Dieses Werk ist Teil der Buchreihe TREDITION CLASSICS. Der Verlag tredition aus Hamburg veröffentlicht in der Buchreihe TREDITION CLASSICS Werke aus mehr als zwei Jahrtausenden. Diese waren zu einem Großteil vergriffen oder nur noch antiquarisch erhältlich. Mit der Buchreihe TREDITION CLASSICS verfolgt tredition das Ziel, tausende Klassiker der Weltliteratur verschiedener Sprachen wieder als gedruckte Bücher zu verlegen und das weltweit! Die Buchreihe dient zur Bewahrung der Literatur und Förderung der Kultur. Sie trägt so dazu bei, dass viele tausend Werke nicht in Vergessenheit geraten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Verbrechen lohnt sich doch
Die berühmteste Kriminellenfigur deutscher Dichtung bekommt jetzt ihre erlesene, digital polierte Prunkgrabplatte: Johann Wolfgang von Goethes "Faust" in der ersten doppelmedialen historisch-kritischen Ausgabe.
Von Gerhard Stadelmaier
Der deutsche Dichter schüttelte den Kopf. Gesprächsweise, am 6. Mai 1827, zu Eckermann. Über die Deutschen. Es seien "übrigens wunderliche Leute". Woran man schon erkennen mag, dass ihm die Deutschen nur aus der Distanz erträglich erschienen. Er war ja auch ein weitgespannter Weltenbürger ("Amerika, du hast es besser", na, ja . . .). Die bornierten Deutschen hingegen machten sich "durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer, als billig". Und dann wird er ziemlich ungehalten: "Ei! so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassn, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!"
Er wünschte sich - vergeblich, naturgemäß! - in dieser kapuzinerpredigtfrohen Passage nichts weniger als ein intelligibel naives Gegenüber. Dem er sogleich dessen neuesten Lesefehler unter die Rezeptionsnase reibt: "Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? - Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, Manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im Besondern zu Grunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!" Hätte der Alte die mageren Plumpest-Idee-Schnüre, bis hin zu Schnurren, geahnt, mit der das jüngere deutsche Theater teilweise seine kleinstentflammten "Faust"-Versuche zu umwickeln pflegt, er hätte noch ganz anders gepoltert.
Die wunderlichsten der wunderlichen gegenwärtigen Goethe-Deutschen wären wohl gerade im Dreieck Frankfurt-Würzburg-Weimar zu vermuten. Im Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe-Haus hat man in Kooperation mit dem Goethe- und Schiller-Archiv (Klassik Stiftung Weimar) und dem Lehrstuhl für Computerphilologie (es gibt ja offenbar in unseren Uni-Sphären nichts mehr, was es nicht gibt!) und Neuere Deutsche Literaturgeschichte der Universität Würzburg eine historisch-kritische Edition des "Faust" (beider, oder, wie es hier heißt, "beyder" Teile) erarbeitet, die, so ihre leitenden Verfertiger Anne Bohnenkamp (Frankfurt), Silke Henke (Weimar) und Fotis Jannidis (Würzburg), "eine moderne Faksimile-Edition mit einem innovativen genetischen Apparat im digitalen Medium" darbiete. Und somit "der Faust-Forschung erstmals eine umfassende gesicherte Grundlage und der breiteren Öffentlichkeit Einblick in Goethes ,Werkstatt', in der eines der wichtigsten Werke der deutschen Literatur entstand", ermögliche. Die fixe Idee, der die Forscher hier folgen, ist also auch eine wiederum typisch deutsche: nämlich eine technische. Und deshalb auch kannibalistische. Bei der das Internet, auf das die Editoren so stolz sind, den Buchhandel beziehungsweise Verlag auffressen könnte, der den Editoren im Verein mit allerlei großzügigen Stiftungsgaben und Subventionen die Ausgabe erst ermöglicht.
Denn wer sich in diesen ohnehin notorisch printlesefaulen Zeiten scheuen sollte, für "Faust - Eine Tragödie. Konstituierter Text", also die Lesefassung der historisch-kritischen "Faust"-Edition, 49 Euro, und dazu noch für "Faust - Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription" 199 Euro (oder für beide zusammen 224 Euro) zu bezahlen - der kann das alles kostenlos im Internet haben unter faustedition.net. Und wer sich nicht wie Endesunterfertigter gerne seine Festplatte mit sogenannten "Cookies" vollschleimen lassen will und lieber selbst schaut, was er kocht, was ja andere gar nichts angeht, und sich also dem penetrant diktatorisch auf die Fausteditions-Internetseiten plazierten und nicht wegzuklickenden verdammten "Cookie"-Banner nicht zustimmend unterwerfen mag und um es herum oder über es hinweg sich den dementsprechend leicht verbarrikadierten Weg leise vor sich hin fluchend suchen muss, dem bieten sich wahrlich tausenderlei Möglichkeiten.
Klickt er auf "Archiv", hat er dort Zugriff auf die gesamte "Faust"-Überlieferung, die "Faust"-Handschriften (die für "Faust I" fast völlig verloren, für "Faust II" bis hin in kleinste Korrektur-Klebezettel komplett sind) und auf die zu Goethes Lebzeiten erschienenen Drucke (nur für den ganzen "Faust I", für "Faust II" allerdings nur Teile des ersten und der ganze dritte, der Helena-Akt). Klickt man auf "Genese", bekommt man die handschriftenübergreifende Entstehung des Gesamtwerks in verschiedenen Diagrammen visualisiert, so dass man zum Beispiel genau ersehen kann, bis zu welchem Punkt, sagen wir: am 6. Juni 1806 oder an jedem beliebigen anderen Tag der Produktionsprozess gediehen ist. Zudem bekommt man Hunderte von Briefstellen, Tagebucheinträge, Gesprächsnotizen und dergleichen mehr sozusagen am Kolumnenrand geboten, die den Fortgang und die Rezeption der "Faust"-Produktion im Spiegel aller möglichen prominenten Goethe-Zeitgenossen dokumentieren. Geht man dann schließlich zur Rubrik "Text", bekommt man die Lesefassung beider Teile des "Faust" geboten, welche die Herausgeber aus einer Vielzahl von sogenannten "Zeugen", also Druck- und Handschriftversionen "emendiert", das heißt: von Fehlern und vor allem von "autorfernen" Eingriffen (der Setzer, der Abschreiber, der Diktataufnehmer, der Verleger) gereinigt haben. Und über jede noch so klitzekleinste Entscheidung peinlich genau Rechenschaft ablegen. Zum Beispiel darüber, ob es in Vers 3945 heißt "Girren und Brechen der Äste / Der Stämme mächtiges Dröhnen" mit keinem Komma hinter "Äste" wie in den Druck- beziehungsweise Handschriftversionen A B Ba H1 C1 oder mit Ausrufezeichen wie in H14 oder C3. Wobei man sich hier für die Version ohne Satzzeichen entschieden hat.
