Oft ist es nur ein kleiner Moment, der den Alltag plötzlich aus dem Gleis springen lässt. Wie bei Mio-Michi , ein Sparkassenangestellter, der eines Freitagnachmittags einfach so mit 3,2 Millionen Mark davongeht. Ursula März erzählt Geschichten von großen und kleinen Verbrechen, von kaltblütigen Betrügern und ungeschickten Mördern. Es sind ungeheuerliche Geschichten über menschliche Ausnahmesituationen, inspiriert vom wahren Leben und zugleich von großer literarischer Kraft. Einmal mehr offenbart die Autorin, wie schmal der Grat zwischen Normalität und Brutalität ist - und wie stark ein Verbrechen von absurden Zufällen abhängen kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Männer mit gepflegten Nägeln
Nachrichten aus den Abgründen von Mensch und Justiz: Mit der Kraft der Fiktion erzählt Ursula März aus dem Gerichtssaal Berlin-Moabit.
Von Rose-Maria Gropp
Zum Beispiel ist da Manfred Hitzker, ohne den Astrid Klein ihren Lebensabend nicht verbringen will, egal "was ihm noch einfällt an Blödsinn". Denn Hitzker, "zweiundsiebzig Jahre alt, ist der Quälgeist des Seniorenheims Benvita und als Anstifter des Dauertumults, in dem sich die kommunale Institution durch ihn befindet, ihre seelische Mitte". In dieser Eigenschaft schwingt er groteske Tiraden, macht obszöne Gesten, belästigt Mitbewohner oder spuckt beim Frühstück Kaffee über den Tisch. Darf man so über einen älteren Herrn schreiben, der offenbar nicht alle Tassen im Schrank hat - nein, nicht wegen einer Altersdemenz, sondern aufgrund einer schizophrenen Psychose? Man darf, wenn man es kann - und Ursula März kann es. Sie besitzt die Gabe, genau austariert zwischen hauchzarter Mokanz und leisem Abscheu - also eigentlich fast schon objektiv - über die Dinge des Lebens solcher Leute zu berichten, die gemeinhin unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle bleiben.
"Fast schon kriminell" heißt die gut sechs Seiten lange Titelgeschichte des Bands, der Bericht erstattet von den Rändern des Zwischenmenschlichen. Sie geht für Manfred Hitzker und Astrid Klein, die er nicht nur geohrfeigt, sondern schließlich vor ein Auto auf die Straße geschleudert hat, insofern gut aus, als Hitzker vom Gericht zwar schuldfähig gesprochen, aber zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird. Er und Astrid Klein können also im Seniorenheim zusammenbleiben. Die neunzehn Gerichtskolumnen, die Ursula März im Lauf einiger Jahre für die Wochenendbeilage der "Frankfurter Rundschau" schrieb, ergeben gebündelt eine Datei des alltäglichen Schreckens. Es sind keine Reportagen, sondern Erzählungen, short stories in allerfeinster Ausführung, wohl der Realität entstammend, wie die Notiz der Autorin am Ende klarstellt, aber in ihren Abläufen und Namen (bis auf eine Ausnahme) von der Kraft der Fiktion geadelt.
Jeder Leser, der kriminellen Handlungen - selbstredend nur im Sinne ihrer abstinenten Betrachtung - affin ist, wird die Storys kennen, die Ferdinand von Schirach in den vergangenen zwei Jahren in den Bänden "Verbrechen" und "Schuld" aus einer gewalttätigen Parallelwelt veröffentlicht hat. Jedoch legt Ursula März keineswegs Schirach light vor. Vielmehr reicht sie dessen Schärfe mit leichter Hand das Wasser. In mancher Hinsicht wiegen ihre Nachrichten aus den Abgründen von Mensch und Justiz sogar schwerer, weil die Fallhöhe zwischen der vordergründigen Lakonik ihres Stils und der bösen Banalität der Fälle so weit klafft.
Dabei ist durchaus ein gewisses Amüsement erlaubt, das sich auch die Autorin selbst nicht versagt. Es verhindert nicht das läuternde Erschrecken vor der verborgenen Regelhaftigkeit, mit der Menschen keineswegs nur minderprivilegierter Herkunft oder Existenz ihr Leben vor die Wand fahren. Schicksalhaftigkeit wäre ein zu hehrer Begriff, jedenfalls für die meisten Fälle, die Ursula März am Kriminalgericht Berlin-Moabit verfolgt hat.
