Leo Hickman bittet drei Experten, den Lebensstil und Haushalt seiner Familie zu analysieren. Schnell stellt sich heraus, dass von der Küche über das Bad bis hin zum Kinderzimmer kaum etwas ethisch unbedenklich bzw. umweltverträglich ist: Produkte großer Konzerne, die es aufgrund ihrer Firmenpolitik zu boykottieren gilt, giftige Stoffe in Putzmitteln und unzählige Lebensmittel, die Tausende von Kilometern gereist sind, um außerhalb der Saison auf dem Tisch zu landen. Nach und nach beginnen die Hickmans, sich umzustellen: Gemüse vom regionalen Bio-Bauernhof, soziales Engagement im eigenen Stadtviertel und ein umweltschonender Urlaub Wandern in Italien, Anreise natürlich per Zug sind die leichteren Übungen. Schwierigkeiten bereiten die selbst gemixten Putzmittel, die nicht jedem Schmutz gewachsen sind, und als Hickman seiner Partnerin vorschlägt, auf ihre Lieblings-Crèmes aus der Parfümerie zu verzichten, reagiert sie kurzzeitig mit Boykott des Experiments ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2006Des "Guardians" gutes Gewissen
Der britische Journalist Leo Hickman hat ein Jahr lang versucht, "ethisch korrekt" zu leben - und ist dabei auf den Geschmack gekommen
VON MATTHIAS HEINE
Leo Hickman wirkt ein bißchen, als hätten wir ihn gerade bei einem Ladendiebstahl ertappt. Dabei war die Frage, ob er mit dem Flugzeug oder mit dem Zug gekommen sei, ganz unverfänglich gemeint. Aber der 34 Jahre alte Brite hat die Gebote des ökologischen Protestantismus schon sehr gut verinnerlicht. Gewunden erklärt er, daß er nur zwei Tage in Deutschland sein könne und daß eine Zugreise hin und zurück von London genauso lange dauern würde wie sein gesamter Aufenthalt. Irgendwann versichern wir ihm beruhigend, ein Flug alle zwei oder drei Jahre sei gewiß auch mit einem ethischen Lebensstil vereinbar.
Der "Guardian"-Journalist ist ganz offensichtlich nicht sofort wieder in alte schlechte Gewohnheiten verfallen, nachdem er sich von Mai 2003 an einem Experiment unterzogen hatte: Ein Jahr lang versuchte er, "ethisch" zu leben. Das heißt nicht, daß er aufhörte zu lügen, zu lästern, Frauen hinterherzuschauen oder was dergleichen kleine klassische Sünden mehr sind. Sondern er versuchte, bei allem, was er tat, die Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zu berücksichtigen. "Ethisch leben heißt, Verantwortung zu übernehmen. Egal, ob man sein Haus heizt, Kaffee kauft oder in ein Flugzeug steigt - immer soll man sich fragen: Ist das gut oder schlecht?" Hickman macht kein Hehl daraus, daß solche Rigidität ihm zunächst sehr anstrengend vorkam: "Es ist, als wäre man den ganzen Tag in einer Schulprüfung."
Die Lage wurde dadurch verschlimmert, daß die Prüfer ins Haus kamen, überall herumschnüffelten und Hickmans Ehefrau gleich noch mit testeten. Denn zu Beginn seines freiwilligen ökosozialen Jahres bat Hickman drei Experten um Beistand: Hannah Berry, die für das Verbrauchermagazin "Ethical Consumer" arbeitet, Mike Childs vom Umweltgruppennetzwerk "Friends of the Earth" und Renée Elliott, die Gründerin einer Londoner Bioladenkette. Doch die Gurus konnten sich nicht immer über den Weg zur Erlösung einigen, wie Hickman zunächst naiv gedacht hatte: "Sie stritten sich dauernd."