Und in den Faksimile-Wiedergabe der Handschrift zu "Faust II", die für unsere Laptop-Schirme übrigens besser und höher auflöslicher hätte präpariert werden müssen, ist dem jeweiligen händischen Schriftzug in alter deutscher Schrift die Transkription in moderne Druckbuchstaben durchscheinend unterlegt. Aber spätestens nach der zwanzigsten dementsprechenden Klick-Bewegung fragt man sich dann doch: Und was bringt es? An Erkenntnis? An Ergötzen (s. Goethe)? Was hat man davon, wenn man sieht, dass Goethe mit Tinte seine Bleistiftkorrektur bekräftigt und im Vers 4830 "Doch keiner denkt es ging ihn an" zwischen "ihn" und "an" ein "irgend" einfügt? Oder wenn in Vers 4661 ein "Schlaaf" zu "Schlaf" korrigiert wird, aber eine "Schaale" nicht zur "Schale"? Werkstatt ist ja gut und schön - aber will man so genau wissen, welche kleine Schraube bei dem einen oder anderen Karosserie-Teil verwendet locker sitzt und welche nicht? Legt man nicht einfach Wert darauf, dass die ganze Karre fährt?
Man ist ja nun dauernd beim Durchblättern und Durchforschen dieser gewaltigen Unternehmung geneigt, sich vor der eminenten und höchst verdienstvollen historisch-kritischen Leistung der Editoren und ihrer vielen Mitarbeiter permanent zu verneigen und voller Ehrfurcht mit dem Kopf zu nicken, derart, dass einem vor lauter Kopfnicken der Kopf allmählich auf die Brust sinkt und man irgendwann sanft einnickt. Und irgendwann auch nimmt die Langeweile vor so viel philologischer Puzzle-Arbeit, wo jeder Strich von Goethes Bleistift (oder Tintenfeder) durch ein Komma oder Fragezeichen sorgfältigst dokumentiert wird, einfach überhand.
Und da uns gerade der verdammte "Cookie"-Banner doch allzu sehr ärgert, gehen wir rasch raus aus dem Internet und wenden uns lieber der Buchausgabe des "konstruierten Textes" zu und versuchen, ohne uns einen Leistenbruch zu heben oder eine Schulterprellung zuzuziehen, die beiden gefühlt tonnenschweren Prachtbände der "Faust II"-Handschrift (Faksimile und Transkription) vom Boden aufzuheben. Man fragt sich, den Verlag und die Editoren, wo in den heutigen bildungsbürgerlichen Wohnungen für derartige Maße (26,5 auf 41,5 cm!) und Gewichtsmassen noch Platz in den ohnehin übervollen Regalen sein soll? Also greifen wir sozusagen zur Erholung und Erbauung und Erfrischung zu den beiden äußerst handlichen und allein inhaltlich höchst gewichtigen Bänden (erschienen im Deutschen Klassiker Verlag), in denen der große Germanist Albrecht Schöne 1994 sämtliche "Faust"-Texte ediert hat. Und zwar so bündig und einsichtig und kritisch an den Quellen orientiert, dass seine Edition jede historisch-kritische zwar nicht an wissenschaftlicher Schnipselei, aber an Form, Intelligenz und Lesbarkeit weit übertrifft, auch und gerade weil Schöne noch nichts vom Internet wissen konnte. Dafür liefert er alle die "Wollust-Texte" (wie Wieland sie genannt hat), die Goethe aus Rücksicht auf die Prüderie seiner Zeit im Zuge selbstzensierender Voraussicht in den "Walpurgissack" verbannt hat. Wobei vornehmlich die Messe des Satans auf dem Blocksberg, das schwarze Gegenstück zum hellen "Prolog im Himmel" mitsamt allen teuflisch-hexenhaften "Schwänzen" und "Löchern" und Rammeleien der Welt verborgen blieb. Auch übrigens der "Schooß" Gretchens, der sich zu Faust "hin drängt", während man auch in der historisch-kritischen Ausgabe nur vom "Busen" des jungen Dings liest.
Und da Schöne auch den wunderbarsten Kommentarband zu "Faust" (1133 Seiten), der sich denken und mit Genuss und Gewinn durchschmarutzen lässt, gleich beigelegt hatte, liest man auf Seite 97 vom "Doppelgesicht eines Janushauptes", das jeder ältere literarische Text uns zeige. "Ein uns abgewendetes und ein uns zugekehrtes. Als alternd fremd gewordene Schrift ist er der Möglichkeit nach zugleich doch eine je gegenwärtige." Und er zitiert Goethe, der gegenüber Eckermann meinte, es "müßte schlimm sein, wenn nicht Jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben wollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben". Der Herausgeber, so Schöne, dürfe keinesfalls ein altes Werk um diese im Text angelegte Ambivalenz bringen. Durch radikale Modernisierung der veralteten Schreibweisen täusche er seine Leser über den historischen Charakter des Textes hinweg. "Bringt er hingegen, um wissenschaftlich zu dokumentieren, durch strikt an den Textzeugen gebundene Wiedergabe einer veralteten Schreibweise allein die Fremdheit zur Geltung (die doch keineswegs der ,originale' Zustand eines Textes ist, sondern allererst das Ergebnis des historischen Entfremdungsprozesses), dann unterdrückt oder verdeckt er mit einer solchen ,historisch-kritischen Ausgabe' die der Dichtung eingeschriebene Gegenwärtigkeitsintention."
