In diesem außerordentlichen Buch fordert Celati unsere Phantasie heraus, indem er von Orten und Menschen erzählt, die uns unbekannt sind und nichts mit unserem Leben zu tun haben. Oder vielleicht doch?Ein wunderbarer Roman über Sinnestäuschungen und die Fallen, die sie uns stellen. Zum Beispiel die, daß wir uns an der Spitze des Fortschritts befänden. Oder die, daß wir unverwechselbar seien.
Ist in der Geschichte der Vernunft schon das letzte Wort gesprochen? Der italienische Autor Gianni Celati inszeniert in der Wüste einen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei.
Von Winfried Wehle
Er gilt als der literarischste Autor des zeitgenössischen Italien; einer von vier oder fünf aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die bleiben werden. Der Neunundsechzigjährige hat jetzt, nach eigenem Bekunden, das letzte Buch - sein letztes Wort? - vorgelegt. Es ist wie der besondere Film, den das Fernsehen am späten Abend zeigt. Sein Titel: "Fata Morgana". Zwar wird es "Roman" genannt; enthält aber einen phantastischen Bericht, der auf raffinierte Weise erzählt, warum es mit dem Erzählen ein Ende hat: "Die Wörter haben sich vor dem Schreibenden zurückgezogen." Doch mit diesem Schlußwort von Gianni Celati hört nichts auf. Er ist lediglich in der Geschichte des Verstummens angekommen, die die Rhetorik der Moderne wie ihren Schatten begleitet.
Doch wer darüber einen Roman schreiben will, muß, was sich der Sagbarkeit entzieht, gleichwohl sagbar machen. Celatis Erzähler greift dazu auf einen vielsagenden Schauraum zurück, in dem viele kulturelle Eintragungen flimmern: die Wüste. Aus ihrer Ortlosigkeit läßt er, wie eine "Fata Morgana", ein "Nirgendwo", eine Utopie aufsteigen. Celati inszeniert dort einen phantastischen Kampf der Kulturen. Schauplatz ist Gamuna-Valley, ein verlorener Außenposten des Lebens in einer endlosen Wüstengegend. Der Ort wurde seit längerem spurlos verlassen. Unerbittlich hatte die Natur begonnen, sich zurückzuholen, was die Zivilisation ihr abgenommen hatte. Sand wanderte durch die kaputten Fenster und Türen in die Häuser ein; Unkraut, Büsche, Bäume haben darin Platz genommen; die Dächer sind undicht; die Autos am Straßenrand verrottet: ein Unort im freien Verfall.
Eine Frage der Erdanschauung.
Verfall? Es kommt auf die Betrachtung an. Denn die Gamuna, die hier eines Tages aufgetaucht sind, fanden diese Unordnung vollkommen in Ordnung. Doch welch ein Leben kann aus solchen Ruinen noch blühen? Hier beginnt die hintersinnige, beunruhigende Faszination dieser Geschichte: Die Gamuna stellen die Welt auf den Kopf: sie lassen sich, umfassend, fallen. Nur notdürftig - im Sinne des Substantivs - erhalten sie ein ziviles Minimum aufrecht. Damit erscheinen sie als Primitive, die alles, was sie bewegt, nach unten zieht. Denn ihre Weltanschauung ist umstürzend anders: Erdanschauung. Der "bleischwere Zauber der Erde" hat es ihnen angetan.
Willig gehen sie in den Veränderungen auf, die die Natur an ihnen vollzieht. Darauf sind ihre Riten abgestimmt. Die Jungen werden in einer Art Jugendweihe mit Exkrementen getauft; die Toten auf dem Katheder der ehemaligen Schule aufgebahrt, bis sie verwesen und die Fliegen kommen, Zeichen dafür, daß sich die Körper verflüchtigen und eins werden mit dem "Wesen des großen Atems", dem Wind, der aus der Wüste kommt und die Verlockungen weckt, die "im Körper nisten". Die wollüstigen Frauen mit dem "scheelen Blick einer Eule" und üppigem Busen bringen die männlichen Wesen - sie könnten von Giacometti stammen - zur Raserei. Früher endeten die Bestattungsfeste in allgemeiner Kopulation. Doch auch in Gamuna-Valley gibt es Fortschritt. Der Erzähler läßt die Männer aus ihrer Begehrlichkeit einen geradezu postmodernen Schluß ziehen. Selbst das wenige, von dem sie glauben, daß aus ihm etwas Höheres, Mächtigeres spricht: Die Wüste hat sie gelehrt, daß alles nur Luftspiegelungen sind, die von der großen Entropie ablenken. Was bringt es, ihnen nachzulaufen? Allenfalls Spuren im Sand. Die Gamuna sind darüber zu Artisten der Erkenntniskritik geworden. Ihre einzig zulässige Wahrheit ist, keine einzig zulässige Wahrheit zuzulassen. Und: Sie üben sich in der Kunst, die Zeit zu verlieren. Dadurch kommen sie dem Rhythmus der Erde näher. Selbst ihre Sprache hat sich dieser Entselbstung angepaßt. Sie wird vom Morgen zum Abend anders und weniger; nachts spricht man nur noch "mit geschlossenem Mund".
