»Fantasmagoriana« - unter diesem Titel wurde eine Sammlung deutscher Schauergeschichten aus der Romantik in Frankreich und England berühmt. Die Geschichten aus August Apels und Friedrich Launs »Gespensterbuch« wurden im Jahr ohne Sommer 1816 von einigen jungen englischen Dichtern am Genfer See verschlungen: Mary Shelley inspirierten sie zu ihrem weltberühmten Roman »Frankenstein«, Lord Byron und seinen Freund John Polidori zu den ersten Vampir-Erzählungen. Die gemeinsame Lektüre von »Fantasmagoriana« und ihre Folgen spielt eine wichtige Rolle in Ken Russells Kultfilm »Gothic«, der eine Nacht dieses Treffens in phantastisch-surrealistischen Bildern darstellt. Nach den ersten Ausgaben nie wieder gedruckt, erscheint die herausragende Sammlung hier überhaupt erstmals im deutschen Original.Herausgegeben wurde die Anthologie »Fantasmagoriana« ursprünglich von Jean-Baptiste Benoît Eyriès, hier neu herausgegeben von Markus Bernauer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2017Dieser Geist trägt Bart
Was Mary Shelley las: Eine Sammlung Spukgeschichten
Gespenster, so meint man, sind körperlose Erscheinungen, die als Tote endlich alle physischen Bedürfnisse hinter sich gelassen haben. Umso überraschender ist es dann, wenn sich ein Geist mit handfesten Schlägen gegen die Zimmertür ankündigt, dabei den Riegel sprengt und den zitternden Bewohner mit herrischen Gesten auf einen Stuhl dirigiert, um ihn zu rasieren. Immerhin, außer einem kahlen Schädel trägt das Opfer nichts davon, und das Ansinnen des Geists ist plausibel, da er zu Lebzeiten Barbier war. Dann aber wendet sich das Gespenst noch einmal zu seinem Opfer um, schaut ihn an und streift sich wehmütig über den eigenen schwarzen Bart. Der Lebende versteht: Er bittet seinerseits das Gespenst, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, seift es ein, nimmt ihm Bart und Kopfhaar ab und hat es damit nach dreihundert spukenden Jahren erlöst.
So steht es in der Erzählung "Stumme Liebe" von Johann Karl Musäus, erschienen im vierten Band von "Volksmärchen der Deutschen" und dort nicht besonders beachtet. Erst eine weitere Edition sollte umfassende Folgen haben: Der Franzose Jean-Baptiste Benoît Eyriès (1767 bis 1846) nahm das Märchen 1812 in den ersten Band seiner anonym publizierten Sammlung "Fantasmagoriana" auf, die in französischer Übersetzung insgesamt acht deutsche Schauergeschichten enthält. In dieser Form diente sie einer Gruppe englischer Touristen zur Lektüre, die sich im verregneten Sommer 1816 in einer Villa am Genfer See eingemietet hatten. Eines Tages, so heißt es, hätten sie die Geistergeschichten miteinander gelesen und daraufhin beschlossen, selbst derlei Texte zu verfassen. Dass die Lektüre ausgerechnet an einem 16. Juni stattfand, also am erst viel später durch den "Ulysses" eingeführten Bloomsday, klingt wie eine übertriebene Pointe der Literaturgeschichte. Denn unter dem Eindruck der "Fantasmagoriana" entstand neben dem Roman "Der Vampyr" von William Polidori auch Mary Shelleys "Frankenstein".
Der Herausgeber der Sammlung schöpfte aus mehreren Quellen, unter denen die ersten beiden Bände von "Das Gespensterbuch", die erst kurz zuvor erschienen waren, obenan stehen. Fünf der acht Geschichten stammen aus dieser Anthologie, die von Johann August Apel und Friedrich August Schulze (alias Friedrich Laun) geschrieben und bis 1815 in fünf Bänden publiziert wurden. Die deutsche Rezeption dieses damals begeistert aufgenommenen Werks beschränkt sich heute meist auf das Märchen "Der Freischütz", die Vorlage für Carl Maria von Webers Oper. Eyriès entnahm der Sammlung für seine eigene die Geschichten "Der Todtenkopf", "Die Todtenbraut", "Die Verwandtschaft mit der Geisterwelt", "Der Geist des Verstorbenen" und schließlich "Die schwarze Kammer" - dieser letzte Text reagiert auf "Die graue Stube (Eine buchstäblich wahre Geschichte)" des damals enorm beliebten Vielschreibers Heinrich Clauren, die Eyriès ebenfalls in seine "Fantasmagoriana" aufnahm.