Und genau das ist mit der vorliegenden Frankfurt-Weimar-Würzburger historisch-kritischen Ausgabe passiert. Wir lesen "Indeß ihr Complimente drechselt" oder "Nur thierischer als jedes Thier" zu sein, stolpern über "Juristerey und Medicin" und "studirt" und "Es zucken rothe Strahlen mir um das Haupt" und erleben in dieser Ausgabe der "Textologen der strengsten Observanz" (Schöne) die Qual der Herausgeber-Wahl zwischen "ein- für allemal" (A, D1) und "einvorallemal" (H5) und "ein- vor allemal" und ob es "wüßt'" oder "wüsst" (ohne Apostroph) heißt und sehen die "krystallne reine Schale" und baden in jeder Menge "sey" und "herbey" und müssen uns entscheiden zwischen "Schornstein" und "Schorstein". Und grämen uns, "Wenn thät ein armes Mägdlein fehlen".
Dabei tritt ein seltsamer Lese-Effekt ein: Die Figuren wenden sich von uns ab; sie schauen mit ihren uralten Rechtschreib- und Schriftmasken ins historisch Erledigte hinab. Goethes "Faust" ist ja insgesamt das Welt- und Daseins- und Tragödienspiel des Scheiterns des berühmtesten Kriminellen der deutschen Literatur, der mit Satans Hilfe, der er sich bewusst verschrieb, unter anderem in der Verführung Minderjähriger, in Gift- und Meuchelmord, Falschgeldproduktion, in zauberischer Vorspiegelung falscher Tatsachen (Fake News), in Bandenbildung, räuberischer Erpressung samt Brandstiftung mit Todesfolge exzellierte. Und der kinderlos stirbt in einem dreifachen Kindertotenstück: Gretchens Kind, Euphorion, Homunculus - lauter Verluste des Vaters Faust. Und glaubt, wenn er, blind geworden, die Spaten klirren hört, dass ein "freies Volk auf freiem Grund" sie tatkräftig bewegten, man ihm aber damit längst das Grab schaufelt. Aber am Ende spendiert ihm sein Autor eine erstklassige Himmelfahrt hinauf in die Seelenräume ihn begnadigender und beseligender und erlösender heiliger Frauen: "Das ewig Weibliche zieht uns hinan" meint genau dies. Nicht unser Zeit-, aber unser Monstrositätsgenosse. Diese Figur bekommt hier mit einer überaus verdienstvollen, aber doch ziemlich leblosen historisch-kritischen Ausgabe eine prunkvollst polierte Grabplatte verpasst. Die ihm Goethe noch erspart hatte.
Johann Wolfgang von Goethe: "Faust". Eine Tragödie. Konstituierter Text.
Bearbeitet von Gerrit Brüning und Dietmar Pravida. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 S., geb. im Schuber, 49,- [Euro].
Johann Wolfgang von Goethe: "Faust". Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription.
Bearbeitet von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Dietmar Pravida, Dietrich Renken, Thorsten Vitt und Moritz Wissenbach. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. Zwei Foliobände im Schuber: Faksimileband mit 384 S. und 26 faksimilierte Aufklebungen, geb., sowie Transkriptions- und Erläuterungsband mit 412 S., geb., beide zusammen 199,- [Euro].
Alle drei Bände zusammen 224,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die berühmteste Kriminellenfigur deutscher Dichtung bekommt jetzt ihre erlesene, digital polierte Prunkgrabplatte: Johann Wolfgang von Goethes "Faust" in der ersten doppelmedialen historisch-kritischen Ausgabe.
Von Gerhard Stadelmaier
Der deutsche Dichter schüttelte den Kopf. Gesprächsweise, am 6. Mai 1827, zu Eckermann. Über die Deutschen. Es seien "übrigens wunderliche Leute". Woran man schon erkennen mag, dass ihm die Deutschen nur aus der Distanz erträglich erschienen. Er war ja auch ein weitgespannter Weltenbürger ("Amerika, du hast es besser", na, ja . . .). Die bornierten Deutschen hingegen machten sich "durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer, als billig". Und dann wird er ziemlich ungehalten: "Ei! so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassn, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!"
Er wünschte sich - vergeblich, naturgemäß! - in dieser kapuzinerpredigtfrohen Passage nichts weniger als ein intelligibel naives Gegenüber. Dem er sogleich dessen neuesten Lesefehler unter die Rezeptionsnase reibt: "Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? - Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, Manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im Besondern zu Grunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!" Hätte der Alte die mageren Plumpest-Idee-Schnüre, bis hin zu Schnurren, geahnt, mit der das jüngere deutsche Theater teilweise seine kleinstentflammten "Faust"-Versuche zu umwickeln pflegt, er hätte noch ganz anders gepoltert.
Die wunderlichsten der wunderlichen gegenwärtigen Goethe-Deutschen wären wohl gerade im Dreieck Frankfurt-Würzburg-Weimar zu vermuten. Im Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe-Haus hat man in Kooperation mit dem Goethe- und Schiller-Archiv (Klassik Stiftung Weimar) und dem Lehrstuhl für Computerphilologie (es gibt ja offenbar in unseren Uni-Sphären nichts mehr, was es nicht gibt!) und Neuere Deutsche Literaturgeschichte der Universität Würzburg eine historisch-kritische Edition des "Faust" (beider, oder, wie es hier heißt, "beyder" Teile) erarbeitet, die, so ihre leitenden Verfertiger Anne Bohnenkamp (Frankfurt), Silke Henke (Weimar) und Fotis Jannidis (Würzburg), "eine moderne Faksimile-Edition mit einem innovativen genetischen Apparat im digitalen Medium" darbiete. Und somit "der Faust-Forschung erstmals eine umfassende gesicherte Grundlage und der breiteren Öffentlichkeit Einblick in Goethes ,Werkstatt', in der eines der wichtigsten Werke der deutschen Literatur entstand", ermögliche. Die fixe Idee, der die Forscher hier folgen, ist also auch eine wiederum typisch deutsche: nämlich eine technische. Und deshalb auch kannibalistische. Bei der das Internet, auf das die Editoren so stolz sind, den Buchhandel beziehungsweise Verlag auffressen könnte, der den Editoren im Verein mit allerlei großzügigen Stiftungsgaben und Subventionen die Ausgabe erst ermöglicht.
