"Es gibt in unserem politischen Vokabular nur wenige Begriffe, die sich einer solch umfassenden Beliebtheit wie das Wort Faschismus erfreuen, ebenso aber gibt es nicht viele Konzepte im politischen Vokabular der Gegenwart, die gleichzeitig derart verschwommen und unpräzise umrissen sind." Mit diesem Satz leitete der bedeutende israelische Historiker Zeev Sternhell 1976 seinen Aufsatz "Faschistische Ideologie" ein. Dieser Satz gilt bis heute - insbesondere für Deutschland. Daher nimmt Sternhell in dieser Einführung (nun in einer Neuausgabe vorliegt) eine genaue Bestimmung des Begriffes Faschismus aus seiner historischen und ideologischen Entwicklung heraus vor.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2019Staat als Körper
Wieder da: Zeev Sternhells klassisch-liberale Einführung in die faschistische Ideologie
Zeev Sternhells Einführung in die faschistische Ideologie geht auf einen Text von 1976 zurück, der 2002 in überarbeiteter Fassung erstmals auf Deutsch erschien. Die neue Ausgabe wurde bibliografisch ergänzt. Der 1935 in Polen geborene israelische Politikwissenschaftler Sternhell hat sich ein Leben lang mit den verschiedenen Ausformungen faschistischen Denkens befasst, vor allem der französische Strang gehört zu seinen Forschungsgebieten. Es dürfte heute kaum einen Wissenschaftler geben, der das kaum überschaubare Quellenmaterial vor allem der westeuropäischen Länder mit Einschluss Italiens so gut kennt. Die Neuausgabe kommt zu einem passenden Zeitpunkt. Im weitesten Sinne „rechtes“ Denken muss seit dem Aufstieg des Populismus wieder identifiziert und debattiert werden. Sternhell liefert dafür Kriterien auch dann, wenn man seine Thesen nicht teilt.
Anders als Ernst Nolte und François Furet sieht Sternhell im Faschismus keine Reaktionsbildung auf den Bolschewismus nach der Revolution von 1917. Er kann zeigen, dass alle wesentlichen Motive faschistischen Denkens schon im Vierteljahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg ausgebildet wurden. Antimarxismus gehört durchaus dazu, weil schon der frühe Faschismus den Begriff der Klasse durch den der Nation ersetzen möchte: Die Nation soll an die Stelle der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse treten, organische Begriffe von Volk und Staat sollen überhaupt die Klassendifferenzen überspielen und einebnen. „Sozialismus“ wird national gedacht.
Darum allerdings sei der Faschismus von Anfang an, so Sternhells immer wieder variierte Grundthese, antiliberal, antibürgerlich, antiindividualistisch, heute würde man hinzufügen: antipluralistisch. Sein Kern, so Sternhell, sei Totalitarismus, die Forderung an den Einzelnen, in einem übermächtigen Ganzen aufzugehen.
Dieses Ganze zeigt sich in allerlei utopischen Vorstellungen von einer neuen Zivilisation und einem neuen Menschen – ausführlich zitiert Sternhell futuristische Schriften aus Italien. Der faschistische Mensch ist durchaus modern, schnell, sportiv, erbarmungslos, aber als Teil eines größeren Körpers. Dabei sind in den von Sternhell vorrangig behandelten französischen, italienischen und englischen Varianten der „Staat“ oder das „Volk“ die übergeordneten Größen und nicht die „Rasse“ wie im deutschen Nationalsozialismus. Diesen thematisiert er übrigens nicht eigens.
Wie hält es der Faschismus mit dem Kapitalismus? Er sieht ihn durchaus kritisch. Sternhell zufolge können faschistische Regime auf die Aufhebung des Privateigentums deshalb verzichten, weil sie die Machtverhältnisse zwischen Staat und Wirtschaft verschoben haben. Der faschistische Staat lenkt und plant die Ökonomie, ohne privates Unternehmertum völlig zu unterwerfen – dies sei überflüssig, solange klar ist, wer das Sagen hat. Die Nation oder der Staat nehmen also unter Fortdauer kapitalistischer Betriebsführung insgesamt sozialistische Züge an, die Wirtschaft wird fundamental politisiert.
