Klettern und Extrembergsteigen liegen gegenwärtig im Phänomen der Moderne. Trend. Bergwandern ist seit langem ein Breitensport.Weltweit sind Millionen von Menschen in alpinen Vereinen unterschiedlichster Art organisiert. Doch was bewegt den Mensch zum Bergsteigen? Und worin unterscheidet sich der Bergsteiger vom Wanderer? Trotz einer fast unüberschaubaren Fülle an Publikationen fehlt bislang eine umfassende Dar-stellung, die als historischer Überblick systematisch Antworten auf diese Fragen bietet. Dem Historiker Peter Grupp ist es nun gelungen, die vielschichtigen Aspekte des Phänomens Alpinismus aufzudecken und zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammenzufügen. Er verfolgt zunächst die Entstehung des Alpinismus und dessen wichtigsten Entwicklungsstu-fen weltweit von den Anfängen bis zur Gegenwart. Anschließend beleuchtet er alle Facet-ten des Alpinismus von den Spielarten des Bergsteigens und seine Techniken über die un-terschiedlichen Bergsteigertypen, ihre soziale Verortungund ihre Motive bis hin zur Organisation des Bergsteigens mit Vereinswesen, Ausrüstung, Hütten- und Wegebau. Eben-falls in den Blick genommen werden die Rolle von Wissenschaft und Sport, aber auch von Kommerz und Medien sowie die Verflechtungen des Bergsteigens mit Gesellschaft, Wirt-schaft und Politik. Mit einem Überblick über die Spiegelungen des Bergsteigens in Literatur, Kunst und Film und einem Ausblick auf seine mögliche Zukunft endet der informative Band.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2008Es geschah lediglich aus Verlangen, dass ich mich dem Berg ergab
Wer Weite in sein kleinlich besorgtes Leben bringen möchte, sollte sich einmal am Berg versuchen. Zwei Kulturgeschichten des Alpinismus beschwören den metaphysischen Thrill der Gipfelerfahrung.
Sie sind Ehrfurcht einflößend, je nach Ansicht erhebend oder erdrückend. Berge sind Teil unserer kulturellen Tradition, dienen seit Jahrhunderten als Ort für geistige Erfahrungen und als Herausforderung für Wagemut und Leistungsfähigkeit. "Es haben ja nur halb gelebt", heißt es in einem Bergsteigerlied, "die nie da droben standen." Wandern und Bergsteigen sind längst zu einer Massenbewegung geworden. Klettern liegt im Trend. Dennoch ist diese Begegnung mit der Natur auch für säkularisierte Sportler noch immer eine metaphysische Grenzerfahrung, die die Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten ermöglicht und selbst in der Gruppe etwas Intimes behält.
Der Ethnologe Martin Scharfe konzentriert sich in seinem Buch "Berg-Sucht" auf die Zeit von 1750 bis 1850, in der er mit der bürgerlichen Erfindung des organisierten Bergsteigens die wichtigste Etappe des Fortschrittsprozesses sieht. Auch für den Historiker Peter Grupp ist dies der Zeitraum, in dem sich aus dem exzentrischen Vergnügen einer kleinen Schar eine veritable Massenbewegung entwickelte, die dann in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr "goldenes Zeitalter" fand. In seinem deutlich breiter angelegten Buch "Faszination Berg" verfolgt er das ehrgeizige Ansinnen, alle Entwicklungsstufen des Bergsteigens zu berücksichtigen. Das Bemühen um Vollständigkeit geht dabei leider manchmal zu Lasten der Tiefe.
Grupp macht deutlich, dass es überall auf der Welt Vorformen des Bergsteigens - besser: des Bergebesteigens - gegeben hat und der Mensch zu allen Zeiten die Fähigkeit besaß, Gipfel und Felsen zu erklimmen. Im Mittelalter wurden auf steilsten Felszinnen Burgen errichtet, auch die Jagd und kriegerische Aktivitäten führten den Menschen in hohe Gefilde. Dennoch hat dies nichts mit dem Bergsteigen zu tun, wie wir es heute unter dem Namen Alpinismus kennen. Nach Grupp beinhalte dieser in seiner idealtypischer Gestalt unabdingbar sportlichen Antrieb und "Zweckfreiheit". Mit dieser restriktiven Definition des Bergsteigens, die eben nicht jede Beschäftigung des Menschen mit dem Berg umfasst, setzt sich Grupp bewusst von der universalistischen Formulierung des Deutschen Alpenvereins ab. Die Sinn- und Erholungssuche zivilisationsmüder Städter oder das Leben der Bergbauern interessieren ihn nicht.
