßen des Russischen Kaiserreichs sind gefährlich. Als sich ihr der stumme Fährmann Cicek Berschow anschließt, ist sie dankbar um die Begleitung. Doch ein Schlamassel jagt das nächste, Fannys schlichter Plan wächst sich zu einer mittelgroßen Katastrophe aus und bringt bald die Grundfesten des Russischen Reiches ins Wanken.
Ein rasanter Roadtrip durch das 19. Jahrhundert, eine Ode an Mut und Freundschaft und die Suche einer unvergesslichen Heldin nach Gerechtigkeit.
»Iczkovits' brillanter, mitreißender Roman spielt im späten 19. Jahrhundert im Russischen Kaiserreich, ist aber von großer Aktualität und Relevanz. Er ist bevölkert von hervorragend gezeichneten Figuren auf der Suche nach einer wie auch immer gearteten Erlösung, die aber unerreichbar bleibt.« Elaine Margolin The Times
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2024Durch das Land des bösen Zaren
Das Russische Reich im Schatten Alexanders I.:
Yaniv Iczkovits erzählt in seinem Roman "Fannys Rache"
vom Widerstand zweier Juden gegen die Unmenschlichkeit.
Der Roman von Yaniv Iczkovits spielt in Polen und Russland, in Belarus und der Ukraine; und nicht nur geographisch, auch chronologisch lässt er sich bestimmen: nach üblicher Zeitrechnung ist es das Jahr 1894. Seine zwölf Teile tragen Namen von Orten in dieser Gegend, und das Jahr der Ereignisse wird explizit genannt.
Die Koordinaten von Raum und Zeit führen jedoch in die Irre. Näher käme man dieser Welt vielleicht, wenn man in ihr das Herzland des Ostjudentums sieht, das sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schon in der tiefen Krise vor dem Untergang befand. Seine großen Autoren haben das dargestellt - Scholem Alejchem und Mendele Mojcher Sfurim, später Itzik Manger und ganz am Ende Bashevis Singer -, und auch Iczkovits, könnte man meinen, schriebe in dieser Tradition.
Aber auch das trifft den Kern der Sache nicht. Hier entsteht keine reale, sondern eine mythologische Landschaft, und auch die Zeit der Handlung ist mythologisch. Die Erzählung scheint zunächst einer leicht verständlichen, narrativen Logik zu folgen: Eine ältere Schwester wird von ihrem Ehemann verlassen, ihre jüngere Schwester - Fanny Kajsman, Titelgestalt des Romans - macht sich auf die Suche nach dem Verräter. Ist das also eine Abenteuergeschichte mit einem nachvollziehbaren traditionellen Zentralmotiv?
So könnte es sein, wenn Fanny eine gewöhnliche Frau wäre, die Rache nehmen will für das Unrecht, das ihrer Schwester angetan wurde. Aber Fanny ist keine gewöhnliche Frau, Yaniv Iczkovits macht das von Beginn an deutlich. Sie ist die Tochter eines Schächters, eines jüdischen Metzgers, der Tiere nach den Gesetzen der Religion schlachtet, und einmal, als er seine Arbeit verrichtet, bemerkt er zu seinem Schrecken, dass sie ihn durch die Dachluke seines Schlachthauses dabei beobachtet.
"Du hättest das nicht sehen dürfen", sagt er zu ihr und erhält eine unerwartete Antwort: "Auch ich will es erlernen." Der Vater fragt ungläubig nach, und jetzt sagt sie unmissverständlich: "Das Messer erlernen." Ihrem Wunsch kann der Vater nicht widerstehen, sie wird zur meisterhaften Schächterin, und auf den Spuren des Schwagers wird ihr das Messer, das sie schließlich von dem Vater erbt, zur tödlichen Waffe.
Fanny war zwölf Jahre alt, als sie bei ihrem Vater in die Lehre ging - eine Halbwaise, die kurz zuvor ihre Mutter verloren hatte, eine dem Leben nicht gewachsene Frau. Der schwachen Mutter steht die starke Tochter gegenüber, und später wiederholt sich der Vorgang: Die große Schwester ist dem Mann nicht gewachsen, der sie verlässt, die kleine Schwester findet sich mit diesem Unrecht nicht ab und nimmt die Verfolgung auf.