So könnte "Schwarze Löcher" zur pechschwarzen Lieblingsstory avancieren: "Werner Liedmann, habilitierter Astrophysiker, war höchst zufrieden, wenn er sein Leben überdachte. Es hing tadellos im Universum, als perfekt funktionierendes kleines Sonnensystem." Bis Liedmann eines diesigen Sonntagmorgens von einem Auto vom Fahrrad geholt wird - fast. Die absurde Verbissenheit, mit der er daraufhin den ebenso gut situierten akademischen Scheingegner - "Das also ist sein Fastmörder" - verfolgt, wirft ein arges Schlaglicht auf die dünne Membran, die engstirnige Ordnungsliebe von Fanatismus trennt. Die Kehrseite der Medaille, nämlich heillos programmierte Zerrüttung, beschreibt "Überzählig": "Vergiftet, verzerrt, irreal war ihr Verhältnis von Anfang an. Andere Paare benötigen Jahre oder gar Jahrzehnte für das, was Karin Linde und Wolfgang Enz miteinander erlebten. Die beiden erledigten ihr Drama in fünf Wochen." Auf knapp neun Seiten entfaltet Ursula März den völligen Niedergang der Karin Linde. Sie hält dafür keine Moral feil, und entsprechend ist ihr literarisierter Prozess nicht abgeschlossen. Wenngleich sie, wie in allen ihren Geschichten, den Spruch des Richters rapportiert.
Was jede einzelne dieser Begebenheiten - die unerhört geblieben wären, hätte Ursula März sie nicht aufgeschrieben - so toll ergreifend macht: Ihre Verfasserin demonstriert keinen Funken Mitgefühl für ihre Protagonisten. Sie ist geradezu resistent dagegen, von Mitleid zu schweigen. Sie schreibt, als habe sie nie von psychologischer Deutungshoheit gehört. Gelegentlich begibt sie sich ein Stückchen weit in die Hirne ihrer Täter, nie als quasi Komplizin, sondern aus erzähltechnischer Notwendigkeit - wie in "Goldener Freitag": "An einem Freitag ging Eddi nach Geschäftsschluss einfach mit 3,2 Millionen Euro davon." Diesem Bleichling war wirklich nicht zu helfen. Manchmal folgt sie den Opfern ein kleines Stück Wegs, aber nur damit der Leser begreift, nicht vorschnell verwerfe - wie in "Richtig oder falsch": "Mustafa war der Zweitgeborene und von Anfang an Versager." Wobei nicht nur im Fall von Mustafa dahingestellt bleibt, wer Täter, wer Opfer sei und wo eine Verantwortung liege, wäre sie denn überhaupt noch abrufbar.
Ursula März gelingt in ihren Geschichten eine phänomenale Form der teilnehmenden Beobachtung: Sie, die allwissende Erzählerin, benimmt sich, als sei sie in den ganzen Stoff gar nicht involviert. Dessen Gewebe spricht selbst. Sie, die ja physisch anwesend war im Gerichtssaal, schlüpft unter die Oberfläche ihres Schreibens, das immer wieder poetisch aufleuchtet. Ist schon die Überschrift "Friedliche Finger" wundersam für die Sache mit dem hingebungsvollen Nagelhautpfleger Bojan Nemec, dann ein Satz wie dieser erst recht: "Am liebsten würde er, so wirkt es, nach vorne springen, die Hände der Richter und Schöffen ergreifen und als anschauliches Beispiel in seinen Vortrag einbeziehen." Ursula März richtet nicht, sie zeichnet in ihren Prosastücken das Elend unserer Gegenwart auf, literarisch glänzend. Einspruch, Euer Ehren? Der Richter ist das gemeine Leben.
Ursula März: "Fast schon kriminell". Geschichten aus dem Alltag.
Hanser Verlag, München 2011. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachrichten aus den Abgründen von Mensch und Justiz: Mit der Kraft der Fiktion erzählt Ursula März aus dem Gerichtssaal Berlin-Moabit.