Denn wer sich in diesen ohnehin notorisch printlesefaulen Zeiten scheuen sollte, für "Faust - Eine Tragödie. Konstituierter Text", also die Lesefassung der historisch-kritischen "Faust"-Edition, 49 Euro, und dazu noch für "Faust - Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription" 199 Euro (oder für beide zusammen 224 Euro) zu bezahlen - der kann das alles kostenlos im Internet haben unter faustedition.net. Und wer sich nicht wie Endesunterfertigter gerne seine Festplatte mit sogenannten "Cookies" vollschleimen lassen will und lieber selbst schaut, was er kocht, was ja andere gar nichts angeht, und sich also dem penetrant diktatorisch auf die Fausteditions-Internetseiten plazierten und nicht wegzuklickenden verdammten "Cookie"-Banner nicht zustimmend unterwerfen mag und um es herum oder über es hinweg sich den dementsprechend leicht verbarrikadierten Weg leise vor sich hin fluchend suchen muss, dem bieten sich wahrlich tausenderlei Möglichkeiten.
Klickt er auf "Archiv", hat er dort Zugriff auf die gesamte "Faust"-Überlieferung, die "Faust"-Handschriften (die für "Faust I" fast völlig verloren, für "Faust II" bis hin in kleinste Korrektur-Klebezettel komplett sind) und auf die zu Goethes Lebzeiten erschienenen Drucke (nur für den ganzen "Faust I", für "Faust II" allerdings nur Teile des ersten und der ganze dritte, der Helena-Akt). Klickt man auf "Genese", bekommt man die handschriftenübergreifende Entstehung des Gesamtwerks in verschiedenen Diagrammen visualisiert, so dass man zum Beispiel genau ersehen kann, bis zu welchem Punkt, sagen wir: am 6. Juni 1806 oder an jedem beliebigen anderen Tag der Produktionsprozess gediehen ist. Zudem bekommt man Hunderte von Briefstellen, Tagebucheinträge, Gesprächsnotizen und dergleichen mehr sozusagen am Kolumnenrand geboten, die den Fortgang und die Rezeption der "Faust"-Produktion im Spiegel aller möglichen prominenten Goethe-Zeitgenossen dokumentieren. Geht man dann schließlich zur Rubrik "Text", bekommt man die Lesefassung beider Teile des "Faust" geboten, welche die Herausgeber aus einer Vielzahl von sogenannten "Zeugen", also Druck- und Handschriftversionen "emendiert", das heißt: von Fehlern und vor allem von "autorfernen" Eingriffen (der Setzer, der Abschreiber, der Diktataufnehmer, der Verleger) gereinigt haben. Und über jede noch so klitzekleinste Entscheidung peinlich genau Rechenschaft ablegen. Zum Beispiel darüber, ob es in Vers 3945 heißt "Girren und Brechen der Äste / Der Stämme mächtiges Dröhnen" mit keinem Komma hinter "Äste" wie in den Druck- beziehungsweise Handschriftversionen A B Ba H1 C1 oder mit Ausrufezeichen wie in H14 oder C3. Wobei man sich hier für die Version ohne Satzzeichen entschieden hat.
Und in den Faksimile-Wiedergabe der Handschrift zu "Faust II", die für unsere Laptop-Schirme übrigens besser und höher auflöslicher hätte präpariert werden müssen, ist dem jeweiligen händischen Schriftzug in alter deutscher Schrift die Transkription in moderne Druckbuchstaben durchscheinend unterlegt. Aber spätestens nach der zwanzigsten dementsprechenden Klick-Bewegung fragt man sich dann doch: Und was bringt es? An Erkenntnis? An Ergötzen (s. Goethe)? Was hat man davon, wenn man sieht, dass Goethe mit Tinte seine Bleistiftkorrektur bekräftigt und im Vers 4830 "Doch keiner denkt es ging ihn an" zwischen "ihn" und "an" ein "irgend" einfügt? Oder wenn in Vers 4661 ein "Schlaaf" zu "Schlaf" korrigiert wird, aber eine "Schaale" nicht zur "Schale"? Werkstatt ist ja gut und schön - aber will man so genau wissen, welche kleine Schraube bei dem einen oder anderen Karosserie-Teil verwendet locker sitzt und welche nicht? Legt man nicht einfach Wert darauf, dass die ganze Karre fährt?
Man ist ja nun dauernd beim Durchblättern und Durchforschen dieser gewaltigen Unternehmung geneigt, sich vor der eminenten und höchst verdienstvollen historisch-kritischen Leistung der Editoren und ihrer vielen Mitarbeiter permanent zu verneigen und voller Ehrfurcht mit dem Kopf zu nicken, derart, dass einem vor lauter Kopfnicken der Kopf allmählich auf die Brust sinkt und man irgendwann sanft einnickt. Und irgendwann auch nimmt die Langeweile vor so viel philologischer Puzzle-Arbeit, wo jeder Strich von Goethes Bleistift (oder Tintenfeder) durch ein Komma oder Fragezeichen sorgfältigst dokumentiert wird, einfach überhand.
Und da uns gerade der verdammte "Cookie"-Banner doch allzu sehr ärgert, gehen wir rasch raus aus dem Internet und wenden uns lieber der Buchausgabe des "konstruierten Textes" zu und versuchen, ohne uns einen Leistenbruch zu heben oder eine Schulterprellung zuzuziehen, die beiden gefühlt tonnenschweren Prachtbände der "Faust II"-Handschrift (Faksimile und Transkription) vom Boden aufzuheben. Man fragt sich, den Verlag und die Editoren, wo in den heutigen bildungsbürgerlichen Wohnungen für derartige Maße (26,5 auf 41,5 cm!) und Gewichtsmassen noch Platz in den ohnehin übervollen Regalen sein soll? Also greifen wir sozusagen zur Erholung und Erbauung und Erfrischung zu den beiden äußerst handlichen und allein inhaltlich höchst gewichtigen Bänden (erschienen im Deutschen Klassiker Verlag), in denen der große Germanist Albrecht Schöne 1994 sämtliche "Faust"-Texte ediert hat. Und zwar so bündig und einsichtig und kritisch an den Quellen orientiert, dass seine Edition jede historisch-kritische zwar nicht an wissenschaftlicher Schnipselei, aber an Form, Intelligenz und Lesbarkeit weit übertrifft, auch und gerade weil Schöne noch nichts vom Internet wissen konnte. Dafür liefert er alle die "Wollust-Texte" (wie Wieland sie genannt hat), die Goethe aus Rücksicht auf die Prüderie seiner Zeit im Zuge selbstzensierender Voraussicht in den "Walpurgissack" verbannt hat. Wobei vornehmlich die Messe des Satans auf dem Blocksberg, das schwarze Gegenstück zum hellen "Prolog im Himmel" mitsamt allen teuflisch-hexenhaften "Schwänzen" und "Löchern" und Rammeleien der Welt verborgen blieb. Auch übrigens der "Schooß" Gretchens, der sich zu Faust "hin drängt", während man auch in der historisch-kritischen Ausgabe nur vom "Busen" des jungen Dings liest.