Bergbesteigungen zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit sind mit den Namen Dante, Leonardo Da Vinci oder Marco Polo verbunden. Da Vinci ging nicht nur als Künstler, sondern auch als Wissenschaftler ins Gebirge, Polo stand im Jahr 1293 als erster neugieriger Tourist auf dem Adams Peak auf Ceylon. Doch der wichtigste Gipfelprotagonist dieser Zeit ist sowohl für Scharfe als auch für Grupp Francesco Petrarca, "Vater der Bergsteiger". Am 26. April 1336 erreichte Petrarca "lediglich aus Verlangen" zusammen mit seinem Bruder und zwei weiteren Begleitern den Gipfel des Mont Ventoux, des "windigen Berges". Der Berggang verheißt ihm Bewusstseinserweiterung, die er in einem Brief, der Gründungsurkunde des Alpinismus, genau dokumentiert.
Schwindel und Sturzangst waren von den neugierigen Städtern erst einmal zu bewältigen. Die zwei Autoren spüren den emotionalen Begleiterscheinungen der frühen Hochgebirgserfahrungen nach. Akribische Selbstbeobachtung und manisches Dokumentieren verdeckten laut Scharfe die Angst, die im Haushalt der Seele durch die um 1780 auflodernde "Berg-Sucht" entstanden war. Die intensive wissenschaftliche Tätigkeit diente dazu, die Gefühle zu kontrollieren. Die Bergsteiger hätten, sobald sie oben waren, nur gemessen, beobachtet, notiert.
Es ist das Verdienst beider Verfasser, die historische Alpinliteratur akribisch studiert und charakteristische Motive, Verhaltensmuster und Denkweisen kenntnisreich herausgearbeitet zu haben. Beide vermeiden es dabei dankenswerterweise, die bisher in der Berggeschichtsschreibung dominierenden Topoi von Triumph und Niederlage, Bergheroen und Intrigen am Berg zu wiederholen. Beide betrachten die Alpingeschichte als Teil der Zivilisations-, Fortschritts- und Religionsgeschichte.
Trägt das Bergsteigen bei Grupp religiöse Züge, so sind es bei Scharfe die Religion in Besitz nehmende Züge. Mit dem Blick von oben, so Scharfe, nahm der Mensch eine Perspektive ein, die früher nur Gott vorbehalten war. Mit dem Gipfelkreuz - eines der ersten wurde im Jahr 1800 auf dem Großglockner errichtet - dokumentiere der Bergsteiger seinen Triumph über das Universum und ganz nebenbei über all jene Mitmenschen, denen, aus welchen Gründen auch immer, ein Leben in den Niederungen genügt. Das Gipfelkreuz stellte somit keineswegs ein Zeichen tiefen Glaubens dar, sondern - so die provokante These - ein Dokument tendenziellen Gottesverlustes. Laut Scharfe bedurfte es erst einer gewisse Lösung von einer traditionellen Religiosität, die sowohl das Jüngste Gericht als auch die Heiligen "oben" verortetet, damit die Menschen sich überhaupt hinaufwagten. Das Gipfelkreuz wurde von Anfang an sehr pragmatisch benutzt: Als Gestell für wissenschaftliche Geräte wie Barometer, Thermometer, Windmessgerät. Scharfes Theorie vom weltlichen Gipfelkreuz mag zwar für Mitteleuropa nachvollziehbar sein. In Südeuropa, muss man ihm entgegnen, sind Gipfelkreuze jedoch nach wie vor aktiv genutzte Pilgerstätten und Orte des Gebets; in Osteuropa, wo die Sowjets lange das Errichten der Kreuze untersagten, sogar Ausdruck einer neuen Glaubensbewegung. Die Geschichte des Alpinismus kann, da muss man Scharfe recht geben, nicht unabhängig von der Geschichte des Christentums geschrieben werden. Diesem Satz würde wohl auch Grupp uneingeschränkt zustimmen. Er richtet den Blick jedoch auf die Anfänge religiösen Denkens, das in allen Regionen der Welt heilige Berge hervorruft und Anhänger vieler Glaubensrichtungen - bis heute - die Nähe Gottes auf den Gipfeln suchen lässt.