Die mythologischen Züge der Handlung, die Iczkovits erzählt, sind hier schon erkennbar, und in seinem weit ausgreifenden Epos hat sie noch andere Stränge. Ihre Mission kann Fanny nicht ohne Hilfe erfüllen, und ein Fährmann namens Cicek, der auf dem Fluss unweit von ihrem Dorf lebt, begleitet sie auf ihrer großen Reise. "Mit Cicek wird nicht geredet", heißt es. "Man besteigt sein Boot, lässt sich ans andere Ufer rudern und hinterher wieder zurück. Über Vergangenes wird nicht geredet, doch willigt man ein, ein Gläschen Rum aus dem kleinen Fass auf seinem Kahn mit ihm zu trinken, freut ihn dies sehr. Wer übersetzen will - der soll einsteigen; wer nicht - der kann wegbleiben."
Welche Vergangenheit verschweigt der sprachlose Fährmann? "Alle wissen", so lesen wir, "dass Cicek als Kind Joschke Berkowicz geheißen hat und sein einziges Vergehen war, in einer für das ganze jüdische Volk bejammernswerten Zeit in eine bitterarme Familie geboren zu sein. Zar Nikolai I., der 'Eiserne', möge sein Name und sein Andenken ausgelöscht sein, hatte einen Ukas erlassen, in dem er befahl, für das russische Heer gewisse Quoten von Soldatenkindern zu rekrutieren, und auch die Kinder Israels überging er nicht. Jede Gemeinde war gezwungen, einige ihrer Sprösslinge dem Moloch zum Fraß vorzuwerfen."
Für Cicek wird die Fahrt, auf der er Fanny begleitet, zu einer Reise in die Vergangenheit. Sie führt ihn zu der Kompanie, in der er früher jahrzehntelang gedient hat, und dort wird er wie ein König empfangen: Er war der einzige Soldat der ganzen Kompanie gewesen, der lesen und schreiben konnte, und da auch der hochrangige Kommandant ein Analphabet gewesen war, hatte Cicek ihn durch die Erfindung fiktiver Briefe dahingehend manipulieren können, dass er seine Truppe immer aus allen Schusslinien hielt. So hatte Cicek seinen Kameraden und sich selbst einen wunderbar ungefährlichen Dienst ermöglicht.
Auf mythologischen Reisen gibt es neben den Protagonisten immer auch den Antagonisten. Bei Iczkovits heißt er Pjotr Novak, ein Invalide der russischen Armee, der jetzt die örtliche Ochrana leitet: die Geheimpolizei des Zarenreiches, das schon seinem Ende entgegengeht und überall Gefahren wittert, die es im Keim zu ersticken gilt.
So kommt Pjotr Novak ins Spiel. Auf ihrer Reise überfallen Wegelagerer Fanny und Cicek und hätten sie ermordet, wenn Fanny ihnen nicht mit dem Messer die Kehlen durchgeschnitten hätte. Novak setzt seine Männer auf ihre Spur und entpuppt sich als ein Detektiv von diabolischer Intelligenz - ein veritabler Sherlock Holmes im Dienst einer unfähigen Geheimpolizei, der seine Netze immer fester um Fanny und Cicek zieht, obwohl die ihm untergebenen Spitzel große Dummköpfe sind.
Das sind einige Linien, die sich bei der Lektüre des Romans verfolgen lassen, und sie entschlüsseln keineswegs seinen gesamten Komplex. Das kann eine Rezension auch gar nicht leisten, und hier sei exemplarisch nur auf zwei Subtexte hingewiesen, die sich unter seiner vordergründigen Handlung öffnen.
Das Unrecht, das Fannys großer Schwester von ihrem Mann angetan wird, betrifft nicht nur das Schicksal einer einzelnen Frau, sondern gehört zu den Ursünden, derer sich das patriarchalische Judentum schuldig gemacht hat. Eine von ihrem Mann hilflos zurückgelassene Frau heißt Aguná, ein im Ostjudentum des neunzehnten Jahrhunderts weit verbreitetes Phänomen, das in der Literatur oft angeprangert wurde. Hilflos waren diese Frauen, weil nach jüdischem Recht nur der Mann seine Frau aus der Ehe entlassen konnte. Wenn er das nicht wollte, blieb sie ein Leben lang seine Gefangene, und was Fanny erreichen will, ist genau das: den Scheidebrief von ihrem abtrünnigen Schwager, der ihre Schwester wieder freisetzen würde.