Von Rose-Maria Gropp
Zum Beispiel ist da Manfred Hitzker, ohne den Astrid Klein ihren Lebensabend nicht verbringen will, egal "was ihm noch einfällt an Blödsinn". Denn Hitzker, "zweiundsiebzig Jahre alt, ist der Quälgeist des Seniorenheims Benvita und als Anstifter des Dauertumults, in dem sich die kommunale Institution durch ihn befindet, ihre seelische Mitte". In dieser Eigenschaft schwingt er groteske Tiraden, macht obszöne Gesten, belästigt Mitbewohner oder spuckt beim Frühstück Kaffee über den Tisch. Darf man so über einen älteren Herrn schreiben, der offenbar nicht alle Tassen im Schrank hat - nein, nicht wegen einer Altersdemenz, sondern aufgrund einer schizophrenen Psychose? Man darf, wenn man es kann - und Ursula März kann es. Sie besitzt die Gabe, genau austariert zwischen hauchzarter Mokanz und leisem Abscheu - also eigentlich fast schon objektiv - über die Dinge des Lebens solcher Leute zu berichten, die gemeinhin unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle bleiben.
"Fast schon kriminell" heißt die gut sechs Seiten lange Titelgeschichte des Bands, der Bericht erstattet von den Rändern des Zwischenmenschlichen. Sie geht für Manfred Hitzker und Astrid Klein, die er nicht nur geohrfeigt, sondern schließlich vor ein Auto auf die Straße geschleudert hat, insofern gut aus, als Hitzker vom Gericht zwar schuldfähig gesprochen, aber zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird. Er und Astrid Klein können also im Seniorenheim zusammenbleiben. Die neunzehn Gerichtskolumnen, die Ursula März im Lauf einiger Jahre für die Wochenendbeilage der "Frankfurter Rundschau" schrieb, ergeben gebündelt eine Datei des alltäglichen Schreckens. Es sind keine Reportagen, sondern Erzählungen, short stories in allerfeinster Ausführung, wohl der Realität entstammend, wie die Notiz der Autorin am Ende klarstellt, aber in ihren Abläufen und Namen (bis auf eine Ausnahme) von der Kraft der Fiktion geadelt.
Jeder Leser, der kriminellen Handlungen - selbstredend nur im Sinne ihrer abstinenten Betrachtung - affin ist, wird die Storys kennen, die Ferdinand von Schirach in den vergangenen zwei Jahren in den Bänden "Verbrechen" und "Schuld" aus einer gewalttätigen Parallelwelt veröffentlicht hat. Jedoch legt Ursula März keineswegs Schirach light vor. Vielmehr reicht sie dessen Schärfe mit leichter Hand das Wasser. In mancher Hinsicht wiegen ihre Nachrichten aus den Abgründen von Mensch und Justiz sogar schwerer, weil die Fallhöhe zwischen der vordergründigen Lakonik ihres Stils und der bösen Banalität der Fälle so weit klafft.
Dabei ist durchaus ein gewisses Amüsement erlaubt, das sich auch die Autorin selbst nicht versagt. Es verhindert nicht das läuternde Erschrecken vor der verborgenen Regelhaftigkeit, mit der Menschen keineswegs nur minderprivilegierter Herkunft oder Existenz ihr Leben vor die Wand fahren. Schicksalhaftigkeit wäre ein zu hehrer Begriff, jedenfalls für die meisten Fälle, die Ursula März am Kriminalgericht Berlin-Moabit verfolgt hat.
So könnte "Schwarze Löcher" zur pechschwarzen Lieblingsstory avancieren: "Werner Liedmann, habilitierter Astrophysiker, war höchst zufrieden, wenn er sein Leben überdachte. Es hing tadellos im Universum, als perfekt funktionierendes kleines Sonnensystem." Bis Liedmann eines diesigen Sonntagmorgens von einem Auto vom Fahrrad geholt wird - fast. Die absurde Verbissenheit, mit der er daraufhin den ebenso gut situierten akademischen Scheingegner - "Das also ist sein Fastmörder" - verfolgt, wirft ein arges Schlaglicht auf die dünne Membran, die engstirnige Ordnungsliebe von Fanatismus trennt. Die Kehrseite der Medaille, nämlich heillos programmierte Zerrüttung, beschreibt "Überzählig": "Vergiftet, verzerrt, irreal war ihr Verhältnis von Anfang an. Andere Paare benötigen Jahre oder gar Jahrzehnte für das, was Karin Linde und Wolfgang Enz miteinander erlebten. Die beiden erledigten ihr Drama in fünf Wochen." Auf knapp neun Seiten entfaltet Ursula März den völligen Niedergang der Karin Linde. Sie hält dafür keine Moral feil, und entsprechend ist ihr literarisierter Prozess nicht abgeschlossen. Wenngleich sie, wie in allen ihren Geschichten, den Spruch des Richters rapportiert.