Die Gamuna könnten also nach ihrer - bizarren - Fasson selig werden, würden Utopien nicht erfunden, um entdeckt zu werden. Die dort, die Zivilisierten, sollten auf die hier, die Unzivilisierten, reagieren. Darin liegt Celatis List der Utopie. Wen es jemals nach Gamuna-Valley verschlagen hat, den bedrückt das Leben dort wie ein Albtraum an Trostlosigkeit und Trübsinn. Kann man auf diese Primitiven anders als primitiv reagieren?
Der Wahn der Zivilisierten.
Und so kommen sie gelegentlich am Wochenende, um die Eingeborenen von ihren Hubschraubern aus abzuschießen; holen sich Frauen für ihre Bordelle; wollen sie gar alle ausrotten, weil in ihrer Gegend Bodenschätze vorkommen sollen - empörende kolonialistische Menschenverachtung. Doch gerade dadurch kommt das Unzivilisierte heraus, über das die Zivilisierten glauben, erhaben zu sein. Sie sind ihrerseits, wie die Gamuna, von Halluzinationen befallen; nur daß sie es nicht wahrhaben. Deshalb ihre barbarischen Entladungen. Das Vernünftige ist eben nur eine Insel in einem Meer von Leidenschaften.
Einem ist diese Verblendung allerdings aufgegangen: dem Erzähler. Er sitzt in einem abgelegenen Ort in der Normandie. Vor ihm liegen die Aufzeichnungen eines orientalischen Anthropologen; die Berichte eines argentinischen Ethnologen und die Tagebücher einer vietnamesischen Krankenschwester. Alle hatten versucht, die Abwärtsbewegung im Leben der Gamuna auszuhalten und zu begreifen - vergeblich. Jetzt bemüht sich der Erzähler, aus der Distanz zu verstehen, was sie aus der Nähe nicht begreifen konnten. Er zieht alle diskursiven Register. Doch was helfen ihm die Leitfäden von Kolonialchronik, Reisetagebuch, Kulturgeschichtsschreibung, Völkerkunde, Utopie, Gullivers Reisen? Am Ende gibt er auf. Das Leben der Gamuna ist in keine zivilisierte Form zu bringen. Es gibt Dinge, die über ihren Verstand gehen. Mehr noch: "der Schreibende" beginnt zu ahnen, daß auch er nur mit kultivierten Halluzinationen hantiert.
Folgerichtig wendet er sich zuletzt seinem eigenen Schreiben zu. Einen geordneten Bericht wollte er verfassen; eine unordentliche Fiktion ist herausgekommen. Doch es gibt einen, dem sein Scheitern ein strenges Vergnügen bereitet: den Autor, der sich zu Beginn fast unbemerkt unters Personal gemischt und beobachtet hat, wie der Schreibende Opfer seiner hintersinnigen Parodie wurde. In letzter Hinsicht kann etwas nur als Fiktion wahr sein.
- Gianni Celati: " Fata Morgana". Roman.
Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006. 221 S., geb., 19,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nach der Lektüre ahnt Jutta Person, warum die Tropen traurig machen. In Gianni Celatis Buch nämlich erkennt die Rezensentin mehr als einen fiktiven Reisebericht mit "fein ziselierten Ruinenbildern". Auf Besuch beim Wüstenvolk der Gamuna sichtet Person eine Falle, denn Celati stellt das Wüstenvolk zunächst einmal so phlegmatisch dar, dass sich das "zerstörerische Überlegenheitsgefühl des Westens" bestätigt fühlen kann. Doch die Gegensätze zwischen den aktiven Zivilisierten und den passiven Gamuna machen schnell klar, dass es sich bei dem Text um eine, wenngleich empirisch fundierte (Celati war selbst als ethnologischer Filmer unterwegs) Parodie eines Reiseberichts handelt. Zum Glück findet Person auch Verlässliches, wie die Anleihen bei Calvino oder Ethnologisches zum Thema Mythos, Inzest und Ähnliches. Alles in allem möchte Person von dem Buch als von einer melancholisch gefärbten "Versuchsanordnung" sprechen, in der Zivilisation und Barbarei, vermittelt durch eine "elaboriert-schlichte" und "kongenial" übertragene Sprache und einen genauen Stil, einen surrealen Tanz aufführen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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