Tatsächlich ist das ein auffälliges Merkmal dieser Sammlung: Die Geschichten sind stärker miteinander verwandt, als es das allgemeine Thema der Spukgeschichte vermuten ließe. Es geht um Interferenzen zwischen Diesseits und Jenseits, an denen kein Lebender ungestraft teilhat. Beliebt ist die Vorstellung von schicksalhaftem Verhängnis, das den Einzelnen ungesucht ereilt und an dem er seit seiner Geburt teilhat. So sind etwa "Die Bilder der Ahnen" von August Apel unheilstiftende Gemälde, die sich nicht übertünchen lassen - ein zugehöriger Geist schleicht durchs Haus der damit geschlagenen Familie und küsst ein schlafendes Kind, das dann bald darauf sterben muss.
Nun sind die Texte in einer reich kommentierten Edition erschienen, die auf die verstreuten deutschen Originale zurückgreift und sie in der Anordnung der "Fantasmagoriana" präsentiert, eingeleitet vom erstmals übersetzten Vorwort des französischen Herausgebers, so dass man nun nachvollziehen kann, was die Gäste um Shelley und Byron damals in der Hand hatten. Die Komik, die Musäus' "Stumme Liebe" auszeichnet, ist in den anderen Texten rar. Aber man versteht rasch, welche Elemente der übrigen Beiträge die englische Reisegesellschaft angeregt haben muss, sich ihrer zu bedienen, doch die Sache besser zu machen als die mitunter etwas ungelenken Vorlagen. Denn die Sammlung setzt, ebenso wie Polidori und Shelley, auf den Kitzel der Begegnung mit dem Unheimlichen, nur dass die Autoren Apel, Laun, Clauren und Musäus gern die Hintertür offen lassen, dass es sich ja bei allem doch um Sinnestäuschung handeln könnte oder dass es sich um eine Sage aus dem Nebel der Historie handeln könne. Shelley aber verknüpft ihren "Frankenstein" mit der aktuellen spekulativen Wissenschaft ihrer Zeit. Während die deutschen Spukgeschichten auf den Schauer die Beruhigung folgen lassen, macht sie Ernst.
TILMAN SPRECKELSEN
August Apel, Friedrich Laun, Heinrich Clauren, Johann Karl Musäus: "Die Sammlung Fantasmagoriana".
Herausgegeben von Markus Bernauer. Verlag Rippberger & Kremers, Berlin 2017. 288 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was Mary Shelley las: Eine Sammlung Spukgeschichten
Gespenster, so meint man, sind körperlose Erscheinungen, die als Tote endlich alle physischen Bedürfnisse hinter sich gelassen haben. Umso überraschender ist es dann, wenn sich ein Geist mit handfesten Schlägen gegen die Zimmertür ankündigt, dabei den Riegel sprengt und den zitternden Bewohner mit herrischen Gesten auf einen Stuhl dirigiert, um ihn zu rasieren. Immerhin, außer einem kahlen Schädel trägt das Opfer nichts davon, und das Ansinnen des Geists ist plausibel, da er zu Lebzeiten Barbier war. Dann aber wendet sich das Gespenst noch einmal zu seinem Opfer um, schaut ihn an und streift sich wehmütig über den eigenen schwarzen Bart. Der Lebende versteht: Er bittet seinerseits das Gespenst, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, seift es ein, nimmt ihm Bart und Kopfhaar ab und hat es damit nach dreihundert spukenden Jahren erlöst.