Die Schilderung, wie er sich bei den Experten im eigenen Haus beliebt machen will und seine Ehefrau mit stiller Renitenz ihr Mißfallen an diesem Inquisitionsbesuch ausdrückt, steht am Anfang des Buchs "Fast nackt" (Pendo Verlag, 16,90 Euro), das aus Hickmans im "Guardian" veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen über den Selbstversuch entstanden ist. Es ist der ziemlich britisch wirkende Versuch, mit Humor und gesundem Menschenverstand abstrakte Prinzipien auf die Probe zu stellen. Hickmans Zeitung wird in England dafür geschätzt, daß sie häufiger als andere über Umweltthemen berichtet: "Aber es ging bis dahin immer nur um den Amazonas oder das Sterben der Polarbären auf Grönland, also Probleme, die sehr weit weg sind. Wir überlegten also, wie wir die Verbindung zu unserem ganz alltäglichen Lebensstil herstellen könnten - und dann kamen wir auf die Idee mit dem Experiment." Bei aller Professionalität hätte sich Hickman wohl kaum dazu bereit erklärt, wenn er nicht schon das erlebt hätte, was er im Buch den "Zuckererbsen-Moment" nennt: Man hält im Supermarkt Gemüse aus Afrika in der Hand und fragt sich zum ersten Mal, ob es wirklich nötig ist, das Zeug um die halbe Welt zu transportieren. Obendrein wird es dafür noch in Plastik eingeschweißt, das Jahrhunderte braucht, bis es vergammelt. Hinzu kam, daß Anfang 2003 gerade seine Tochter Esme geboren worden war: "Da fangen die meisten Eltern plötzlich an, über die Welt im allgemeinen und im besonderen über die Zukunft ihrer Kinder nachzudenken."
Ein wohlfeiler Spott rechter Polit-Clowns ist ja, daß sich solche Sorgen ganz exklusiv nur die gutverdienende Mittelschicht macht, die Zeitungen wie den "Guardian" oder die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" liest. Der Arbeiter, der die Mittagspause nutzt, um in der "Sun" oder in "Bild" zu blättern, werde schon deshalb nie einen "Zuckererbsen-Moment" erleben, weil er gar nicht wisse, was Zuckererbsen sind, beckmessern solche Besserwisser dann. Hickman glaubt aber nicht, daß ein ethisch korrektes Leben teurer ist - seine Familie gibt jetzt zwar mehr für Lebensmittel aus, aber weniger für Energie. Und noch weniger für überflüssigen Schnickschnack, weil die beiden sich jede Anschaffung genauer überlegen als früher. Von vornherein hatte er nie im Sinn, die streng verbindlichen Zehn Gebote des ökologisch korrekten Lebensstils zu formulieren. Einen Komposthaufen, wie er ihn sich mit per Post bestellten Würmern im Garten seines Londoner Hauses anlegte, wird nicht jeder erstrebenswert finden. Und nicht alle würden sich durch den Verzicht auf Geschenke zu Weihnachten so "beruhigt" und befreit vom Konsumterror fühlen wie der Brite. Ganz haben er und seine Familie dem Fest übrigens nicht entsagt: Eine im Garten gepflanzte Tanne wird immerhin geschmückt.
Allerdings hat Hickman durchaus ein paar Tips parat, wie jeder in seinem Alltag relativ leicht etwas ändern könnte: "Das erste, worüber auch ich nachgedacht habe, ist Essen. Denn das tun wir dreimal am Tag. Außerdem ist es vergleichsweise einfach, sich darüber zu informieren, woher Lebensmittel kommen und was sie enthalten." Biologisch angebaute oder fair gehandelte Produkte gibt es außerdem mittlerweile fast überall. Aber wer hat schon von den "Food Miles" gehört, die Hickman immer zu bedenken rät? Gemeint sind die Kilometer, die Flugzeuge und Lastwagen zurücklegen mußten, um die Verpackung zum Produzenten und anschließend das Produkt zum Kunden zu bringen. Die wichtigste Regel lautet also: Immer möglichst Lebensmittel aus der Nähe kaufen! Andere naheliegende Felder für den Beginn einer Laufbahn als ethischer Konsument sind Transportmittel und heimische Energie. Ein Auto hatte Hickman ohnehin schon vorher nicht, weil das in London noch sinnloser ist als in den meisten deutschen Großstädten. Und an der Heizung oder am Stromverbrauch, so meint er völlig zu Recht, könne jeder drehen. Es klingt auch einleuchtend, wenn er erklärt, daß solche Entscheidungen nicht beengen, sondern zum Abbau vom Politikverdruß beitragen: "Denn der Konsument hat viel mehr Macht als der Wähler."
