Anh-Linh Ngo mit Sascha Kellermann Fassadenmanifest Die Herausbildung des modernen Architekten fällt mit der Erfindung der Fassade als eigenständige Bauaufgabe zusammen. Es waren Theoretiker wie Leon Battista Alberti oder Filarete, die im 15. Jahrhundert den Architekten als Urheber architektonischer Konzepte, als Planverfasser, oder, wie es Filarete formulierte, als „zeichnenden Denker“, mithin als geistigen Arbeiter aus der handwerklichen Tradition des Baumeisters herauszulösen suchten. In diesem epochalen Umbruch sind die architekturtheoretischen Traktate von Alberti und Filarete zu verorten, die „Architektur als politische Sprache“ etablieren und damit den Architekten diskursiv auf Augenhöhe mit den Herrschenden emporheben wollten, wie der französische Historiker Patrick Boucheron überzeugend argumentierte.1 Dies hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis der Disziplin, denn der Architekt ist fortan, so Boucheron, „nicht allein dazu da, dem Wunsch des Auftraggebers zu folgen, sondern dazu, ihn zu interpretieren und zu einem Diskurs zu verarbeiten, der die Zustimmung der Mehrzahl finden soll“. Im 15. Jahrhundert wird im Übergang von der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung zur Neuzeit die absolutistische Macht neu konfiguriert. In dieser Umbruchszeit fällt den Architekten eine neue Aufgabe zu: Sie sollen dort, wo die Interessen der Bauherrschaft mit den Interessen des Gemeinwohls aufeinandertreffen – an der Schnittstelle des Bauwerks zum öffentlichen Raum also – architektonischen Ausdruck und politische Aussage in Einklang bringen und legitimieren. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die bahnbrechenden Ideen Albertis und vieler seiner Zeitgenossen sich zunächst vor allem im Medium der Fassade äußerten. Je nach politischer Programmatik bedienten sie sich dabei der Rhetorik der Einschüchterung, der Beeindruckung oder auch der Überzeugung, um der Gesellschaft die Machtverhältnisse zu vermitteln. Auch wenn Alberti für eine angemessene politische Sprache (der Architektur wie der Macht) und deren Einbindung in die Stadt eintritt, führt dieser Schritt den Berufstand in ein unentrinnbares Dilemma: In dem Moment, in dem sich der Architekt als Denker neu erfindet, macht er sich zugleich gemein mit der Programmatik der Macht, die er architektonisch diskursiviert. Das heißt, er kann von nun an intellektuell in Mit-Haftung genommen werden und sich nicht mehr auf die Position des Handwerkers zurückziehen, der nur ausführt, was andere gedacht haben. Diesem Widerspruch wird er von nun an nicht mehr entkommen, egal welchem Auftraggeber er auch immer mit seinen Diskursen zu Diensten sein wird – und sei es einer solch abstrakten Macht wie dem Kapital heute. Es ist dieser Hintergrund, der uns noch heute Fassaden als Trägerinnen von Bedeutung und Ideologie ansehen lässt. Die Diskursivierung der Fassade ermöglicht es, die nonverbale, bildhafte Wirkung von Häuserfronten zu beschreiben, zu analysieren und auf ihre rhetorischen Figuren hin zu untersuchen. In ihnen manifestieren sich ideologische, politische, ökonomische, kulturelle und soziale Programme, nicht zuletzt im Sinne der Verdinglichung der arbeitsteiligen, kapitalistisch organisierten Gesellschaft, wie der Philosoph Wolfgang Scheppe nicht müde wird zu betonen.2 In seinem Leitartikel für dieses Heft arbeitet Scheppe heraus, dass die Behandlung der Gebäudeschauseiten seit der Renaissance bis in die Gegenwart als Ausdruck der jeweiligen Macht- und Produktionsverhältnisse betrachtet werden kann. Die Fassade kommt, so Scheppe, immer dann ins Spiel, „wenn der physische Nutzen und also Gebrauchswert transzendiert wird in einen gegen ihn selbständigen und indifferenten Zeichencharakter.“ Diese Entkoppelung des Gebrauchswertes von seiner Erscheinung hat bereits der Philosoph Wolfgang Fritz Haug in gleicher marxistischer Tradition in seiner Kritik der Warenästhetik (1971) beschrieben: „Hinfort wird bei aller Warenproduktion ein Doppeltes produziert: erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes. […] Mit dem System von Verkauf und Kauf tritt auch der ästhetische Schein, das Gebrauchswertversprechen der Ware, als eigenständige Verkaufsfunktion auf den Plan.