Beider Autoren Interesse gilt auch den technischen Details der kulturhistorischen "Erfindung" Alpinismus: der Organisation, der Ausrüstung der frühen Bergreisen. Der Bergsport von damals ist so weit vom heutigen Alpinismus entfernt, wie das Hochrad von der "Tour de France". Er entwickelte sich, so Scharfe, aus der bergbäuerlichen Technik des Heuholens oder Holzholens. Die Entwicklung der alpinistischen Hilfsmittel ist indes untrennbar mit den Erfolgen verbunden: Es ist kein Zufall, dass in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die "letzten Probleme der Alpen", die Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses, Matterhorn und der Großen Zinne gelöst wurden. Auch die Einstellung zur Natur sowie die ethische Haltung wandeln sich mit der technischen Entwicklung. Die Besteigungen arteten in Materialschlachten aus. Von bis zu 250 Sherpas wurden Tonnen an Material, Hunderte Sauerstoffflaschen und allerfeinste Lebensmittel auf die Himalaja-Expeditionen geschleppt. Die Routen auf den Gipfel sicherten kilometerlange Fixseile und lange Leitern. In den Alpen bezwang man mittels des "technischen Kletterns" ungangbare Routen. Die Aufrüstung am Berg war nicht mehr aufzuhalten.
Darauf, dass die Berge entgegen dem beliebten Topos nicht ewig sind, verweisen beide Bücher. Die Gletscher gehen dramatisch zurück, Felsausbrüche werden immer häufiger. Naturschutz wird darum auch im Alpinismus immer wichtiger. Der Ausbau von Hütten, Wegen und Bauprojekten wie die Zugspitzbahn, die einen Reisebüro-Tourismus im Hochgebirge ermöglichen, stieß von Anfang an auf großen Widerstand der Bergsteiger. Neue Entwicklungen führten weg vom Material, zurück zum Freiklettern - doch auch das geschah gegen große Vorbehalte der Traditionalisten. Das Zeitalter der sogenannten "Direttissimas", wo mit einem Akkubohrer unzählige Bohrhaken gesetzt und Strickleitern gehängt wurden, endete, so zeigt Grupp, in den sechziger Jahren in einer Sackgasse. Es war einfach keine technische Steigerung mehr möglich.
Es bedarf für den Bergsport heute nicht einmal mehr Gipfel. Das sogenannte Bouldering ist eine Kletterdisziplin, die sich mit kleinen Felsblöcken zufriedengibt, an denen man sich mit wenigen - allerdings technisch äußerst schwierigen - Zügen hinaufhangelt. Vielleicht spiegeln sich hier die Atemlosigkeit der westlichen Länder auch innerhalb der Bergsteigerwelt wider; ist der Zulauf zum Bouldern dem heutigen Zeitmangel geschuldet.
Die Frage, warum der Berg mit seinem Ruf den einen erreicht, den anderen aber nicht, können selbst diese beiden hervorragenden Bücher glücklicherweise nicht klären.
ANNIKA MÜLLER
Peter Grupp: "Faszination Berg". Die Geschichte des Alpinismus. Böhlau Verlag, Köln 2008. 391 S., geb., 29,90 [Euro].
Martin Scharfe: "Berg-Sucht". Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850. Böhlau Verlag, Wien 2007. 382 S., 60 Abb., geb., 49,- [Euro].
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Wer Weite in sein kleinlich besorgtes Leben bringen möchte, sollte sich einmal am Berg versuchen. Zwei Kulturgeschichten des Alpinismus beschwören den metaphysischen Thrill der Gipfelerfahrung.
Sie sind Ehrfurcht einflößend, je nach Ansicht erhebend oder erdrückend. Berge sind Teil unserer kulturellen Tradition, dienen seit Jahrhunderten als Ort für geistige Erfahrungen und als Herausforderung für Wagemut und Leistungsfähigkeit. "Es haben ja nur halb gelebt", heißt es in einem Bergsteigerlied, "die nie da droben standen." Wandern und Bergsteigen sind längst zu einer Massenbewegung geworden. Klettern liegt im Trend. Dennoch ist diese Begegnung mit der Natur auch für säkularisierte Sportler noch immer eine metaphysische Grenzerfahrung, die die Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten ermöglicht und selbst in der Gruppe etwas Intimes behält.
Der Ethnologe Martin Scharfe konzentriert sich in seinem Buch "Berg-Sucht" auf die Zeit von 1750 bis 1850, in der er mit der bürgerlichen Erfindung des organisierten Bergsteigens die wichtigste Etappe des Fortschrittsprozesses sieht. Auch für den Historiker Peter Grupp ist dies der Zeitraum, in dem sich aus dem exzentrischen Vergnügen einer kleinen Schar eine veritable Massenbewegung entwickelte, die dann in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr "goldenes Zeitalter" fand. In seinem deutlich breiter angelegten Buch "Faszination Berg" verfolgt er das ehrgeizige Ansinnen, alle Entwicklungsstufen des Bergsteigens zu berücksichtigen. Das Bemühen um Vollständigkeit geht dabei leider manchmal zu Lasten der Tiefe.