Einige Ratschläge seiner Experten fand selbst Hickman ein bißchen utopisch - und erst recht seine Frau: So riet ihnen Hannah Berry, ein Kind aus China zu adoptieren, anstatt noch ein zweites Baby zu bekommen. "Natürlich hat sie nicht ganz unrecht. Jedes zusätzlich gezeugte Kind ist ein weiterer Konsument, der irgendwann ein Auto und eine Waschmaschine will. Aber der Wunsch, eigenen Nachwuchs zu haben, ist nun mal eine zutiefst menschliche Angelegenheit."
Mittlerweile haben die Hickmans noch eine Tochter. Was wird er den Mädchen sagen, wenn sie irgendwann einmal fragen: "Papa, warum können wir nicht leben wie alle anderen auch?" Er weiß es noch nicht genau, aber er ist sicher, daß solche Grundsatzdebatten allen Eltern bevorstehen, wenn die Kinder in ein bestimmtes Alter kommen - nicht nur in ethisch korrekten Familien. Bisher neigen die Töchter manchmal zu größerer Strenge als die Eltern: "Unsere Dreijährige hat vorige Woche zum ersten Mal begriffen, daß Hähnchen mal lebende Hühner waren, und es hat sie sehr erschüttert. Mal sehen, ob sie später Vegetarierin wird." Hickman ist sich aber noch nicht darüber im klaren, ob solche Reflexionen wirklich das Ergebnis seiner vorbildlichen Ökoerziehung sind - oder ob es nicht einfach allen Kindern so geht: "Sie lieben Tiere, und irgendwann begreifen sie, daß sie Tiere essen."
Viele Menschen, die neuerdings in Deutschland Bioprodukte kaufen, tun das, weil sie sich davon positive Auswirkungen auf die eigene Gesundheit versprechen. Darum ging es Hickman nie: "Das wäre mir zu selbstsüchtig. Wenn der Verzicht auf Fertiggerichte gesund ist, dann wäre es nur ein Extrabonus." Aber ein willkommener. Noch hat er allerdings keinerlei derartige Auswirkungen an sich bemerkt.
Trotzdem verspürt Hickman dreieinhalb Jahre nach Beginn des Experiments keinerlei Bedürfnis, wieder in alte Gewohnheiten zu verfallen. Doch gibt es gewisse Kreisläufe, die den ethischen Lebenswandel beeinflussen. Es ist ein bißchen wie beim Landvolk in alten Zeiten, von dem man immer sagt, daß es die Natur intensiver erlebte, weil es ihr stärker ausgeliefert war: "Im Winter denke ich an die Heizung, im Sommer denke ich über Gemüseanbau nach oder daran, wie ich Regenwasser sammeln kann." Und dann benutzt er ein wirklich schönes Wort, das man auch außerhalb ökologisch-sozialer Debatten viel häufiger gebrauchen sollte: "Mein Sorgenrhythmus ist jetzt ganz anders als früher." Dazu gehört auch die zyklische Wiederkehr bestimmter Hürden: "Als unser zweites Baby kam, standen wir zum zweiten Mal vor dem Windelproblem." Eine der großen Herausforderungen des ethischen Lebensstils ist nämlich der Verzicht auf Einwegwindeln zugunsten der guten alten Stoffwindeln, die man in der Maschine wäscht - nicht jedermanns Sache.
Da fragt man sich natürlich, wie Hickmans zunächst so skeptische Frau das alles findet. In der sehr gewundenen Antwort benutzt er dreimal das Wort "Relationship" (Beziehung) mit verschiedenen Attributen, die "Belastung" ausdrücken. Es war also nicht immer ganz einfach. Aber heute, so Hickman, sei seine Frau für bestimmte Dinge begeisterter als er selbst. Gelegentlich allerdings, vor allem am Anfang, mußte die Zustimmung der Gattin auch erkauft werden. Dann war der Preis eine Prada-Handtasche. Familiäre Harmonie ist manchmal eben nicht für einen Jutebeutel zu haben.