So steht es in der Erzählung "Stumme Liebe" von Johann Karl Musäus, erschienen im vierten Band von "Volksmärchen der Deutschen" und dort nicht besonders beachtet. Erst eine weitere Edition sollte umfassende Folgen haben: Der Franzose Jean-Baptiste Benoît Eyriès (1767 bis 1846) nahm das Märchen 1812 in den ersten Band seiner anonym publizierten Sammlung "Fantasmagoriana" auf, die in französischer Übersetzung insgesamt acht deutsche Schauergeschichten enthält. In dieser Form diente sie einer Gruppe englischer Touristen zur Lektüre, die sich im verregneten Sommer 1816 in einer Villa am Genfer See eingemietet hatten. Eines Tages, so heißt es, hätten sie die Geistergeschichten miteinander gelesen und daraufhin beschlossen, selbst derlei Texte zu verfassen. Dass die Lektüre ausgerechnet an einem 16. Juni stattfand, also am erst viel später durch den "Ulysses" eingeführten Bloomsday, klingt wie eine übertriebene Pointe der Literaturgeschichte. Denn unter dem Eindruck der "Fantasmagoriana" entstand neben dem Roman "Der Vampyr" von William Polidori auch Mary Shelleys "Frankenstein".
Der Herausgeber der Sammlung schöpfte aus mehreren Quellen, unter denen die ersten beiden Bände von "Das Gespensterbuch", die erst kurz zuvor erschienen waren, obenan stehen. Fünf der acht Geschichten stammen aus dieser Anthologie, die von Johann August Apel und Friedrich August Schulze (alias Friedrich Laun) geschrieben und bis 1815 in fünf Bänden publiziert wurden. Die deutsche Rezeption dieses damals begeistert aufgenommenen Werks beschränkt sich heute meist auf das Märchen "Der Freischütz", die Vorlage für Carl Maria von Webers Oper. Eyriès entnahm der Sammlung für seine eigene die Geschichten "Der Todtenkopf", "Die Todtenbraut", "Die Verwandtschaft mit der Geisterwelt", "Der Geist des Verstorbenen" und schließlich "Die schwarze Kammer" - dieser letzte Text reagiert auf "Die graue Stube (Eine buchstäblich wahre Geschichte)" des damals enorm beliebten Vielschreibers Heinrich Clauren, die Eyriès ebenfalls in seine "Fantasmagoriana" aufnahm.
Tatsächlich ist das ein auffälliges Merkmal dieser Sammlung: Die Geschichten sind stärker miteinander verwandt, als es das allgemeine Thema der Spukgeschichte vermuten ließe. Es geht um Interferenzen zwischen Diesseits und Jenseits, an denen kein Lebender ungestraft teilhat. Beliebt ist die Vorstellung von schicksalhaftem Verhängnis, das den Einzelnen ungesucht ereilt und an dem er seit seiner Geburt teilhat. So sind etwa "Die Bilder der Ahnen" von August Apel unheilstiftende Gemälde, die sich nicht übertünchen lassen - ein zugehöriger Geist schleicht durchs Haus der damit geschlagenen Familie und küsst ein schlafendes Kind, das dann bald darauf sterben muss.
Nun sind die Texte in einer reich kommentierten Edition erschienen, die auf die verstreuten deutschen Originale zurückgreift und sie in der Anordnung der "Fantasmagoriana" präsentiert, eingeleitet vom erstmals übersetzten Vorwort des französischen Herausgebers, so dass man nun nachvollziehen kann, was die Gäste um Shelley und Byron damals in der Hand hatten. Die Komik, die Musäus' "Stumme Liebe" auszeichnet, ist in den anderen Texten rar. Aber man versteht rasch, welche Elemente der übrigen Beiträge die englische Reisegesellschaft angeregt haben muss, sich ihrer zu bedienen, doch die Sache besser zu machen als die mitunter etwas ungelenken Vorlagen. Denn die Sammlung setzt, ebenso wie Polidori und Shelley, auf den Kitzel der Begegnung mit dem Unheimlichen, nur dass die Autoren Apel, Laun, Clauren und Musäus gern die Hintertür offen lassen, dass es sich ja bei allem doch um Sinnestäuschung handeln könnte oder dass es sich um eine Sage aus dem Nebel der Historie handeln könne. Shelley aber verknüpft ihren "Frankenstein" mit der aktuellen spekulativen Wissenschaft ihrer Zeit. Während die deutschen Spukgeschichten auf den Schauer die Beruhigung folgen lassen, macht sie Ernst.
TILMAN SPRECKELSEN
August Apel, Friedrich Laun, Heinrich Clauren, Johann Karl Musäus: "Die Sammlung Fantasmagoriana".
Herausgegeben von Markus Bernauer. Verlag Rippberger & Kremers, Berlin 2017. 288 S., br., 19,90 [Euro].
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