Und da Schöne auch den wunderbarsten Kommentarband zu "Faust" (1133 Seiten), der sich denken und mit Genuss und Gewinn durchschmarutzen lässt, gleich beigelegt hatte, liest man auf Seite 97 vom "Doppelgesicht eines Janushauptes", das jeder ältere literarische Text uns zeige. "Ein uns abgewendetes und ein uns zugekehrtes. Als alternd fremd gewordene Schrift ist er der Möglichkeit nach zugleich doch eine je gegenwärtige." Und er zitiert Goethe, der gegenüber Eckermann meinte, es "müßte schlimm sein, wenn nicht Jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben wollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben". Der Herausgeber, so Schöne, dürfe keinesfalls ein altes Werk um diese im Text angelegte Ambivalenz bringen. Durch radikale Modernisierung der veralteten Schreibweisen täusche er seine Leser über den historischen Charakter des Textes hinweg. "Bringt er hingegen, um wissenschaftlich zu dokumentieren, durch strikt an den Textzeugen gebundene Wiedergabe einer veralteten Schreibweise allein die Fremdheit zur Geltung (die doch keineswegs der ,originale' Zustand eines Textes ist, sondern allererst das Ergebnis des historischen Entfremdungsprozesses), dann unterdrückt oder verdeckt er mit einer solchen ,historisch-kritischen Ausgabe' die der Dichtung eingeschriebene Gegenwärtigkeitsintention."
Und genau das ist mit der vorliegenden Frankfurt-Weimar-Würzburger historisch-kritischen Ausgabe passiert. Wir lesen "Indeß ihr Complimente drechselt" oder "Nur thierischer als jedes Thier" zu sein, stolpern über "Juristerey und Medicin" und "studirt" und "Es zucken rothe Strahlen mir um das Haupt" und erleben in dieser Ausgabe der "Textologen der strengsten Observanz" (Schöne) die Qual der Herausgeber-Wahl zwischen "ein- für allemal" (A, D1) und "einvorallemal" (H5) und "ein- vor allemal" und ob es "wüßt'" oder "wüsst" (ohne Apostroph) heißt und sehen die "krystallne reine Schale" und baden in jeder Menge "sey" und "herbey" und müssen uns entscheiden zwischen "Schornstein" und "Schorstein". Und grämen uns, "Wenn thät ein armes Mägdlein fehlen".
Dabei tritt ein seltsamer Lese-Effekt ein: Die Figuren wenden sich von uns ab; sie schauen mit ihren uralten Rechtschreib- und Schriftmasken ins historisch Erledigte hinab. Goethes "Faust" ist ja insgesamt das Welt- und Daseins- und Tragödienspiel des Scheiterns des berühmtesten Kriminellen der deutschen Literatur, der mit Satans Hilfe, der er sich bewusst verschrieb, unter anderem in der Verführung Minderjähriger, in Gift- und Meuchelmord, Falschgeldproduktion, in zauberischer Vorspiegelung falscher Tatsachen (Fake News), in Bandenbildung, räuberischer Erpressung samt Brandstiftung mit Todesfolge exzellierte. Und der kinderlos stirbt in einem dreifachen Kindertotenstück: Gretchens Kind, Euphorion, Homunculus - lauter Verluste des Vaters Faust. Und glaubt, wenn er, blind geworden, die Spaten klirren hört, dass ein "freies Volk auf freiem Grund" sie tatkräftig bewegten, man ihm aber damit längst das Grab schaufelt. Aber am Ende spendiert ihm sein Autor eine erstklassige Himmelfahrt hinauf in die Seelenräume ihn begnadigender und beseligender und erlösender heiliger Frauen: "Das ewig Weibliche zieht uns hinan" meint genau dies. Nicht unser Zeit-, aber unser Monstrositätsgenosse. Diese Figur bekommt hier mit einer überaus verdienstvollen, aber doch ziemlich leblosen historisch-kritischen Ausgabe eine prunkvollst polierte Grabplatte verpasst. Die ihm Goethe noch erspart hatte.
Johann Wolfgang von Goethe: "Faust". Eine Tragödie. Konstituierter Text.
Bearbeitet von Gerrit Brüning und Dietmar Pravida. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 S., geb. im Schuber, 49,- [Euro].
Johann Wolfgang von Goethe: "Faust". Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription.
Bearbeitet von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Dietmar Pravida, Dietrich Renken, Thorsten Vitt und Moritz Wissenbach. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. Zwei Foliobände im Schuber: Faksimileband mit 384 S. und 26 faksimilierte Aufklebungen, geb., sowie Transkriptions- und Erläuterungsband mit 412 S., geb., beide zusammen 199,- [Euro].
Alle drei Bände zusammen 224,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2019„Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt“
In fast jeder Phase seines Lebens hat Goethe am „Faust“ gearbeitet – Die hybride Edition erschließt das gewaltige Material Von Andreas Kilcher
Goethes „Faust“ scheint uns in seiner Textgestalt bekannt und gesichert. Fraglos nehmen wir an, dass der erzkanonische Text des erzkanonischen Autors in verlässlicher und abgeschlossener Form vorliegt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Goethes „Faust“ durchaus nicht selbstverständlich gegeben und gefestigt ist. Das lässt sich schon daran erahnen, dass die Entstehungs- und Druckgeschichte des in zwei Teilen realisierten Dramas sich über sechs Jahrzehnte – von rund 1772 bis 1831 – hinzog und bei Goethes Tod unvollendet blieb. Zwar enthalten die zahlreichen kritischen Editionen Angaben zur Entstehungsgeschichte und legen Entwürfe, „Paralipomena“ und Teildrucke vor. Doch eine historisch-kritische Ausgabe des Faust-Komplexes, die Goethes gesamten Schreibprozess im Detail nachvollzieht und erschließt, fehlte bislang.