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Der britische Journalist Leo Hickman hat ein Jahr lang versucht, "ethisch korrekt" zu leben - und ist dabei auf den Geschmack gekommen
VON MATTHIAS HEINE
Leo Hickman wirkt ein bißchen, als hätten wir ihn gerade bei einem Ladendiebstahl ertappt. Dabei war die Frage, ob er mit dem Flugzeug oder mit dem Zug gekommen sei, ganz unverfänglich gemeint. Aber der 34 Jahre alte Brite hat die Gebote des ökologischen Protestantismus schon sehr gut verinnerlicht. Gewunden erklärt er, daß er nur zwei Tage in Deutschland sein könne und daß eine Zugreise hin und zurück von London genauso lange dauern würde wie sein gesamter Aufenthalt. Irgendwann versichern wir ihm beruhigend, ein Flug alle zwei oder drei Jahre sei gewiß auch mit einem ethischen Lebensstil vereinbar.
Der "Guardian"-Journalist ist ganz offensichtlich nicht sofort wieder in alte schlechte Gewohnheiten verfallen, nachdem er sich von Mai 2003 an einem Experiment unterzogen hatte: Ein Jahr lang versuchte er, "ethisch" zu leben. Das heißt nicht, daß er aufhörte zu lügen, zu lästern, Frauen hinterherzuschauen oder was dergleichen kleine klassische Sünden mehr sind. Sondern er versuchte, bei allem, was er tat, die Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zu berücksichtigen. "Ethisch leben heißt, Verantwortung zu übernehmen. Egal, ob man sein Haus heizt, Kaffee kauft oder in ein Flugzeug steigt - immer soll man sich fragen: Ist das gut oder schlecht?" Hickman macht kein Hehl daraus, daß solche Rigidität ihm zunächst sehr anstrengend vorkam: "Es ist, als wäre man den ganzen Tag in einer Schulprüfung."
Die Lage wurde dadurch verschlimmert, daß die Prüfer ins Haus kamen, überall herumschnüffelten und Hickmans Ehefrau gleich noch mit testeten. Denn zu Beginn seines freiwilligen ökosozialen Jahres bat Hickman drei Experten um Beistand: Hannah Berry, die für das Verbrauchermagazin "Ethical Consumer" arbeitet, Mike Childs vom Umweltgruppennetzwerk "Friends of the Earth" und Renée Elliott, die Gründerin einer Londoner Bioladenkette. Doch die Gurus konnten sich nicht immer über den Weg zur Erlösung einigen, wie Hickman zunächst naiv gedacht hatte: "Sie stritten sich dauernd."
Die Schilderung, wie er sich bei den Experten im eigenen Haus beliebt machen will und seine Ehefrau mit stiller Renitenz ihr Mißfallen an diesem Inquisitionsbesuch ausdrückt, steht am Anfang des Buchs "Fast nackt" (Pendo Verlag, 16,90 Euro), das aus Hickmans im "Guardian" veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen über den Selbstversuch entstanden ist. Es ist der ziemlich britisch wirkende Versuch, mit Humor und gesundem Menschenverstand abstrakte Prinzipien auf die Probe zu stellen. Hickmans Zeitung wird in England dafür geschätzt, daß sie häufiger als andere über Umweltthemen berichtet: "Aber es ging bis dahin immer nur um den Amazonas oder das Sterben der Polarbären auf Grönland, also Probleme, die sehr weit weg sind. Wir überlegten also, wie wir die Verbindung zu unserem ganz alltäglichen Lebensstil herstellen könnten - und dann kamen wir auf die Idee mit dem Experiment." Bei aller Professionalität hätte sich Hickman wohl kaum dazu bereit erklärt, wenn er nicht schon das erlebt hätte, was er im Buch den "Zuckererbsen-Moment" nennt: Man hält im Supermarkt Gemüse aus Afrika in der Hand und fragt sich zum ersten Mal, ob es wirklich nötig ist, das Zeug um die halbe Welt zu transportieren. Obendrein wird es dafür noch in Plastik eingeschweißt, das Jahrhunderte braucht, bis es vergammelt. Hinzu kam, daß Anfang 2003 gerade seine Tochter Esme geboren worden war: "Da fangen die meisten Eltern plötzlich an, über die Welt im allgemeinen und im besonderen über die Zukunft ihrer Kinder nachzudenken."