“3 Einen ähnlichen Vorgang können wir im Zusammenhang mit der Fassade feststellen: So wie die Erscheinung einer Ware ein bestimmtes „Gebrauchswertversprechen“ signalisiert, dieser ästhetische Schein sich aber von der Ware löst und zur „eigenständigen Verkaufsfunktion“ wird, so können wir auch die Ablösung der Schaufassade vom dahinterliegenden Gebäude beobachten. Es sind vor allem die Fassaden, die in Anbetracht der Globalisierung und Digitalisierung im Wettbewerb stehen und mit ihrer massenhaften Verbreitung gesellschaftliche Diskurse prägen. In ihrem Essay zur Architektur im Zeitalter ihrer digitalen Darstellung und Verbreitung umschreiben die beiden Kuratorinnen Fabiola Fiocco und Giulia Pistone die Verschärfung dieses Phänomens mit dem Begriff digitaler Konsum: „Es geht dabei nicht in erster Linie um ihre architektonische Nutzung – Häuser, in denen man wohnt, Restaurants, in denen man speist, Museen, die man besucht –, sondern um ihre visuellen Qualitäten. Es geht um Bilder von ihnen und die Rolle, die diese in der Darstellung von in den sozialen Medien beliebten Lifestyles spielen.“ Mit Haug gesprochen löst sich in der Spätmoderne der ästhetische Schein bzw. das Gebrauchswertversprechen (die Fassade) nicht nur von der Ware (das zu nutzende Gebäude), sondern wird selbst zur Ware (das digital zu konsumierende Abbild). Dabei kann die Fassade längst nicht mehr auf die Außenseiten eines Gebäudes reduziert werden. „Die Schauseite – ob der Personen, Kutschen oder Gebäude – ist zum Repräsentieren. Die private Sphäre ist der Rückzugsraum hinter der Bühne. Draußen ist ständig Theater, drinnen darf man sich vom Auftritt erholen und auf das Auftreten vorbereiten“4, schreibt der Architekturtheoretiker Georg Franck noch 1998 über den begrenzten Zugriff in der Welt der Aufmerksamkeitsökonomie. Eine Aussage, die heute längst überholt ist: Denn mit dem umfassenden Zugriff der Sozialen Medien und digitalen Plattformen dringt das Prinzip der Schauseite auch in privateste Lebensbereiche vor und erodiert den Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Räumen und Rollen. Alles ist Bühne, jede Handlung ein Auftritt. Oder wie es Walter Benjamin, ein Stichwortgeber für dieses Heft (das ursprünglich den anspruchsvollen Arbeitstitel „Das Fassaden-Werk“ trug), in seinem monumentalen geistigen Steinbruch Das Passagen-Werk als Vorahnung bereits formulierte: „Das Interieur tritt nach außen. Es ist als wäre der Bürger seines gefesteten Wohlstands so sicher, daß er die Fassade verschmäht, um zu erklären: mein Haus, wo immer ihr den Schnitt hindurch legen mögt, ist Fassade. […] Die Straße wird Zimmer und das Zimmer wird Straße. Der betrachtende Passant steht gleichsam im Erker.“5 Während sich für Benjamin in der „Passage“ der Kapitalismus im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts architektonisch manifestierte, spiegelt für uns die Fassade politische und ökonomische Strategien und ästhetische Fragen am deutlichsten im Raum wider – nicht zuletzt, weil sie mindestens seit der Renaissance, wie eingangs dargelegt, einem politischen Diskurs unterliegt und dadurch die in der Gesellschaft vorherrschenden Kräfte und Ideologien ablesbar macht. Auf eine dieser Wirkmächte weisen verschiedene Autor*innen in dieser Ausgabe hin. Die Bildproduktion und der Bildkonsum von Architektur haben Fiocco und Pistone zufolge längst wirtschaftlich relevante Dimensionen erreicht. Ob die Umsetzung eines Großprojektes erfolgreich ist, hängt nicht zuletzt vom Erfolg der werbenden Bilder ab. So war das Rendering der Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron Jahre im Voraus medial präsent und wurde zum politischen Instrument, welches das Verhältnis von Objekt und Abbild umkehrte: Die Realität muss sich am digitalen Vorbild messen. Dieser Vorgang zeitigt längst unheimliche Entwirklichungseffekte vor allem bei internationalen Großprojekten, wie die Architekturkritikerin Simone Brott im Interview