Was jede einzelne dieser Begebenheiten - die unerhört geblieben wären, hätte Ursula März sie nicht aufgeschrieben - so toll ergreifend macht: Ihre Verfasserin demonstriert keinen Funken Mitgefühl für ihre Protagonisten. Sie ist geradezu resistent dagegen, von Mitleid zu schweigen. Sie schreibt, als habe sie nie von psychologischer Deutungshoheit gehört. Gelegentlich begibt sie sich ein Stückchen weit in die Hirne ihrer Täter, nie als quasi Komplizin, sondern aus erzähltechnischer Notwendigkeit - wie in "Goldener Freitag": "An einem Freitag ging Eddi nach Geschäftsschluss einfach mit 3,2 Millionen Euro davon." Diesem Bleichling war wirklich nicht zu helfen. Manchmal folgt sie den Opfern ein kleines Stück Wegs, aber nur damit der Leser begreift, nicht vorschnell verwerfe - wie in "Richtig oder falsch": "Mustafa war der Zweitgeborene und von Anfang an Versager." Wobei nicht nur im Fall von Mustafa dahingestellt bleibt, wer Täter, wer Opfer sei und wo eine Verantwortung liege, wäre sie denn überhaupt noch abrufbar.
Ursula März gelingt in ihren Geschichten eine phänomenale Form der teilnehmenden Beobachtung: Sie, die allwissende Erzählerin, benimmt sich, als sei sie in den ganzen Stoff gar nicht involviert. Dessen Gewebe spricht selbst. Sie, die ja physisch anwesend war im Gerichtssaal, schlüpft unter die Oberfläche ihres Schreibens, das immer wieder poetisch aufleuchtet. Ist schon die Überschrift "Friedliche Finger" wundersam für die Sache mit dem hingebungsvollen Nagelhautpfleger Bojan Nemec, dann ein Satz wie dieser erst recht: "Am liebsten würde er, so wirkt es, nach vorne springen, die Hände der Richter und Schöffen ergreifen und als anschauliches Beispiel in seinen Vortrag einbeziehen." Ursula März richtet nicht, sie zeichnet in ihren Prosastücken das Elend unserer Gegenwart auf, literarisch glänzend. Einspruch, Euer Ehren? Der Richter ist das gemeine Leben.
Ursula März: "Fast schon kriminell". Geschichten aus dem Alltag.
Hanser Verlag, München 2011. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2011Gemeinsames Ungeschick
In ihren „Geschichten aus dem Alltag“ erzählt die
Journalistin Ursula März von Pointen, die das Leben schreibt
Sie heißen Bernd Mühlhorn, Bärbel Hefter, Edgar Dietz, Astrid Klein, und ihre Lebensläufe schnurren in den Geschichten von Ursula März auf ein paar prägnante Ereignisse zusammen, die sie punktgenau vor Gericht landen lassen. Das Urteil erfahren wir noch, Freispruch, Bewährung, lebenslänglich, dann werden sie aus der freundlichen Fürsorge der Erzählerin entlassen. Fortan müssen sie ihr Leben wieder alleine bestehen. Die neunzehn Porträts und manchmal auch Doppelbildnisse von Menschen, die man unbedacht wohl als verkrachte Existenzen bezeichnen würde, bestechen durch eine eigentümliche Mischung aus Staunen und behänder Pragmatik.
Was sich die Leute so einfallen lassen, um durchs Leben zu kommen, fasziniert die Literaturkritikerin Ursula März, die lange Jahre Prozesse im Landgericht Berlin in Moabit beobachtet hat und Gerichtskolumnen für die Frankfurter Rundschau schrieb. Die Erzählungen, die sie aus ihren Beobachtungen geformt hat, sind eigenständige Geschichten. Sie folgen dem Muster einer erkennungsdienstlichen Behandlung besonderer Art: Ihr genauer Blick macht Menschen erkennbar, die man sonst leicht übersieht. Ein paar Seiten lang werden wir aufs engste in ihre Existenz verwickelt, in kleine Schliche und Überlebenstricks, Betrügereien größeren Maßstabs, Totschlag, Mord. Jedes Mal sind wir am Ende froh, wenn wir aus dem ganzen Kuddelmuddel wieder entlassen werden, und doch bleibt eine merkwürdige Form der Sympathie zurück.