Darum sei der Faschismus im Kern auch nicht reaktionär oder konservativ. Die klassische „Rechte“ gehe mit ihm nur Zweckbündnisse ein, die sich gegen die marxistische Bedrohung richten; das ist ein funktional stark reduzierter Rest des Nolte-Gedankens vom „Antibolschewismus“. Aber überall, wo der Faschismus sich mit der reaktionären Rechten verbünde, so vor allem in Spanien, verliere er bald seine eigentümliche Spannkraft.
Sternhells mit reichem Zitatenmaterial unterfütterte Typologie wirkt im jetzigen historischen Moment neu erhellend. Denn der angebliche, Nolte zufolge ihn sogar definierende Hauptfeind des Faschismus, die bolschewistische Arbeiterbewegung, ist tot. Doch gibt es in China ein sozialistisches Regime, das für Privateigentum und Unternehmertum breite Spielräume eröffnete, ohne die Führung abzugeben. Und längst hat die chinesische kommunistische Partei scharf nationalistische Züge angenommen. Individuelle Freiheitsrechte stehen unter dem Vorbehalt des Staats. Dieses Modell eines diktatorisch eingehegten Kapitalismus wirkt attraktiv nicht nur in der asiatischen Weltgegend.
Globalisierung- und einwanderungsfeindliche Populisten können auch in Europa national-soziale Töne anschlagen und mit kulturalistischen Vorstellungen vom „Eigenen“ verbinden. Auch greifen populistische Parteien alte Vorbehalte gegen die repräsentative parlamentarische Staatsform mit ihren Machtbalancen wieder auf. Die Berufung auf den Volkswillen bedroht liberale Schutzrechte des Individuums. Kurzum: Wichtige Motive des Faschismus können auch ohne bolschewistisches Gegenüber funktionieren.
Das heutige Gegenüber der nationalen Populismen ist die Globalisierung, das entfesselte Kapital. Damit entfällt allerdings der von Sternhell immer wieder belegte Modernisierungsfuror des ursprünglichen faschistischen Denkens.
So lädt das gehaltvolle kleine Buch vor allem zu historischer Besinnung, zur Differenzierung ein. Es gibt Familienähnlichkeiten, wie oft in der Geschichte. Einfache Gleichsetzungen heutiger Phänomene mit den vergangenen verbieten sich.
GUSTAV SEIBT
Zeev Sternhell: Faschistische Ideologie. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Volkmar Wölk. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 135 Seiten 15 Euro.
Die Berufung auf den Volkswillen
bedroht liberale
Schutzrechte des Individuums
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Wieder da: Zeev Sternhells klassisch-liberale Einführung in die faschistische Ideologie
Zeev Sternhells Einführung in die faschistische Ideologie geht auf einen Text von 1976 zurück, der 2002 in überarbeiteter Fassung erstmals auf Deutsch erschien. Die neue Ausgabe wurde bibliografisch ergänzt. Der 1935 in Polen geborene israelische Politikwissenschaftler Sternhell hat sich ein Leben lang mit den verschiedenen Ausformungen faschistischen Denkens befasst, vor allem der französische Strang gehört zu seinen Forschungsgebieten. Es dürfte heute kaum einen Wissenschaftler geben, der das kaum überschaubare Quellenmaterial vor allem der westeuropäischen Länder mit Einschluss Italiens so gut kennt. Die Neuausgabe kommt zu einem passenden Zeitpunkt. Im weitesten Sinne „rechtes“ Denken muss seit dem Aufstieg des Populismus wieder identifiziert und debattiert werden. Sternhell liefert dafür Kriterien auch dann, wenn man seine Thesen nicht teilt.
Anders als Ernst Nolte und François Furet sieht Sternhell im Faschismus keine Reaktionsbildung auf den Bolschewismus nach der Revolution von 1917. Er kann zeigen, dass alle wesentlichen Motive faschistischen Denkens schon im Vierteljahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg ausgebildet wurden. Antimarxismus gehört durchaus dazu, weil schon der frühe Faschismus den Begriff der Klasse durch den der Nation ersetzen möchte: Die Nation soll an die Stelle der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse treten, organische Begriffe von Volk und Staat sollen überhaupt die Klassendifferenzen überspielen und einebnen. „Sozialismus“ wird national gedacht.