Ein wohlfeiler Spott rechter Polit-Clowns ist ja, daß sich solche Sorgen ganz exklusiv nur die gutverdienende Mittelschicht macht, die Zeitungen wie den "Guardian" oder die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" liest. Der Arbeiter, der die Mittagspause nutzt, um in der "Sun" oder in "Bild" zu blättern, werde schon deshalb nie einen "Zuckererbsen-Moment" erleben, weil er gar nicht wisse, was Zuckererbsen sind, beckmessern solche Besserwisser dann. Hickman glaubt aber nicht, daß ein ethisch korrektes Leben teurer ist - seine Familie gibt jetzt zwar mehr für Lebensmittel aus, aber weniger für Energie. Und noch weniger für überflüssigen Schnickschnack, weil die beiden sich jede Anschaffung genauer überlegen als früher. Von vornherein hatte er nie im Sinn, die streng verbindlichen Zehn Gebote des ökologisch korrekten Lebensstils zu formulieren. Einen Komposthaufen, wie er ihn sich mit per Post bestellten Würmern im Garten seines Londoner Hauses anlegte, wird nicht jeder erstrebenswert finden. Und nicht alle würden sich durch den Verzicht auf Geschenke zu Weihnachten so "beruhigt" und befreit vom Konsumterror fühlen wie der Brite. Ganz haben er und seine Familie dem Fest übrigens nicht entsagt: Eine im Garten gepflanzte Tanne wird immerhin geschmückt.
Allerdings hat Hickman durchaus ein paar Tips parat, wie jeder in seinem Alltag relativ leicht etwas ändern könnte: "Das erste, worüber auch ich nachgedacht habe, ist Essen. Denn das tun wir dreimal am Tag. Außerdem ist es vergleichsweise einfach, sich darüber zu informieren, woher Lebensmittel kommen und was sie enthalten." Biologisch angebaute oder fair gehandelte Produkte gibt es außerdem mittlerweile fast überall. Aber wer hat schon von den "Food Miles" gehört, die Hickman immer zu bedenken rät? Gemeint sind die Kilometer, die Flugzeuge und Lastwagen zurücklegen mußten, um die Verpackung zum Produzenten und anschließend das Produkt zum Kunden zu bringen. Die wichtigste Regel lautet also: Immer möglichst Lebensmittel aus der Nähe kaufen! Andere naheliegende Felder für den Beginn einer Laufbahn als ethischer Konsument sind Transportmittel und heimische Energie. Ein Auto hatte Hickman ohnehin schon vorher nicht, weil das in London noch sinnloser ist als in den meisten deutschen Großstädten. Und an der Heizung oder am Stromverbrauch, so meint er völlig zu Recht, könne jeder drehen. Es klingt auch einleuchtend, wenn er erklärt, daß solche Entscheidungen nicht beengen, sondern zum Abbau vom Politikverdruß beitragen: "Denn der Konsument hat viel mehr Macht als der Wähler."
Einige Ratschläge seiner Experten fand selbst Hickman ein bißchen utopisch - und erst recht seine Frau: So riet ihnen Hannah Berry, ein Kind aus China zu adoptieren, anstatt noch ein zweites Baby zu bekommen. "Natürlich hat sie nicht ganz unrecht. Jedes zusätzlich gezeugte Kind ist ein weiterer Konsument, der irgendwann ein Auto und eine Waschmaschine will. Aber der Wunsch, eigenen Nachwuchs zu haben, ist nun mal eine zutiefst menschliche Angelegenheit."