Das ist angesichts der weltliterarischen Bedeutung des „Faust“ zwar erstaunlich, mit Blick auf den Umfang und die Komplexität eines solchen Unternehmens aber verständlich. In dem jahrzehntelangen Arbeitsprozess entstand eine große Zahl von Entwürfen unterschiedlicher Größe, von kurzen Skizzen zu Szenen und Versen bis hin zu Reinschriften und Druckvorlagen. Zudem gehören dazu auch Texte von fremder Hand, einschließlich der redaktionellen Arbeiten von Goethes Mitarbeitern wie Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter Eckermann. Die Manuskripte liegen zum großen Teil im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, das nicht weniger als 455 Faust-Handschriften auf rund 1800 Seiten beherbergt. Zahlreiche weitere Manuskripte – insgesamt 89 auf rund 600 Seiten – sind in Institutionen sowie in Privatbesitz weltweit verstreut.
Wie aber dieses umfangreiche, heterogene und verstreute Material zusammenführen und angemessen edieren, und zwar sowohl für ein wissenschaftliches als auch für ein allgemeines Publikum? Diese Frage haben sich die Literaturwissenschaftlerinnen und Editionsphilologinnen Anne Bohnenkamp, Leiterin des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main, und Silke Henke vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar gestellt, gemeinsam mit dem Computerphilologen Fotis Jannidis. In der Verbindung von analoger und digitaler Literaturwissenschaft finden sie die Antwort. Unter dem Titel „Faustedition“ legten sie eine mehrteilige „hybride“ Ausgabe vor, die teils digital, teils gedruckt vorliegt und erstmals alle Quellen enthält.
Seit den Neunzigerjahren wurden die Möglichkeiten digitaler Datenverarbeitung theoretisch wie praktisch sondiert, neuerdings wurden die Techniken digitaler Edition vor allem durch die Verlagerung ins Internet weiterentwickelt. So ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Editionen entstanden, die entweder als „hybrid“-Ausgaben sowohl digital im Internet als auch im Druck erscheinen, oder aber als Editions-„Portale“ ausschließlich im Internet angesiedelt sind. Darunter finden sich Projekte etwa zu Jane Austen, Samuel Beckett, Hermann Burger, Gustave Flaubert, Theodor Fontane, Karl Gutzkow, Ödön von Horvath, Herman Melville, Robert Musil, Friedrich Nietzsche, Jean Paul und Arthur Schnitzler. In der Schweiz fördert der Nationalfonds unter dem Motto „Edition neu denken“ gar eine eigene „nationale Infrastruktur“ für digitale Editionen, deren Leitung beim „Digital Humanities Lab“ der Universität Basel liegt (www.nie-ine.ch).
Die neue Faustedition ist auf einer eigenen Internetseite (www.faustedition.net) angesiedelt und leistet mit den Möglichkeiten digitaler Edition in der Hybridform, was in herkömmlichen Printeditionen kaum darstellbar wäre. Sie zeigt das gesamte relevante nachgelassene Handschriftenmaterial sowie sämtliche Drucke des „Faust“-Komplexes, Hunderte Handschriften, Dutzende Drucke, dazu weitere Dokumente wie Entstehungszeugnisse. Durch multimediale Darstellung und Verlinkung werden die zahlreichen Textteile durchsuchbar und verknüpfbar. Auf diese Weise entstehen drei editorische Bereiche: ein digitales Archiv der Handschriften und der zu Lebzeiten erschienenen relevanten Drucke, ein digitaler sowie gedruckter konstituierter Text der beiden Teile des „Faust“, sowie digitale Visualisierungen zur Genese des Werks.
Das digitale Archiv stellt die gesamte Überlieferung des „Faust“ in Form von hochaufgelösten Farbscans bereit. Hier findet man die historischen Drucke, darunter auch Einzel- und Journaldrucke sowie handschriftlich bearbeitete Korrekturexemplare und Revisionsbogen, aber auch alle bislang bekannten Äußerungen Goethes sowie Zeugnisse von Zeitgenossen zur Entstehung des „Faust“. Der zweite Teilbereich bringt die Konstitution eines neuen Textes auf der Grundlage des im Archiv versammelten Materials. Der Anspruch besteht hier darin, den „letzten autornahen Textzustand“ wiederzugeben. Als autornah verstehen die Herausgeberinnen einen Textzustand, „der unter direkter Mitwirkung und unmittelbarer Kontrolle des Autors entstanden ist“. Der so konstituierte Faust-Text findet sich sowohl online als auch in der Printausgabe. Im Unterschied zur Printausgabe sind in der digitalen Ausgabe die Varianten in den Handschriften und Drucken dadurch unmittelbar ersichtlich, dass die Zeilen des konstituierten Textes mit Graustufen unterlegt sind: je dunkler, desto mehr abweichende Fassungen existieren; diese werden per Mausklick in chronologischer Anordnung angezeigt.
Hinzu kommt im Online-Bereich die Visualisierung der Genese des „Faust“. Eine erste Grafik zeigt eine auf der Zeitachse angeordnete Gesamtübersicht der Werkteile, die im Einzelnen wiederum mit dem Bestand des Archivs, sowohl den Texten als auch den Entstehungszeugnissen, verlinkt sind. Dabei zeigen verschiedene Einfärbungen den Ausarbeitungsgrad an: grau zeigt Unabgeschlossenheit, schwarz Fertigstellung. So kann man die Bearbeitung der einzelnen Szenen von den Drucken über die Handschriften bis zu den Entwürfen nachverfolgen.
