Produktdetails
  • Verlag: Böhlau Köln
  • ISBN-13: 9783412131012
  • ISBN-10: 3412131016
  • Artikelnr.: 10203633
Autorenporträt
Sven Reichardt ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002

Pausenloses Vergessen im charismatischen Verband
Vergemeinschaftung als pfingstlicher Vorgang: Sven Reichardt vergleicht in einer monumentalen Mikrostudie die faschistischen Kampfbünde Italiens und Deutschlands / Von Christian Geyer

Die Betrachtung einer Vergemeinschaftung ist, durch die historischen und soziologischen Dimensionen hindurch, ein eminent philosophisches Unternehmen, und vielleicht ist es sogar dieser vom Autor gar nicht weiter hervorgehobene, gleichwohl aber souverän durchgeführte Zugriff, der seine Arbeit besonders rühmenswert macht. Daß Sven Reichardt trotz der immensen Forschungserträge zum Faschismus noch einmal mit einer achthundertseitigen Dissertation zum Thema aufwartet, hängt mit einer bislang noch weitgehend unausgeleuchteten Perspektive zusammen: Reichardt untersucht die paramilitärischen Kampfbünde der aufsteigenden faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland bis zur jeweiligen Machtübernahme im Vergleich. Er kann darauf verweisen, daß zuvor diese Organisationen in noch keinem Aufsatz, geschweige denn in einer Monographie miteinander verglichen wurden, schon gar nicht so schwerpunktmäßig empirisch, wie italienischer Squadrismus und deutsche SA hier gesehen werden, gilt doch die empirische Sättigung als ein klassisches Manko der allzu abstrakten Faschismustheorie.

Wobei Reichardts bewußte Beschränkung auf Praxis und Handlungen der faschistischen Akteure, das Ausblenden jeder programmatischen Ideologie, selbst wieder eine abgründige theoretische Entscheidung ist. Sein Blick auf die "strukturiende Kraft des Handelns", so Reichardt, unterscheide sich von einer Interpretation des Faschismus als Ideologie durch die Überzeugung, "daß das Handeln seine eigenen Gründe hat und nicht einfach vollzieht, was zuvor gedacht und entschieden wurde". Ein Satz, der den philosophischen Clou gewissermaßen vorwegnimmt und die Fülle der Empirie, die sich in der Folge vor dem Leser ausbreitet, vor allem als Test auf eine anthropologische Überlegung erscheinen läßt: Der eine Mensch gesellt sich zum anderen, weil er vergißt, weil er verdrängt, weil er erzählt - nicht weil er denkt und arbeitet und wählt. Tatsächlich gelingt es Reichardt bravourös, die hermetische Vergemeinschaftung der Kampfverbände, wie plausibel sie sich aus den Biographien ihrer Mitglieder und der Konstellation ihrer Zusammenkünfte auch immer erklären läßt, als Parabel für die verschmierte, nicht etwa normativen Distinktionen gehorchende Realität der Dinge zu nehmen, in welcher das, was letztendlich geschieht, sich als die kalkuliert-nichtkalkulierte Summe vereitelter Absichten herausstellt. Das ist keine Entpolitisierung des Faschismus, sondern Aufweis der paradoxen Bedingungen, unter denen er seine fatale Schubkraft gewinnt. Nur in diesem voraussetzungsreichen Modus will Reichardt Mussolinis Diktum verstehen und für seine praxeologische Faschismusdefinition fruchtbar machen: "Wir Faschisten haben keine vorgefaßte Doktrin, unsere Doktrin ist die Tat."

Nehmen wir mit Reichardt das Beispiel des Berliner SA-Sturmführers Friedrich Eugen Hahn, einem Commerzbank-Angestellten, der sein Leben lang zwischen verschiedenen rechtsgerichteten paramilitärischen Organisationen wechselte, bevor er den Charlottenburger Sturm als die proklamierte Ersatzfamilie übernahm, jeden Kontakt zu seinen Verwandten abbrach und vom Sturmlokal aus in vorderster Front mit eichenem Gehstock Abend für Abend die Kommunisten verprügelte. Was da so scheinbar festgefügt und unumkehrbar vor uns steht, versehen mit den Etiketten "Entscheidung" und "Lebensplan", ist bei näherem Hinsehen doch nur die lockere Fügung der Gründe, die sich aus der Dynamik des Handelns ergeben: Getan wird, was gerade dran ist, wie immer man das Verhalten im Nachhinein zu einer Bourdieuschen "sozialen Flugbahn" zusammensetzen mag.