Darum allerdings sei der Faschismus von Anfang an, so Sternhells immer wieder variierte Grundthese, antiliberal, antibürgerlich, antiindividualistisch, heute würde man hinzufügen: antipluralistisch. Sein Kern, so Sternhell, sei Totalitarismus, die Forderung an den Einzelnen, in einem übermächtigen Ganzen aufzugehen.
Dieses Ganze zeigt sich in allerlei utopischen Vorstellungen von einer neuen Zivilisation und einem neuen Menschen – ausführlich zitiert Sternhell futuristische Schriften aus Italien. Der faschistische Mensch ist durchaus modern, schnell, sportiv, erbarmungslos, aber als Teil eines größeren Körpers. Dabei sind in den von Sternhell vorrangig behandelten französischen, italienischen und englischen Varianten der „Staat“ oder das „Volk“ die übergeordneten Größen und nicht die „Rasse“ wie im deutschen Nationalsozialismus. Diesen thematisiert er übrigens nicht eigens.
Wie hält es der Faschismus mit dem Kapitalismus? Er sieht ihn durchaus kritisch. Sternhell zufolge können faschistische Regime auf die Aufhebung des Privateigentums deshalb verzichten, weil sie die Machtverhältnisse zwischen Staat und Wirtschaft verschoben haben. Der faschistische Staat lenkt und plant die Ökonomie, ohne privates Unternehmertum völlig zu unterwerfen – dies sei überflüssig, solange klar ist, wer das Sagen hat. Die Nation oder der Staat nehmen also unter Fortdauer kapitalistischer Betriebsführung insgesamt sozialistische Züge an, die Wirtschaft wird fundamental politisiert.
Darum sei der Faschismus im Kern auch nicht reaktionär oder konservativ. Die klassische „Rechte“ gehe mit ihm nur Zweckbündnisse ein, die sich gegen die marxistische Bedrohung richten; das ist ein funktional stark reduzierter Rest des Nolte-Gedankens vom „Antibolschewismus“. Aber überall, wo der Faschismus sich mit der reaktionären Rechten verbünde, so vor allem in Spanien, verliere er bald seine eigentümliche Spannkraft.
Sternhells mit reichem Zitatenmaterial unterfütterte Typologie wirkt im jetzigen historischen Moment neu erhellend. Denn der angebliche, Nolte zufolge ihn sogar definierende Hauptfeind des Faschismus, die bolschewistische Arbeiterbewegung, ist tot. Doch gibt es in China ein sozialistisches Regime, das für Privateigentum und Unternehmertum breite Spielräume eröffnete, ohne die Führung abzugeben. Und längst hat die chinesische kommunistische Partei scharf nationalistische Züge angenommen. Individuelle Freiheitsrechte stehen unter dem Vorbehalt des Staats. Dieses Modell eines diktatorisch eingehegten Kapitalismus wirkt attraktiv nicht nur in der asiatischen Weltgegend.
Globalisierung- und einwanderungsfeindliche Populisten können auch in Europa national-soziale Töne anschlagen und mit kulturalistischen Vorstellungen vom „Eigenen“ verbinden. Auch greifen populistische Parteien alte Vorbehalte gegen die repräsentative parlamentarische Staatsform mit ihren Machtbalancen wieder auf. Die Berufung auf den Volkswillen bedroht liberale Schutzrechte des Individuums. Kurzum: Wichtige Motive des Faschismus können auch ohne bolschewistisches Gegenüber funktionieren.
Das heutige Gegenüber der nationalen Populismen ist die Globalisierung, das entfesselte Kapital. Damit entfällt allerdings der von Sternhell immer wieder belegte Modernisierungsfuror des ursprünglichen faschistischen Denkens.
So lädt das gehaltvolle kleine Buch vor allem zu historischer Besinnung, zur Differenzierung ein. Es gibt Familienähnlichkeiten, wie oft in der Geschichte. Einfache Gleichsetzungen heutiger Phänomene mit den vergangenen verbieten sich.
GUSTAV SEIBT
Zeev Sternhell: Faschistische Ideologie. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Volkmar Wölk. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 135 Seiten 15 Euro.
Die Berufung auf den Volkswillen
bedroht liberale
Schutzrechte des Individuums
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