Wie dieses Textgefüge mit seiner Vervielfältigung von Zugängen, Pfaden und Verknüpfungen Goethes Arbeit am „Faust“ sichtbar macht, können zahlreiche Beispiele zeigen. Besonders weitreichend ist etwa die Walpurgisnacht-Szene im „Faust I“, deren kanonische Fassung seit dem Druck von 1808 – durch Goethes, dem allgemeinen Geschmack vorgreifende Selbstzensur – die anzüglichen sowie die auf das Satansritual bezogenen Stellen unterdrückt. In einzelnen Handschriften aber ist ausformuliert, was im Druck bestenfalls durch Auslassungszeichen angedeutet ist, so etwa in der Berliner Handschrift der Brocken-Szene. Wo im Druck sich die „Alte“ dem als „Junker Voland“ auftretenden Mephistopheles anbietet: „Ich biete meinen besten Gruß / Dem Ritter mit dem Pferdefuß! / Halt’ er einen – – bereit, / Wenn er – – – nicht scheut.“, da werden dort die Andeutungen ausgeschrieben: mit „einen rechten Pfropf bereit“ und „das grosse Loch nicht scheut“. Und während Goethe in der gedruckten Walpurgisnacht-Szene die Satansmesse auslässt und Satan selber nicht auftreten lässt, ist sie etwa in der Weimarer Handschrift HP50 ausformuliert, mit Satan als Protagonisten.
In medialer Hinsicht ist das Ganze ein höchst fruchtbares Wechselspiel von digitaler und analoger Edition. Wo der verlinkte digitale Text mit seinen verschlungenen Pfaden und der Vielstimmigkeit der Handschriften und Drucke die geschlossene und ganzheitliche Gestalt des Dramas verflüssigt, da gibt ihm die Printversion eine festere Gestalt zurück. Dieses Spannungsverhältnis wird durch ein zweites Print-Element verstärkt, den Faksimiledruck (einschließlich dokumentarischer Umschrift) der bislang unveröffentlichten großen Handschrift des zweiten Teils des „Faust“. Dabei handelt es sich um eine 386 Seiten umfassende Gesamthandschrift, die von Goethes Schreibern angefertigt und von ihm selbst bis kurz vor seinem Tod noch durchgesehen und mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen versehen wurde.
Zudem finden sich in der Handschrift auch Arbeitsspuren seiner Nachlassbearbeiter Eckermann und Riemer. Sie dokumentiert damit den Übergang von flüssiger Produktion in textuelle Verfestigung, wie Goethe am 1. Dezember 1831, knapp drei Monate vor seinem Tod, an Wilhelm von Humboldt schrieb: „Und nun musste ich mir ein Herz nehmen, das geheftete Exemplar, worin Gedrucktes und Ungedrucktes in einander geschoben sind, zu versiegeln, damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in Versuchung käme.“
Der Faksimiledruck der Handschrift, die sich natürlich auch auf der Faust-Plattform online findet, entfaltet nicht zuletzt durch das große Buchformat eine auratische Wirkung, wobei diese gerade nicht nur diejenige Goethes ist, sondern den Arbeitsprozess als prozessualen und kollektiven aufzeigt. Es war eine verlegerisch mutige und richtige Entscheidung, dieses Faksimile in das Projekt der Hybridedition mit aufzunehmen. Die Edition nutzt die Vorzüge und Stärken der beiden großen Medien, des alten Buchdrucks und der neuen digitalen Schreibtechniken, und lässt sie sich wechselseitig verstärken – statt sie gegeneinander auszuspielen.
Man könnte darin auch ein primäres Bestreben von Goethes Faust-Figur erkennen: Goethe stellt ihn vor als einen Schriftgelehrten, der in seinem Studierzimmer von Büchern umstellt ist, jedoch über das Buch hinaus nach einem umfassenden Wissen in einem visuellen Medium strebt, einem Medium jedoch, das seinerseits zeichenhaft ist und die Schrift wiederum inkorporiert. Goethe hat dieses mediale Szenario im Erstdruck „Faust. Ein Fragment“ (1790) in einem bemerkenswerten Kupfer visuell vorangestellt. Es handelt sich um eine nachgestochene Variation von Rembrandts „Der Alchemist“ – nach Goethe ist es Faust – durch den Zürcher Stecher Johann Heinrich Lips, den Goethe eigens dazu beauftrag hatte. Die Radierung findet sich selbstverständlich in der digitalen Faustedition. Sie zeigt – so Goethe – den humanistischen Büchergelehrten „Faust im Studierzimmer am Pult stehend, wie er ein am Fenster erscheinendes magisches Zeichen betrachtet.“ Die magische Spiegelschrift öffnet das konventionelle Bleisatzbuch hin zum umfassenden Bildlichen, fügt sich aber zugleich als lesbares Zeichen in die Welt der Schrift ein. Die Hybridisierung von Schrift und Bild bei Faust macht die wechselseitige Spiegelung von analoger und digitaler Darstellung so nicht als Konkurrenz oder Widerspruch, sondern als fruchtbare Koexistenz von technischen Möglichkeiten verständlich.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Konstituierter Text. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 Seiten, 39 Euro.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, 2018. Zwei Bände. 796 Seiten, 199 Euro.
Andreas Kilcher lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich.
Allein im Archiv in Weimar
liegen nicht weniger
als 455 Faust-Handschriften
„Und nun musste ich mir
ein Herz nehmen, das geheftete
Exemplar (…) zu versiegeln“
„Alchemist“ – Titelkupfer des Erstdrucks von „Faust. Ein Fragment“.
Foto: oh
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In fast jeder Phase seines Lebens hat Goethe am „Faust“ gearbeitet – Die hybride Edition erschließt das gewaltige Material Von Andreas Kilcher
Goethes „Faust“ scheint uns in seiner Textgestalt bekannt und gesichert. Fraglos nehmen wir an, dass der erzkanonische Text des erzkanonischen Autors in verlässlicher und abgeschlossener Form vorliegt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Goethes „Faust“ durchaus nicht selbstverständlich gegeben und gefestigt ist. Das lässt sich schon daran erahnen, dass die Entstehungs- und Druckgeschichte des in zwei Teilen realisierten Dramas sich über sechs Jahrzehnte – von rund 1772 bis 1831 – hinzog und bei Goethes Tod unvollendet blieb. Zwar enthalten die zahlreichen kritischen Editionen Angaben zur Entstehungsgeschichte und legen Entwürfe, „Paralipomena“ und Teildrucke vor. Doch eine historisch-kritische Ausgabe des Faust-Komplexes, die Goethes gesamten Schreibprozess im Detail nachvollzieht und erschließt, fehlte bislang.