In diesem Sinne zurück zum Beispiel Friedrich Eugen Hahn: Als Sohn eines Majors a.D. war er auf der Suche nach einem Ersatz für die Kadettenanstalt und die verpaßte Kriegserfahrung. Schon mit dreizehn Jahren trat Hahn dem Deutschnationalen Jugendbund bei, dessen Mitglied er von 1919 bis 1922 blieb. Seit Juni 1922 gehörte er dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund an, von Juli bis August 1923 der Ersatzformation der Schwarzen Reichswehr im Fort Hahneberg. Von Anfang 1923 bis Mitte 1924 war er im nationalen Wehrverband der "Turnerschaft Ulrich von Hutten" tätig, von Januar bis August 1924 Mitglied im Deutschen Bismarckorden und dann bis Anfang 1926 im Frontbann aktiv, in dem er erstmals, mit gerade mal neunzehn Jahren, eine Führungsposition als Kompanieführer bekleidete. Bei der Gründung der Berliner SA im März 1926 war er einer ihrer ersten Mitglieder. Hier machte Hahn Karriere vom Sturmbann- zum Standartenführer. Für Friedrich Eugen Hahn war damit jeder Lebensschritt weiterführend, der ihn glücklich von einem Teil seiner Erfahrung zu einem anderen Teil brachte, indem er die Schritte so zweckentsprechend aufeinander bezog, daß er jede neue Idee dem alten Vorrat an Ansichten mit einem Minimum an Störung und mit einem Maximum an Kontinuität einverleben konnte. "Praxeologisch" nennt Reichardt diese die eigenen Gründe des Handelns punktstrahlerhaft beleuchtende Perspektive, welche nicht ausweicht in das gleißende Licht der als Modul in beinahe jeden Lebenslauf einsetzbaren "Deklassierungsängste".

Wenn man schon von einer Wahlverwandtschaft zwischen Faschismus und philosophischem Pragmatismus reden will, dann ließe sich allenfalls in dieser praxeologischen Perspektive das ein oder andere Argument dafür auffinden. Denn nichts anderes tat William James, als die aktionistischen und dynamischen Momente der pragmatischen Maxime zur Leitwährung im Haushalt der Ansichten zu erheben. Tatsächlich kommt dies, freilich ohne deshalb schon einen Kausalnexus konstruieren zu können, dem entgegen, was die auf Aktion und Dynamik setzenden faschistischen Bewegungen zum "Programm" erhoben.

In Italien wie in Deutschland sieht Reichardt den zentralen Mechanismus des faschistischen Kampfbundes "in der herausragenden Bedeutung ihrer gewalttätigen Handlungen, die wiederum durch den (organisationsinduzierten) Eingriff in die alltägliche Lebenswelt der Kampfbundmänner sozial erzeugt wurde". Gewalt erscheint als die tägliche, stets nach neuer Gewalt verlangende Abfuhr, die keines weiteren "Programms" bedarf. Die Permanenz einer sämtliche Lebensvollzüge von unten her aufnehmenden und durchdringenden Beschäftigung war Inhalt genug, welche in ihrer Freiwilligkeit lediglich der ständigen Anerkennung und emotionalen Abpufferung der Gruppe, zumal ihres Vorsitzenden bedurfte. So wurde der Sturmführer per SA-Befehl angewiesen, "seine Männer, deren Wohnungen und Arbeitsstätten genau zu kennen". Er müsse, so hieß es dort weiter, "wenigstens einmal persönlich in der Wohnung jedes Mannes gewesen sein". Sturmführer zu sein, bedeutet denn auch, "mehr opfern zu dürfen als die Kameraden", sich noch fragloser dem permanenten Beschäftigtsein widmen zu können, jener bei aller Elastizität im Kern doch bürokratischen und darum so wirksamen Vorstellung: Ideen zu befolgen, indem man sie abarbeitet.