Grupp macht deutlich, dass es überall auf der Welt Vorformen des Bergsteigens - besser: des Bergebesteigens - gegeben hat und der Mensch zu allen Zeiten die Fähigkeit besaß, Gipfel und Felsen zu erklimmen. Im Mittelalter wurden auf steilsten Felszinnen Burgen errichtet, auch die Jagd und kriegerische Aktivitäten führten den Menschen in hohe Gefilde. Dennoch hat dies nichts mit dem Bergsteigen zu tun, wie wir es heute unter dem Namen Alpinismus kennen. Nach Grupp beinhalte dieser in seiner idealtypischer Gestalt unabdingbar sportlichen Antrieb und "Zweckfreiheit". Mit dieser restriktiven Definition des Bergsteigens, die eben nicht jede Beschäftigung des Menschen mit dem Berg umfasst, setzt sich Grupp bewusst von der universalistischen Formulierung des Deutschen Alpenvereins ab. Die Sinn- und Erholungssuche zivilisationsmüder Städter oder das Leben der Bergbauern interessieren ihn nicht.
Bergbesteigungen zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit sind mit den Namen Dante, Leonardo Da Vinci oder Marco Polo verbunden. Da Vinci ging nicht nur als Künstler, sondern auch als Wissenschaftler ins Gebirge, Polo stand im Jahr 1293 als erster neugieriger Tourist auf dem Adams Peak auf Ceylon. Doch der wichtigste Gipfelprotagonist dieser Zeit ist sowohl für Scharfe als auch für Grupp Francesco Petrarca, "Vater der Bergsteiger". Am 26. April 1336 erreichte Petrarca "lediglich aus Verlangen" zusammen mit seinem Bruder und zwei weiteren Begleitern den Gipfel des Mont Ventoux, des "windigen Berges". Der Berggang verheißt ihm Bewusstseinserweiterung, die er in einem Brief, der Gründungsurkunde des Alpinismus, genau dokumentiert.
Schwindel und Sturzangst waren von den neugierigen Städtern erst einmal zu bewältigen. Die zwei Autoren spüren den emotionalen Begleiterscheinungen der frühen Hochgebirgserfahrungen nach. Akribische Selbstbeobachtung und manisches Dokumentieren verdeckten laut Scharfe die Angst, die im Haushalt der Seele durch die um 1780 auflodernde "Berg-Sucht" entstanden war. Die intensive wissenschaftliche Tätigkeit diente dazu, die Gefühle zu kontrollieren. Die Bergsteiger hätten, sobald sie oben waren, nur gemessen, beobachtet, notiert.
Es ist das Verdienst beider Verfasser, die historische Alpinliteratur akribisch studiert und charakteristische Motive, Verhaltensmuster und Denkweisen kenntnisreich herausgearbeitet zu haben. Beide vermeiden es dabei dankenswerterweise, die bisher in der Berggeschichtsschreibung dominierenden Topoi von Triumph und Niederlage, Bergheroen und Intrigen am Berg zu wiederholen. Beide betrachten die Alpingeschichte als Teil der Zivilisations-, Fortschritts- und Religionsgeschichte.
Trägt das Bergsteigen bei Grupp religiöse Züge, so sind es bei Scharfe die Religion in Besitz nehmende Züge. Mit dem Blick von oben, so Scharfe, nahm der Mensch eine Perspektive ein, die früher nur Gott vorbehalten war. Mit dem Gipfelkreuz - eines der ersten wurde im Jahr 1800 auf dem Großglockner errichtet - dokumentiere der Bergsteiger seinen Triumph über das Universum und ganz nebenbei über all jene Mitmenschen, denen, aus welchen Gründen auch immer, ein Leben in den Niederungen genügt. Das Gipfelkreuz stellte somit keineswegs ein Zeichen tiefen Glaubens dar, sondern - so die provokante These - ein Dokument tendenziellen Gottesverlustes. Laut Scharfe bedurfte es erst einer gewisse Lösung von einer traditionellen Religiosität, die sowohl das Jüngste Gericht als auch die Heiligen "oben" verortetet, damit die Menschen sich überhaupt hinaufwagten. Das Gipfelkreuz wurde von Anfang an sehr pragmatisch benutzt: Als Gestell für wissenschaftliche Geräte wie Barometer, Thermometer, Windmessgerät. Scharfes Theorie vom weltlichen Gipfelkreuz mag zwar für Mitteleuropa nachvollziehbar sein. In Südeuropa, muss man ihm entgegnen, sind Gipfelkreuze jedoch nach wie vor aktiv genutzte Pilgerstätten und Orte des Gebets; in Osteuropa, wo die Sowjets lange das Errichten der Kreuze untersagten, sogar Ausdruck einer neuen Glaubensbewegung. Die Geschichte des Alpinismus kann, da muss man Scharfe recht geben, nicht unabhängig von der Geschichte des Christentums geschrieben werden. Diesem Satz würde wohl auch Grupp uneingeschränkt zustimmen. Er richtet den Blick jedoch auf die Anfänge religiösen Denkens, das in allen Regionen der Welt heilige Berge hervorruft und Anhänger vieler Glaubensrichtungen - bis heute - die Nähe Gottes auf den Gipfeln suchen lässt.