Vier Jahre lang saßen Holger Dreh und Frank Hieber zusammen in einer Gefängniszelle. Sie machten das Beste daraus, sorgten und kümmerten sich umeinander, teilten Geld und Zigaretten, massierten einander. Da beide irgendwann annahmen, der jeweils andere sei schwul, wurden sie „eher zufällig, auch ein Liebespaar, das sich selbst im erotischen Missverständnis noch spiegelte“. Der smarte Frank Hieber wird zuerst entlassen und besorgt die Zweizimmerwohnung, in der dann jenes Delikt geschieht, das Holger Dreh erneut vor Gericht bringt. Nach einem Streit unter Alkoholeinfluss sticht Dreh den Freund nieder und ruft sofort den Notarzt. Vor Gericht entlastet Hieber den Gefährten. Es kommt zum Freispruch. Gemeinsam ziehen sie von dannen, einig darin, „dass die Tat keine Tat, sondern die fatale Folge eines gemeinsamen Ungeschicks war“.
Auch die Kohlhaas-Geschichte des Astrophysikers Werner Liedmann erzählt von einer Spiegelung, allerdings ganz anderer Art. Liedmann wird eines Morgens auf seinem Fahrrad von einem roten Audi geschnitten. Der Schreck, tot sein zu können, fährt ihm so heftig in die Glieder, dass er all sein Sinnen und Trachten darauf richtet, den Fahrer zu finden und vor Gericht zu bringen. Dort steht dann nicht der erwartete Prolet, sondern ein „sozialer Doppelgänger“, der ihn zu parodieren scheint. Das Verfahren wird wegen Geringfügigkeit eingestellt. Es ist eine der wenigen Geschichten, die uns ohne Mitgefühl zurücklässt. Ganz anders als die über Bärbel Hefter, die versucht, ihren gewalttätigen Mann umzubringen. Doch die Drogen, die sie ihm auf Rat ihrer Kinder verabreicht, stellen sich als Kopfschmerztabletten heraus. Der Mord misslingt, das Vorhaben verläuft im Sande, zufällig aber wird die Dealerin geschnappt und beruft sich auf Bärbel Hefter als Entlastungszeugin.
Ursula März erzählt diesen absurden Kriminalfall, der mit einer Bewährungsstrafe endet, auf eine schöne Pointe hin. Die Verurteilte hielt sich für dumm. „Ich bin kein großes Licht“, sagte sie bei jeder Gelegenheit, das Urteil ihrer Umgebung vorwegnehmend. Zum ersten Mal in ihrem Leben beschäftigt sich im Prozess jemand ernsthaft mit ihr, und so kommt durch das psychiatrische Gutachten heraus, dass sie hochbegabt ist. Mit dieser Erkenntnis wird sie aus dem Gerichtssaal entlassen, und auch der Leser verliert sie aus dem Blick.
Bis auf die Geschichte von Günter Parche, der aus Verehrung für Steffi Graf ihre Konkurrentin Monica Seles mit einem Messer verletzte, hat Ursula März sämtliche Namen geändert. Dass sie den Stoff aus dem wirklichen Leben nahm, merkt man ihren Geschichten an, aber auch dass Beobachtungsfreude und Deutungslust bei ihr Hand in Hand gehen. Wie man sich das Leben mit Tricks erträglicher macht, dafür hegt sie große Sympathie. Ihre Sprache hat etwas Handfestes, ist bis in die Vergleiche hinein patent. Manche Geschichten atmen den Geist der 1950er und 60er, etwa wenn eine Chefsekretärin als „flott“ beschrieben wird. Den Leser stört das wenig, wird er doch mit dem Gefühl entschädigt, dass selbst das größte Durcheinander jederzeit wieder in Ordnung kommen kann.
MEIKE FESSMANN
URSULA MÄRZ: Fast schon kriminell. Geschichten aus dem Alltag. Hanser Verlag, München 2011. 192 S., 17,90 Euro.