"Squadristi were occupied for days, even weeks", schrieb Paul Corner in diesem Sinne über die italienische Seite und stellte fest: "For many it had become a permanent occupation." Das Innenleben der Organisation wurde für den typischen Squadristen zunehmend zur alltäglichen Lebenswelt. Der von Reichardt ebenfalls zitierte Detlev Peukert hat in ganz ähnlicher Weise den totalen und vitalistisch-aktivistischen Zug der SA beschrieben: "Wichtig war die pausenlose Aktivität, die ganztägige und oft auch nächtliche Teilnahme erforderte, waren die Dialektik zwischen massenhafter spontaner Teilnahme und disziplinierter Ordnung, war die ,Bewährung' der Mitglieder im Erfüllen der Organisationsaufgaben und die Unterordnung unter eine Befehlsstruktur, die die Ganzheitlichkeit der ,Bewegung', die Maschinenhaftigkeit der Organisation symbolisierte. Wichtig war, daß der totalisierenden Okkupation des einzelnen Tagesablaufs wie dem Anspruch nach des ganzen Lebenslaufs der Mitglieder die ideologische Projektion eine grundsätzliche Alternative zum leidvoll erfahrenen ,System' entsprach."

Mit seinem minutiösen, dichten Belegstil gelingt es Reichardt, anhand der archivalischen Überlieferungen und publizierter Quellen ein weites Spektrum in die vergleichende Betrachtung zwischen SA und Squadrismus einzubeziehen, wobei stets auch die Abgrenzung zu rechtsautoritären und kommunistischen Kampfbünden vorgenommen wird. Da Reichardt nur die Kampfbünde in der faschistischen Aufsteigsphase untersucht, weigert er sich ausdrücklich, die hierfür festgestellte Dimension der "Gewalt als lebensstilprägenden Selbstzweck" zum einzigen oder allein ausschlaggebenden Merkmal einer Faschismusdefinition zu erweitern.

Tatsächlich hatte die faschistische Gewalt viel zu unterschiedliche Funktionen und Ausprägungen und wandelte sich je nach Phase und Struktur der faschistischen Bewegung beziehungsweise des faschistischen Systems zu stark, als daß sie sich an einem begrenzten Untersuchungsgegenstand vollgültig entwickeln ließe. Wohl aber läßt sich beobachten, daß die Bewegungen im Laufe ihrer Entwicklung einen Charakter annahmen, der wichtige Erscheinungsformen des jeweiligen Regimes vorwegnahm. Reichardt: "Bevor aus der Nation eine Schule des Hasses wurde, war aus der faschistischen Bewegung eine Kaserne der Gewalt geworden."

In Italien wie in Deutschland steigerte sich die faschistische Gewalt vor allem zu Wahlzeiten, wodurch sichtbar wird, wie eng politische Propaganda und Gewalt im Faschismus zusammenhingen. Propaganda war also kein Ersatz für Gewalt, sondern eine ihrer Seiten. Darin sieht Reichardt den Unterschied zu den Aktionsformen der Kommunisten begründet, deren Methoden zwar ebenfalls Straßenöffentlichkeit mit Gewaltausübung verbanden, "aber doch stärker an den Bereich der Arbeitswelt gebunden waren". In beiden Ländern wurde die potentielle Gewaltdrohung - sei es bei der Stadtbesetzung oder beim Straßenumzug - durch die Auftrittsform ästhetisiert. Man präsentierte Gewaltsymbole (Totenschädelembleme auf der Uniform, Nahkampfwaffen und Revolver, Haßlieder, Märtyrerkult) oder raubte dem Gegner seine Machtsymbole, zumal die Fahnen. Damit verband man die direkte Drohung an die Adresse der sozialistischen Arbeiterbewegung mit dem Stärkesignal an das rechtsgerichtete Bürgertum.

Wobei Reichardts Vergleich ergibt, daß die Gewaltakte hier wie dort fast ausschließlich der politischen Linken galten, die Gewalt der Squadristen aber "effizienter" war als die der SA. Demnach ging man in Italien gezielter gegen wichtige sozialistische Funktionäre und Parlamentarier vor und brannte in systematischer Weise die zentralen Gebäude der Arbeiterbewegung nieder. "Die SA-Aktionen blieben dagegen häufiger in einem Kleinkrieg des Nachbarschafts-Kiezes stecken und versuchten, dem politischen Gegner durch die Terrorisierung der sozialistischen Wirtshäuser einen wichtigen Treffpunkt und ein Stück seiner politischen Heimat zu nehmen."