Beider Autoren Interesse gilt auch den technischen Details der kulturhistorischen "Erfindung" Alpinismus: der Organisation, der Ausrüstung der frühen Bergreisen. Der Bergsport von damals ist so weit vom heutigen Alpinismus entfernt, wie das Hochrad von der "Tour de France". Er entwickelte sich, so Scharfe, aus der bergbäuerlichen Technik des Heuholens oder Holzholens. Die Entwicklung der alpinistischen Hilfsmittel ist indes untrennbar mit den Erfolgen verbunden: Es ist kein Zufall, dass in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die "letzten Probleme der Alpen", die Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses, Matterhorn und der Großen Zinne gelöst wurden. Auch die Einstellung zur Natur sowie die ethische Haltung wandeln sich mit der technischen Entwicklung. Die Besteigungen arteten in Materialschlachten aus. Von bis zu 250 Sherpas wurden Tonnen an Material, Hunderte Sauerstoffflaschen und allerfeinste Lebensmittel auf die Himalaja-Expeditionen geschleppt. Die Routen auf den Gipfel sicherten kilometerlange Fixseile und lange Leitern. In den Alpen bezwang man mittels des "technischen Kletterns" ungangbare Routen. Die Aufrüstung am Berg war nicht mehr aufzuhalten.
Darauf, dass die Berge entgegen dem beliebten Topos nicht ewig sind, verweisen beide Bücher. Die Gletscher gehen dramatisch zurück, Felsausbrüche werden immer häufiger. Naturschutz wird darum auch im Alpinismus immer wichtiger. Der Ausbau von Hütten, Wegen und Bauprojekten wie die Zugspitzbahn, die einen Reisebüro-Tourismus im Hochgebirge ermöglichen, stieß von Anfang an auf großen Widerstand der Bergsteiger. Neue Entwicklungen führten weg vom Material, zurück zum Freiklettern - doch auch das geschah gegen große Vorbehalte der Traditionalisten. Das Zeitalter der sogenannten "Direttissimas", wo mit einem Akkubohrer unzählige Bohrhaken gesetzt und Strickleitern gehängt wurden, endete, so zeigt Grupp, in den sechziger Jahren in einer Sackgasse. Es war einfach keine technische Steigerung mehr möglich.
Es bedarf für den Bergsport heute nicht einmal mehr Gipfel. Das sogenannte Bouldering ist eine Kletterdisziplin, die sich mit kleinen Felsblöcken zufriedengibt, an denen man sich mit wenigen - allerdings technisch äußerst schwierigen - Zügen hinaufhangelt. Vielleicht spiegeln sich hier die Atemlosigkeit der westlichen Länder auch innerhalb der Bergsteigerwelt wider; ist der Zulauf zum Bouldern dem heutigen Zeitmangel geschuldet.
Die Frage, warum der Berg mit seinem Ruf den einen erreicht, den anderen aber nicht, können selbst diese beiden hervorragenden Bücher glücklicherweise nicht klären.
ANNIKA MÜLLER
Peter Grupp: "Faszination Berg". Die Geschichte des Alpinismus. Böhlau Verlag, Köln 2008. 391 S., geb., 29,90 [Euro].
Martin Scharfe: "Berg-Sucht". Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850. Böhlau Verlag, Wien 2007. 382 S., 60 Abb., geb., 49,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Annika Müller findet in diesem Buch zwar keine Antwort auf die Frage, warum der Ruf der Berge nicht jeden erreicht, die Geschichte des Alpinismus aber sieht sie darin geradezu vollständig erzählt, wenn auch nicht immer in aller Tiefe. Auch räumt Müller ein, Peter Grupps Begriff des Bergsteigens sei ein restriktiver, den Sport und die Zweckfreiheit des Kraxelns in den Vordergrund stellender. Nichtsdestotrotz findet Müller bei Grupp genug "akribisch" recherchiertes Material, um Alpingeschichte gemeinsam mit dem Autor als Zivilisations- und nicht zuletzt als Religionsgeschichte zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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