Ursula März
Foto: Peter Peitsch/peitschphoto.com
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
In ihren „Geschichten aus dem Alltag“ erzählt die
Journalistin Ursula März von Pointen, die das Leben schreibt
Sie heißen Bernd Mühlhorn, Bärbel Hefter, Edgar Dietz, Astrid Klein, und ihre Lebensläufe schnurren in den Geschichten von Ursula März auf ein paar prägnante Ereignisse zusammen, die sie punktgenau vor Gericht landen lassen. Das Urteil erfahren wir noch, Freispruch, Bewährung, lebenslänglich, dann werden sie aus der freundlichen Fürsorge der Erzählerin entlassen. Fortan müssen sie ihr Leben wieder alleine bestehen. Die neunzehn Porträts und manchmal auch Doppelbildnisse von Menschen, die man unbedacht wohl als verkrachte Existenzen bezeichnen würde, bestechen durch eine eigentümliche Mischung aus Staunen und behänder Pragmatik.
Was sich die Leute so einfallen lassen, um durchs Leben zu kommen, fasziniert die Literaturkritikerin Ursula März, die lange Jahre Prozesse im Landgericht Berlin in Moabit beobachtet hat und Gerichtskolumnen für die Frankfurter Rundschau schrieb. Die Erzählungen, die sie aus ihren Beobachtungen geformt hat, sind eigenständige Geschichten. Sie folgen dem Muster einer erkennungsdienstlichen Behandlung besonderer Art: Ihr genauer Blick macht Menschen erkennbar, die man sonst leicht übersieht. Ein paar Seiten lang werden wir aufs engste in ihre Existenz verwickelt, in kleine Schliche und Überlebenstricks, Betrügereien größeren Maßstabs, Totschlag, Mord. Jedes Mal sind wir am Ende froh, wenn wir aus dem ganzen Kuddelmuddel wieder entlassen werden, und doch bleibt eine merkwürdige Form der Sympathie zurück.
Vier Jahre lang saßen Holger Dreh und Frank Hieber zusammen in einer Gefängniszelle. Sie machten das Beste daraus, sorgten und kümmerten sich umeinander, teilten Geld und Zigaretten, massierten einander. Da beide irgendwann annahmen, der jeweils andere sei schwul, wurden sie „eher zufällig, auch ein Liebespaar, das sich selbst im erotischen Missverständnis noch spiegelte“. Der smarte Frank Hieber wird zuerst entlassen und besorgt die Zweizimmerwohnung, in der dann jenes Delikt geschieht, das Holger Dreh erneut vor Gericht bringt. Nach einem Streit unter Alkoholeinfluss sticht Dreh den Freund nieder und ruft sofort den Notarzt. Vor Gericht entlastet Hieber den Gefährten. Es kommt zum Freispruch. Gemeinsam ziehen sie von dannen, einig darin, „dass die Tat keine Tat, sondern die fatale Folge eines gemeinsamen Ungeschicks war“.
Auch die Kohlhaas-Geschichte des Astrophysikers Werner Liedmann erzählt von einer Spiegelung, allerdings ganz anderer Art. Liedmann wird eines Morgens auf seinem Fahrrad von einem roten Audi geschnitten. Der Schreck, tot sein zu können, fährt ihm so heftig in die Glieder, dass er all sein Sinnen und Trachten darauf richtet, den Fahrer zu finden und vor Gericht zu bringen. Dort steht dann nicht der erwartete Prolet, sondern ein „sozialer Doppelgänger“, der ihn zu parodieren scheint. Das Verfahren wird wegen Geringfügigkeit eingestellt. Es ist eine der wenigen Geschichten, die uns ohne Mitgefühl zurücklässt. Ganz anders als die über Bärbel Hefter, die versucht, ihren gewalttätigen Mann umzubringen. Doch die Drogen, die sie ihm auf Rat ihrer Kinder verabreicht, stellen sich als Kopfschmerztabletten heraus. Der Mord misslingt, das Vorhaben verläuft im Sande, zufällig aber wird die Dealerin geschnappt und beruft sich auf Bärbel Hefter als Entlastungszeugin.