Um dieses Ziel zu erreichen, muss Fanny die patriarchalische Ordnung umstoßen, die das Unglück ihrer Schwester erst ermöglicht hat, und dies tut sie bereits mit zwölf Jahren, als sie von ihrem Vater das Handwerk des Schächters erlernt. Sie tritt in eine männliche Domäne ein, die Frauen unzugänglich war, und schafft damit schon als Kind die Grundlage ihres späteren Feldzuges.
Auch die Geschichte von Cicek erzählt über ein größeres Unrecht, das nicht nur das Schicksal des stummen Fährmanns betrifft. Der jüdische Junge Joschke Berkowicz, der er einmal war, fiel der Kinderrekrutierung zum Opfer, mit der die Zaren im neunzehnten Jahrhundert die Reihen ihrer Armeen aufzufüllen pflegten - eines der großen Verbrechen des Regimes, das in der Oktoberrevolution schließlich unterging.
Die ihren Familien entrissenen Kinder wurden in einen Dienst von oft dreißig Jahren gezwungen, doch liest man, wie Cicek sich in dieser Zeit verhalten hat, so wird auch klar, warum er lange später Fanny Kajsman auf ihrer Reise begleiten wird. Wie Fanny begehrte er gegen eine Welt auf, die ihn zu unterwerfen suchte, stellte der Entmenschlichung durch das Regime seinen humanen Widerstand entgegen. Einem Kommandanten, der nicht lesen konnte, las er Briefe vor, die er selbst erfunden hatte, und wie Scheherazade in "Tausendundeine Nacht" erzählte er ihm Geschichten, die nicht nur sein eigenes Leben retteten, sondern auch das Leben einer ganzen Kompanie.
Yaniv Iczkovits, das sollte man zum Abschluss wissen, war Dozent für Sprachphilosophie an der Universität Tel Aviv. Als Offizier in der israelischen Armee hat er den Militärdienst in den besetzten Gebieten öffentlich verweigert und saß dafür einen Monat im Gefängnis. JAKOB HESSING
Yaniv Iczkovits: "Fannys Rache". Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester. Roman.
Aus dem Hebräischen
von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2024.
608 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Russische Reich im Schatten Alexanders I.:
Yaniv Iczkovits erzählt in seinem Roman "Fannys Rache"
vom Widerstand zweier Juden gegen die Unmenschlichkeit.
Der Roman von Yaniv Iczkovits spielt in Polen und Russland, in Belarus und der Ukraine; und nicht nur geographisch, auch chronologisch lässt er sich bestimmen: nach üblicher Zeitrechnung ist es das Jahr 1894. Seine zwölf Teile tragen Namen von Orten in dieser Gegend, und das Jahr der Ereignisse wird explizit genannt.
Die Koordinaten von Raum und Zeit führen jedoch in die Irre. Näher käme man dieser Welt vielleicht, wenn man in ihr das Herzland des Ostjudentums sieht, das sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schon in der tiefen Krise vor dem Untergang befand. Seine großen Autoren haben das dargestellt - Scholem Alejchem und Mendele Mojcher Sfurim, später Itzik Manger und ganz am Ende Bashevis Singer -, und auch Iczkovits, könnte man meinen, schriebe in dieser Tradition.
Aber auch das trifft den Kern der Sache nicht. Hier entsteht keine reale, sondern eine mythologische Landschaft, und auch die Zeit der Handlung ist mythologisch. Die Erzählung scheint zunächst einer leicht verständlichen, narrativen Logik zu folgen: Eine ältere Schwester wird von ihrem Ehemann verlassen, ihre jüngere Schwester - Fanny Kajsman, Titelgestalt des Romans - macht sich auf die Suche nach dem Verräter. Ist das also eine Abenteuergeschichte mit einem nachvollziehbaren traditionellen Zentralmotiv?
So könnte es sein, wenn Fanny eine gewöhnliche Frau wäre, die Rache nehmen will für das Unrecht, das ihrer Schwester angetan wurde. Aber Fanny ist keine gewöhnliche Frau, Yaniv Iczkovits macht das von Beginn an deutlich. Sie ist die Tochter eines Schächters, eines jüdischen Metzgers, der Tiere nach den Gesetzen der Religion schlachtet, und einmal, als er seine Arbeit verrichtet, bemerkt er zu seinem Schrecken, dass sie ihn durch die Dachluke seines Schlachthauses dabei beobachtet.