feststellt. Man könnte sagen, die Welt ist zum Bild geworden, und dieses Bild legt sich stets retinal über die Wirklichkeit. Die Betrachtung der Fassade kann also nicht mehr nur auf den physischen Raum reduziert werden, sondern muss deren digitalen Zwilling mit in den Blick nehmen. Das Bild hat sich verselbständigt und sich im Zuge dessen verfestigt. Es ist entgegen dem Gerede von seiner Flüchtigkeit und Immaterialität dasjenige, das am längsten währt und am weitesten reicht. Die härteste Währung unserer Zeit – wenn man den astronomischen Preisen von NFT-Kunstwerken Glauben schenkt. Das vorliegende Heft schaut der zeitgenössischen globalisierten Stadt ins Gesicht, versucht, hinter ihre Masken zu blicken und den Wert ihrer Bildnisse einzuschätzen. Anhand ausgewählter Projekte untersucht die Ausgabe nicht nur, welche gesellschaftlichen Kräfte und Machtverhältnisse auf die Entstehung von Fassaden einwirken, sondern auch, welche Kräfte von ihnen ausgehen. Von der Londoner City über Selbstbauviertel von Mexikostadt bis in virtuelle Welten. Das Fassadenmanifest, wie wir dieses Heft selbstbewusst nennen, ruft dazu auf, die Fassaden und Architekturbilder nicht einfach nur zu konsumieren, sondern sie in einer intellektuellen Anschauung zu entziffern. Der Erkenntnisgewinn dabei lautet: dass der Kampf um Aufmerksamkeit global tobt und sich lokal auswirkt; dass Bilder auch konkrete und diffuse Gewalt ausüben; dass Fassaden in unseren Städten gesellschaftliche Diskurse prägen; dass bei diesem Kampf Fragen der Repräsentation, der Identität, der Teilhabe meistens auf der Strecke bleiben. Doch klar ist auch, dass es kein Zurück in vordigitale Zeiten geben wird, zumindest nicht um den Preis der Regression. Die Zukunftsaufgabe wird sein, dem ungeregelten öffentlichen Raum des Internet „eine visuell-ästhetische Ordnung zu geben“, wie es der Ausblick von Michel Kessler am Ende der Ausgabe formuliert. Wir müssen uns dazu befähigen, „mit den Spezies aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz, mit den Cyborgs, Chimären, Mutanten und Bots zu kommunizieren, sie zu zähmen, ja aus einer sinnlichen und geistigen Lust hinter ihre Fassaden zu steigen und mit synthetischen Zungen aus ihnen heraus zu reden.“ Anders gesagt: Wir müssen uns – wie ehedem Alberti im 15. Jahrhundert – diskursiv auf Augenhöhe mit den herrschenden Mächten unserer Zeit emporheben, die in Form von Codes und Algorithmen dem Alltag bereits ihren Stempel aufdrücken. Der Preis, den wir zu zahlen haben, ist bekannt: Die Programmatik der Macht von heute architektonisch zu diskursivieren heißt, dass wir abermals intellektuell mit in Haftung genommen werden und uns nicht mehr auf die Position zurückziehen können, wir führten nur aus, was die Algorithmen uns eingeben. In dieser Verantwortung stehen Architekt*innen im 21. Jahrhundert. Dank Für die Initiative zu dieser Ausgabe möchte ich Raphael Dillhof und Stefan Fuchs meinen großen Dank aussprechen. Sie haben uns mit auf eine faszinierende Reise hinter die Fassade genommen. Dank gebührt auch Nina Lucia Groß, die den beiden mit Rat und Tat zur Seite stand und deren Exkurs zum Bild europäischer Architektur in Florida wir online veröffentlichen. Ein weiterer Online-Beitrag stammt von Bettina Vismann. Danken möchte ich auch dem ARCH+ Team, allen voran Sascha Kellermann sowie Nora Dünser, Max Kaldenhoff, Michel Kessler, Markus Krieger, Goran Travar und Joanna von Essen. ALN 1Patrick Boucheron: „Von Alberti zu Macchiavelli: die architektonischen Formen politischer Persuasion im Italien des Quattrocento“, in: trivium. Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften (Februar 2008), übers. v. Achim Russer, doi.org/10.4000/trivium.2292 (Stand 11.10.2021) 2Vgl. Wolfgang Scheppe: „Architektur als Verdinglichung – Realabstraktion und Fassade“, in: ARCH+ 204: Krise der Repräsentation (Oktober 2011), S. 8–17 3Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1971, S. 16 f. 4Georg Frank: Ökonomie der Aufmerksamkeit – Ein Entwurf. München 2007, S. 54 5Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1982, S. 512