Was den Organisationsaufbau betrifft, bestätigen Reichardts Mikrostudien den Befund, daß sowohl Mussolini als auch Hitler den milizionären Arm der Bewegung in die Doppelstrategie einer revolutionären wie legalistischen Machtergreifungsstrategie einbanden. In beiden Fällen drängten die Kampfbündler den parteipolitischen Teil der Bewegung zu radikaleren Machtergreifungsmethoden und bewirkten dadurch - da institutionelle Konfliktaustragungseinrichtungen weitgehend fehlten - "permanente Reibereien und Konflikte in den labilen faschistischen Bewegungen".

Im Unterschied zur SA waren die Squadren, so sieht man jetzt deutlicher, stärker in die faschistische Bewegung integriert worden, aber beide Bewegungen zeichneten sich dennoch "im gleichen Maße durch eine eigentümliche Mischung aus bündischer, militärischer und Parteistruktur aus und ließen das Verhältnis zwischen diesen Elementen weitgehend ungeklärt". Neben dem Mentalitätsunterschied zwischen "Soldaten" und "Politikern" innerhalb der Bewegungen waren die Konflikte in Deutschland zusätzlich durch die Finanzmisere der SA mitbedingt, die angesichts ihrer hohen Arbeitslosen- und Arbeiteranteile umso schwerer wog. Ein Umstand, der bei den durch Agrarier und Industrielle vergleichsweise gut finanzierten Squadristen keine Rolle spielte. Als Faustregel will Reichardt festgehalten wissen, daß sich kaum ein gemeinsames soziales Substrat der Kampfbünde festmachen läßt. Vielmehr waren es Deklassierungserfahrungen und -ängste aus allen Schichten der Gesellschaft, die typisch für die Mitglieder - zu achtzig Prozent unter dreißig Jahren - waren.

In rasanten Wachtstumsschüben, so zeigen Reichardts Zahlenkolonnen, verdreifachten die Kampfbünde ihre Mitgliederzahl in nur wenigen Monaten - "diesem Tempo entsprach ihre innere Labilität und ihr Organisationsaufbau, der auf den berauschenden Effekt des permanenten Vorwärtsdrängens angewiesen war". Die Ästhetisierung des Aufbruchs in militanten Bildern und die Stilisierung des rasanten Wachstums zu einer Rhetorik der Unaufhaltsamkeit sei in beiden Fällen von maßgeblicher Bedeutung für die innere Stabilität der faschistischen Kampfbünde gewesen. Entgegen einer verbreiteten Annahme, so Reichardt, war die SA nicht überproportional städtisch strukturiert, "sondern stellte ihre stärksten Bataillone in den ländlich-evangelischen Regionen Schleswig-Holsteins, Ostpreußens und Schlesiens auf, während die großstädtische SA schwach blieb und erst im Jahr 1932 überhaupt eine nennenswerte Stärke erreichte." Als ebenso fälschlich bezeichnet der Autor die Annahme eines primär ländlichen Squadrismus, denn obwohl dessen Aktionsfeld auf dem Lande lag, seien viele Squadristen doch aus den Provinzhauptstädten der Emilia-Romagna gekommen, die die Hauptrekrutierungsregion für die Squadren darstellte.

Reichardt spürt den Formen der Vergemeinschaftung in jener Kleinteiligkeit nach, in der sie sich de facto vollzieht, steigt zu den Trinkgelagen in die Squadrenbars und SA-Stumlokale hinab, gräbt die Spitznamen der Kampfbündler aus, unter denen sie sich oft nur kannten, zeigt, daß Verwandtschaftsbeziehungen vor allem unter Brüdern und Vettern eine wichtige Ressource für den Aufbau der Squadren war, was bei der SA eine geringere Rolle spielte. Hier wie dort zeigte sich jedoch die Bedeutung vorgängiger Freundschaften sowie eine markante Spannung zwischen der Mitgliedschaft im Kampfbund und der familiären Beziehung zu den Eltern. Weil man sich nicht als bloßer Angehöriger einer Parteigliederung, sondern als "Mitglied einer persönlich miteinander verbundenen Gemeinschaft" fühlte, feierte man Weihnachten lieber zusammen mit den Kameraden als im Familienkreis. Wer bei diesen oder anderen Üblichkeiten nicht mitzog, wurde meist mit sozialen Sanktionen von unten zur Konformität oder zum Ausstieg gedrängt. In der faschistischen Männlichkeitsrhetorik wird Männlichkeit durchweg weder im Bild des harten Arbeiters, wie dies die Kommunisten taten, noch im Bild vom Familienvater oder gar Liebhaber stilisiert, "sondern ausschließlich in der Konstruktion vom kompromißlosen Schläger, der, treu zusammenstehend mit seinen Kameraden, für die ,Rettung der Nation' kämpft". Reichardt macht bei diesem, "der militärischen Männlichkeitskonstruktion nicht unähnlichen" Bild eine "tiefliegende Angst vor einer leidenschaftlichen, weil identitätszersetzenden Sexualität" aus, "realiter scheint ein desensibilisiertes Objektverhältnis zu Frauen dominant gewesen zu sein". In vielerlei Hinsicht glichen faschistische Kampfbünde jugendlichen Gangs, denen es aber in ihren Deklarationen wiederum nicht um Politik, sondern vor allem um Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur ging.