"Du hättest das nicht sehen dürfen", sagt er zu ihr und erhält eine unerwartete Antwort: "Auch ich will es erlernen." Der Vater fragt ungläubig nach, und jetzt sagt sie unmissverständlich: "Das Messer erlernen." Ihrem Wunsch kann der Vater nicht widerstehen, sie wird zur meisterhaften Schächterin, und auf den Spuren des Schwagers wird ihr das Messer, das sie schließlich von dem Vater erbt, zur tödlichen Waffe.
Fanny war zwölf Jahre alt, als sie bei ihrem Vater in die Lehre ging - eine Halbwaise, die kurz zuvor ihre Mutter verloren hatte, eine dem Leben nicht gewachsene Frau. Der schwachen Mutter steht die starke Tochter gegenüber, und später wiederholt sich der Vorgang: Die große Schwester ist dem Mann nicht gewachsen, der sie verlässt, die kleine Schwester findet sich mit diesem Unrecht nicht ab und nimmt die Verfolgung auf.
Die mythologischen Züge der Handlung, die Iczkovits erzählt, sind hier schon erkennbar, und in seinem weit ausgreifenden Epos hat sie noch andere Stränge. Ihre Mission kann Fanny nicht ohne Hilfe erfüllen, und ein Fährmann namens Cicek, der auf dem Fluss unweit von ihrem Dorf lebt, begleitet sie auf ihrer großen Reise. "Mit Cicek wird nicht geredet", heißt es. "Man besteigt sein Boot, lässt sich ans andere Ufer rudern und hinterher wieder zurück. Über Vergangenes wird nicht geredet, doch willigt man ein, ein Gläschen Rum aus dem kleinen Fass auf seinem Kahn mit ihm zu trinken, freut ihn dies sehr. Wer übersetzen will - der soll einsteigen; wer nicht - der kann wegbleiben."
Welche Vergangenheit verschweigt der sprachlose Fährmann? "Alle wissen", so lesen wir, "dass Cicek als Kind Joschke Berkowicz geheißen hat und sein einziges Vergehen war, in einer für das ganze jüdische Volk bejammernswerten Zeit in eine bitterarme Familie geboren zu sein. Zar Nikolai I., der 'Eiserne', möge sein Name und sein Andenken ausgelöscht sein, hatte einen Ukas erlassen, in dem er befahl, für das russische Heer gewisse Quoten von Soldatenkindern zu rekrutieren, und auch die Kinder Israels überging er nicht. Jede Gemeinde war gezwungen, einige ihrer Sprösslinge dem Moloch zum Fraß vorzuwerfen."
Für Cicek wird die Fahrt, auf der er Fanny begleitet, zu einer Reise in die Vergangenheit. Sie führt ihn zu der Kompanie, in der er früher jahrzehntelang gedient hat, und dort wird er wie ein König empfangen: Er war der einzige Soldat der ganzen Kompanie gewesen, der lesen und schreiben konnte, und da auch der hochrangige Kommandant ein Analphabet gewesen war, hatte Cicek ihn durch die Erfindung fiktiver Briefe dahingehend manipulieren können, dass er seine Truppe immer aus allen Schusslinien hielt. So hatte Cicek seinen Kameraden und sich selbst einen wunderbar ungefährlichen Dienst ermöglicht.
Auf mythologischen Reisen gibt es neben den Protagonisten immer auch den Antagonisten. Bei Iczkovits heißt er Pjotr Novak, ein Invalide der russischen Armee, der jetzt die örtliche Ochrana leitet: die Geheimpolizei des Zarenreiches, das schon seinem Ende entgegengeht und überall Gefahren wittert, die es im Keim zu ersticken gilt.
So kommt Pjotr Novak ins Spiel. Auf ihrer Reise überfallen Wegelagerer Fanny und Cicek und hätten sie ermordet, wenn Fanny ihnen nicht mit dem Messer die Kehlen durchgeschnitten hätte. Novak setzt seine Männer auf ihre Spur und entpuppt sich als ein Detektiv von diabolischer Intelligenz - ein veritabler Sherlock Holmes im Dienst einer unfähigen Geheimpolizei, der seine Netze immer fester um Fanny und Cicek zieht, obwohl die ihm untergebenen Spitzel große Dummköpfe sind.