Ursula März erzählt diesen absurden Kriminalfall, der mit einer Bewährungsstrafe endet, auf eine schöne Pointe hin. Die Verurteilte hielt sich für dumm. „Ich bin kein großes Licht“, sagte sie bei jeder Gelegenheit, das Urteil ihrer Umgebung vorwegnehmend. Zum ersten Mal in ihrem Leben beschäftigt sich im Prozess jemand ernsthaft mit ihr, und so kommt durch das psychiatrische Gutachten heraus, dass sie hochbegabt ist. Mit dieser Erkenntnis wird sie aus dem Gerichtssaal entlassen, und auch der Leser verliert sie aus dem Blick.
Bis auf die Geschichte von Günter Parche, der aus Verehrung für Steffi Graf ihre Konkurrentin Monica Seles mit einem Messer verletzte, hat Ursula März sämtliche Namen geändert. Dass sie den Stoff aus dem wirklichen Leben nahm, merkt man ihren Geschichten an, aber auch dass Beobachtungsfreude und Deutungslust bei ihr Hand in Hand gehen. Wie man sich das Leben mit Tricks erträglicher macht, dafür hegt sie große Sympathie. Ihre Sprache hat etwas Handfestes, ist bis in die Vergleiche hinein patent. Manche Geschichten atmen den Geist der 1950er und 60er, etwa wenn eine Chefsekretärin als „flott“ beschrieben wird. Den Leser stört das wenig, wird er doch mit dem Gefühl entschädigt, dass selbst das größte Durcheinander jederzeit wieder in Ordnung kommen kann.
MEIKE FESSMANN
URSULA MÄRZ: Fast schon kriminell. Geschichten aus dem Alltag. Hanser Verlag, München 2011. 192 S., 17,90 Euro.
Ursula März
Foto: Peter Peitsch/peitschphoto.com
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Glücklicherweise hat die Literaturkritikerin und Gerichtsreporterin Ursula März diese Schicksale von Menschen, deren Leben aus den Fugen geraten ist und die sich vor Gericht verantworten müssen, aufgeschrieben, meint Rezensentin Meike Fessmann. Denn in "Fast schon kriminell" liest sie neunzehn erstaunliche Porträts von Menschen, die sonst leicht übersehen worden wären. Etwa die Episode aus dem Leben von Bärbel Hefter, die sich zeitlebens für dumm hielt und nach einem gescheiterten Mordversuch an ihrem gewalttätigen Ehemann im Gerichtssaal erfährt, dass sie hochbegabt ist. Diese mit präziser Beobachtungsgabe erzählten Alltagsgeschichten haben der Kritiker durchweg gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Neunzehn Geschichten von Menschen mit dem Rücken zur Welt - knappe, elegante Prosa." Wolfgang Herles, Das Blaue Sofa (ZDF), 16.09.11
"Bemerkenswert feinfühlige und mitunter sehr humorvolle Porträts" Irene Binal, Ex libris (ORF), 04.09.11
"Die seltsamen Kriminalgeschichten der Ursula März ballen das Unvorhergesehene. Schicksalsschläge pulverisieren von einer Minute auf die andere das bisher Geregelte und Gegliederte, das Eingehegte und Verehrte." Christian Thomas, Frankfurter Rundschau
"Selten wurde das Heute mit so wenigen Sätzen so zielsicher getroffen." Britta Heidemann, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 23.09.11
"Es sind kleine Perlen der Vielseitigkeit menschlichen Verhaltens, die gänzlich unverständlich blieben, würde März sie nicht narrativ umkleiden." Katharina Granzin, TAZ, 12.11.2011
"Großartig." Martin Ebel, Tages-Anzeiger Zürich, 10.12.11
"Bemerkenswert feinfühlige und mitunter sehr humorvolle Porträts" Irene Binal, Ex libris (ORF), 04.09.11
"Die seltsamen Kriminalgeschichten der Ursula März ballen das Unvorhergesehene. Schicksalsschläge pulverisieren von einer Minute auf die andere das bisher Geregelte und Gegliederte, das Eingehegte und Verehrte." Christian Thomas, Frankfurter Rundschau
"Selten wurde das Heute mit so wenigen Sätzen so zielsicher getroffen." Britta Heidemann, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 23.09.11
"Es sind kleine Perlen der Vielseitigkeit menschlichen Verhaltens, die gänzlich unverständlich blieben, würde März sie nicht narrativ umkleiden." Katharina Granzin, TAZ, 12.11.2011
"Großartig." Martin Ebel, Tages-Anzeiger Zürich, 10.12.11