Mittlerweile haben die Hickmans noch eine Tochter. Was wird er den Mädchen sagen, wenn sie irgendwann einmal fragen: "Papa, warum können wir nicht leben wie alle anderen auch?" Er weiß es noch nicht genau, aber er ist sicher, daß solche Grundsatzdebatten allen Eltern bevorstehen, wenn die Kinder in ein bestimmtes Alter kommen - nicht nur in ethisch korrekten Familien. Bisher neigen die Töchter manchmal zu größerer Strenge als die Eltern: "Unsere Dreijährige hat vorige Woche zum ersten Mal begriffen, daß Hähnchen mal lebende Hühner waren, und es hat sie sehr erschüttert. Mal sehen, ob sie später Vegetarierin wird." Hickman ist sich aber noch nicht darüber im klaren, ob solche Reflexionen wirklich das Ergebnis seiner vorbildlichen Ökoerziehung sind - oder ob es nicht einfach allen Kindern so geht: "Sie lieben Tiere, und irgendwann begreifen sie, daß sie Tiere essen."
Viele Menschen, die neuerdings in Deutschland Bioprodukte kaufen, tun das, weil sie sich davon positive Auswirkungen auf die eigene Gesundheit versprechen. Darum ging es Hickman nie: "Das wäre mir zu selbstsüchtig. Wenn der Verzicht auf Fertiggerichte gesund ist, dann wäre es nur ein Extrabonus." Aber ein willkommener. Noch hat er allerdings keinerlei derartige Auswirkungen an sich bemerkt.
Trotzdem verspürt Hickman dreieinhalb Jahre nach Beginn des Experiments keinerlei Bedürfnis, wieder in alte Gewohnheiten zu verfallen. Doch gibt es gewisse Kreisläufe, die den ethischen Lebenswandel beeinflussen. Es ist ein bißchen wie beim Landvolk in alten Zeiten, von dem man immer sagt, daß es die Natur intensiver erlebte, weil es ihr stärker ausgeliefert war: "Im Winter denke ich an die Heizung, im Sommer denke ich über Gemüseanbau nach oder daran, wie ich Regenwasser sammeln kann." Und dann benutzt er ein wirklich schönes Wort, das man auch außerhalb ökologisch-sozialer Debatten viel häufiger gebrauchen sollte: "Mein Sorgenrhythmus ist jetzt ganz anders als früher." Dazu gehört auch die zyklische Wiederkehr bestimmter Hürden: "Als unser zweites Baby kam, standen wir zum zweiten Mal vor dem Windelproblem." Eine der großen Herausforderungen des ethischen Lebensstils ist nämlich der Verzicht auf Einwegwindeln zugunsten der guten alten Stoffwindeln, die man in der Maschine wäscht - nicht jedermanns Sache.
Da fragt man sich natürlich, wie Hickmans zunächst so skeptische Frau das alles findet. In der sehr gewundenen Antwort benutzt er dreimal das Wort "Relationship" (Beziehung) mit verschiedenen Attributen, die "Belastung" ausdrücken. Es war also nicht immer ganz einfach. Aber heute, so Hickman, sei seine Frau für bestimmte Dinge begeisterter als er selbst. Gelegentlich allerdings, vor allem am Anfang, mußte die Zustimmung der Gattin auch erkauft werden. Dann war der Preis eine Prada-Handtasche. Familiäre Harmonie ist manchmal eben nicht für einen Jutebeutel zu haben.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein wenig zuviel des Guten scheint Rezensent Michael Althen dieser Selbstversuch Leo Hickmans in Sachen ethisch korrekter Lebensführung. Er sieht die gute Intention des Autors Leo Hickman, würdigt auch, dass dieser Ernst macht mit der Frage nach dem Beitrag jedes Einzelnen für eine Verbesserung unserer Welt. Aber zum einen kommt der Humor des Autors nicht wirklich beim Rezensenten an, zum anderen gefällt ihm dessen "nervtötend gutmütiger Tonfall" nicht. Er kann sich außerdem nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass dieser krampfhafte Versuch ethischer Korrektheit direkt ins Öko-Spießertum führt. Er will gleichwohl nicht verschweigen, dass das Buch für jene, die das Gefühl haben, sie müssten etwas ändern, eine Menge nützliche Tipps bereit hält. Die anderen müssten selber schauen, wie sie mit ihrem schlechten Gewissen fertig würden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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