Das sind einige Linien, die sich bei der Lektüre des Romans verfolgen lassen, und sie entschlüsseln keineswegs seinen gesamten Komplex. Das kann eine Rezension auch gar nicht leisten, und hier sei exemplarisch nur auf zwei Subtexte hingewiesen, die sich unter seiner vordergründigen Handlung öffnen.
Das Unrecht, das Fannys großer Schwester von ihrem Mann angetan wird, betrifft nicht nur das Schicksal einer einzelnen Frau, sondern gehört zu den Ursünden, derer sich das patriarchalische Judentum schuldig gemacht hat. Eine von ihrem Mann hilflos zurückgelassene Frau heißt Aguná, ein im Ostjudentum des neunzehnten Jahrhunderts weit verbreitetes Phänomen, das in der Literatur oft angeprangert wurde. Hilflos waren diese Frauen, weil nach jüdischem Recht nur der Mann seine Frau aus der Ehe entlassen konnte. Wenn er das nicht wollte, blieb sie ein Leben lang seine Gefangene, und was Fanny erreichen will, ist genau das: den Scheidebrief von ihrem abtrünnigen Schwager, der ihre Schwester wieder freisetzen würde.
Um dieses Ziel zu erreichen, muss Fanny die patriarchalische Ordnung umstoßen, die das Unglück ihrer Schwester erst ermöglicht hat, und dies tut sie bereits mit zwölf Jahren, als sie von ihrem Vater das Handwerk des Schächters erlernt. Sie tritt in eine männliche Domäne ein, die Frauen unzugänglich war, und schafft damit schon als Kind die Grundlage ihres späteren Feldzuges.
Auch die Geschichte von Cicek erzählt über ein größeres Unrecht, das nicht nur das Schicksal des stummen Fährmanns betrifft. Der jüdische Junge Joschke Berkowicz, der er einmal war, fiel der Kinderrekrutierung zum Opfer, mit der die Zaren im neunzehnten Jahrhundert die Reihen ihrer Armeen aufzufüllen pflegten - eines der großen Verbrechen des Regimes, das in der Oktoberrevolution schließlich unterging.
Die ihren Familien entrissenen Kinder wurden in einen Dienst von oft dreißig Jahren gezwungen, doch liest man, wie Cicek sich in dieser Zeit verhalten hat, so wird auch klar, warum er lange später Fanny Kajsman auf ihrer Reise begleiten wird. Wie Fanny begehrte er gegen eine Welt auf, die ihn zu unterwerfen suchte, stellte der Entmenschlichung durch das Regime seinen humanen Widerstand entgegen. Einem Kommandanten, der nicht lesen konnte, las er Briefe vor, die er selbst erfunden hatte, und wie Scheherazade in "Tausendundeine Nacht" erzählte er ihm Geschichten, die nicht nur sein eigenes Leben retteten, sondern auch das Leben einer ganzen Kompanie.
Yaniv Iczkovits, das sollte man zum Abschluss wissen, war Dozent für Sprachphilosophie an der Universität Tel Aviv. Als Offizier in der israelischen Armee hat er den Militärdienst in den besetzten Gebieten öffentlich verweigert und saß dafür einen Monat im Gefängnis. JAKOB HESSING
Yaniv Iczkovits: "Fannys Rache". Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester. Roman.
Aus dem Hebräischen
von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2024.
608 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Yaniv Iczkovits ist israelischer Sprachphilosoph, weiß Rezensent Jakob Hessing, jetzt hat er einen komplexen, sehr überzeugenden Roman vorgelegt: Die Protagonistin Fanny ist eine Ostjüdin, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zarenreich lebt. Die Zeit- und Ortsangaben sind aber nicht als absolut zu verstehen, erklärt Hessing, sondern vielmehr als "mythologische Landschaft", in der eine fast magische Geschichte angesiedelt ist, in der Fanny die von ihrem Ehemann verlassene Schwester rächt. Was, wie der Kritiker einräumt, zunächst recht klassisch klingt, wird vom Autor durch "mythologische Züge" angereichert, etwa durch einen rätselhaften Fährmann und ein die Figuren umzingelnder Geheimdienst. Dass die zentrale Geschichte noch durch eine Skizzierung des jüdischen Patriarchats und die Rekrutierung von Kindersoldaten im 19. Jahrhundert ergänzt wird, macht den Roman für Hessing noch spannender.
© Perlentaucher Medien GmbH
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