Bedauern mag man, daß Reichardt die Fülle seines Materials nicht nutzte, um - gerade ausgehend von der Praxeologie seines Ansatzes - sich noch der Mühe zu unterziehen, den "Bund" als die maßgebliche Form der faschistischen Vergemeinschaftung theoretisch einzuordnen und dadurch weiter zu schärfen. Damit hat er eine Frucht verschenkt, die er nur noch hätte pflücken müssen. Bloß nebenbei erwähnt er den Georgianer Herman Schmalenbach, der jenseits der eingespielten begrifflichen Frontstellung "Gemeinschaft versus Gesellschaft" 1922 gegen Tönnies den Begriff des Bundes in die Soziologie eingeführt hatte. Schmalenbach, der in Tönnies nur den Erben der Romantik zu sehen vermochte, hatte sich - wie ein kürzlich erschienener Aufsatz Stefan Breuers ausführt - die Aufgabe gestellt, "die grundlegenden Kategorien der allgemeinen Soziologie aus der Enge von Tönnies Zweiheit in die notwendige Dreiheit zu befreien". Hier hätte Reichardts Konzeption des Bundes spielend anknüpfen können.

Der Bund, kategorial zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft angesiedelt, teilt mit der Gesellschaft die Eigenschaft, bewußte und gewollte Zusammenschlüsse von bis dahin Unverbundenen zu sein; mit der Gemeinschaft das Merkmal, "ganze" Personen zu umfassen und eben nicht nur Rollen. Angelegt ist darüber hinaus - so Breuers instruktive Exegese Schmalenbachs - die Nähe, in der der Bund zu Max Webers Kategorie des charismatischen Verbands als einer emotionalen Vergemeinschaftung stehe, womit zugleich die Möglichkeit eröffnet war, ihn mit der charismatischen Revolution in Zusammenhang zu bringen. Das ist Wasser auf Sven Reichardts praxeologische Mühlen. Eine Vergemeinschaftung, die wie bei den faschistischen Kampfbünden dem Grundsatz gehorcht: Getan wird, was dran ist, bleibt im Kern ein pfingstlicher Vorgang.

Sven Reichardt: "Faschistische Kampfbünde". Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA. Böhlau Verlag, Köln 2002. 814 S., geb., 59,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Seit längerem schon kommen die relevanten Faschismusstudien aus Großbritannien, bemängelt Stefan Breuer, Deutschland und Italien produzierten dagegen bloß interessante Einzelforschungen. Erstmals hat nun ein deutscher Historiker eine vergleichende Studie geschrieben, die Breuer vorab als "Meisterwerk" tituliert, weil es ihr gelinge, den Faschismus als "politisches Phänomen sui generis" zu betrachten. Reichardt nähert sich dabei seinem Phänomen über die Ebene der politischen Praxis und nicht etwa über deren Programmatik, schreibt Breuer. Viele Befunde dieser "materialgesättigten" Studie seien nicht neu, doch gelinge es Reichardt immer, sie durch seine eigenen Quellenstudien zu überprüfen und dabei nuancenreich zu modifizieren, so dass sein Buch nie "schulmäßig und ergo überraschungslos" wirke. Allerdings hat auch dieses meisterliche Buch seine Grenzen, gesteht Breuer zu, es nähere sich eben dem Faschismus als Bewegung, nicht aber als Regime an. Das erfordere allerdings andere Mittel, als die, die Reichardt für seinen Bereich glänzend einzusetzen gewusst habe.

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