Das ist angesichts der weltliterarischen Bedeutung des „Faust“ zwar erstaunlich, mit Blick auf den Umfang und die Komplexität eines solchen Unternehmens aber verständlich. In dem jahrzehntelangen Arbeitsprozess entstand eine große Zahl von Entwürfen unterschiedlicher Größe, von kurzen Skizzen zu Szenen und Versen bis hin zu Reinschriften und Druckvorlagen. Zudem gehören dazu auch Texte von fremder Hand, einschließlich der redaktionellen Arbeiten von Goethes Mitarbeitern wie Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter Eckermann. Die Manuskripte liegen zum großen Teil im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, das nicht weniger als 455 Faust-Handschriften auf rund 1800 Seiten beherbergt. Zahlreiche weitere Manuskripte – insgesamt 89 auf rund 600 Seiten – sind in Institutionen sowie in Privatbesitz weltweit verstreut.
Wie aber dieses umfangreiche, heterogene und verstreute Material zusammenführen und angemessen edieren, und zwar sowohl für ein wissenschaftliches als auch für ein allgemeines Publikum? Diese Frage haben sich die Literaturwissenschaftlerinnen und Editionsphilologinnen Anne Bohnenkamp, Leiterin des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main, und Silke Henke vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar gestellt, gemeinsam mit dem Computerphilologen Fotis Jannidis. In der Verbindung von analoger und digitaler Literaturwissenschaft finden sie die Antwort. Unter dem Titel „Faustedition“ legten sie eine mehrteilige „hybride“ Ausgabe vor, die teils digital, teils gedruckt vorliegt und erstmals alle Quellen enthält.
Seit den Neunzigerjahren wurden die Möglichkeiten digitaler Datenverarbeitung theoretisch wie praktisch sondiert, neuerdings wurden die Techniken digitaler Edition vor allem durch die Verlagerung ins Internet weiterentwickelt. So ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Editionen entstanden, die entweder als „hybrid“-Ausgaben sowohl digital im Internet als auch im Druck erscheinen, oder aber als Editions-„Portale“ ausschließlich im Internet angesiedelt sind. Darunter finden sich Projekte etwa zu Jane Austen, Samuel Beckett, Hermann Burger, Gustave Flaubert, Theodor Fontane, Karl Gutzkow, Ödön von Horvath, Herman Melville, Robert Musil, Friedrich Nietzsche, Jean Paul und Arthur Schnitzler. In der Schweiz fördert der Nationalfonds unter dem Motto „Edition neu denken“ gar eine eigene „nationale Infrastruktur“ für digitale Editionen, deren Leitung beim „Digital Humanities Lab“ der Universität Basel liegt (www.nie-ine.ch).
Die neue Faustedition ist auf einer eigenen Internetseite (www.faustedition.net) angesiedelt und leistet mit den Möglichkeiten digitaler Edition in der Hybridform, was in herkömmlichen Printeditionen kaum darstellbar wäre. Sie zeigt das gesamte relevante nachgelassene Handschriftenmaterial sowie sämtliche Drucke des „Faust“-Komplexes, Hunderte Handschriften, Dutzende Drucke, dazu weitere Dokumente wie Entstehungszeugnisse. Durch multimediale Darstellung und Verlinkung werden die zahlreichen Textteile durchsuchbar und verknüpfbar. Auf diese Weise entstehen drei editorische Bereiche: ein digitales Archiv der Handschriften und der zu Lebzeiten erschienenen relevanten Drucke, ein digitaler sowie gedruckter konstituierter Text der beiden Teile des „Faust“, sowie digitale Visualisierungen zur Genese des Werks.
Das digitale Archiv stellt die gesamte Überlieferung des „Faust“ in Form von hochaufgelösten Farbscans bereit. Hier findet man die historischen Drucke, darunter auch Einzel- und Journaldrucke sowie handschriftlich bearbeitete Korrekturexemplare und Revisionsbogen, aber auch alle bislang bekannten Äußerungen Goethes sowie Zeugnisse von Zeitgenossen zur Entstehung des „Faust“. Der zweite Teilbereich bringt die Konstitution eines neuen Textes auf der Grundlage des im Archiv versammelten Materials. Der Anspruch besteht hier darin, den „letzten autornahen Textzustand“ wiederzugeben. Als autornah verstehen die Herausgeberinnen einen Textzustand, „der unter direkter Mitwirkung und unmittelbarer Kontrolle des Autors entstanden ist“. Der so konstituierte Faust-Text findet sich sowohl online als auch in der Printausgabe. Im Unterschied zur Printausgabe sind in der digitalen Ausgabe die Varianten in den Handschriften und Drucken dadurch unmittelbar ersichtlich, dass die Zeilen des konstituierten Textes mit Graustufen unterlegt sind: je dunkler, desto mehr abweichende Fassungen existieren; diese werden per Mausklick in chronologischer Anordnung angezeigt.
Hinzu kommt im Online-Bereich die Visualisierung der Genese des „Faust“. Eine erste Grafik zeigt eine auf der Zeitachse angeordnete Gesamtübersicht der Werkteile, die im Einzelnen wiederum mit dem Bestand des Archivs, sowohl den Texten als auch den Entstehungszeugnissen, verlinkt sind. Dabei zeigen verschiedene Einfärbungen den Ausarbeitungsgrad an: grau zeigt Unabgeschlossenheit, schwarz Fertigstellung. So kann man die Bearbeitung der einzelnen Szenen von den Drucken über die Handschriften bis zu den Entwürfen nachverfolgen.
Wie dieses Textgefüge mit seiner Vervielfältigung von Zugängen, Pfaden und Verknüpfungen Goethes Arbeit am „Faust“ sichtbar macht, können zahlreiche Beispiele zeigen. Besonders weitreichend ist etwa die Walpurgisnacht-Szene im „Faust I“, deren kanonische Fassung seit dem Druck von 1808 – durch Goethes, dem allgemeinen Geschmack vorgreifende Selbstzensur – die anzüglichen sowie die auf das Satansritual bezogenen Stellen unterdrückt. In einzelnen Handschriften aber ist ausformuliert, was im Druck bestenfalls durch Auslassungszeichen angedeutet ist, so etwa in der Berliner Handschrift der Brocken-Szene. Wo im Druck sich die „Alte“ dem als „Junker Voland“ auftretenden Mephistopheles anbietet: „Ich biete meinen besten Gruß / Dem Ritter mit dem Pferdefuß! / Halt’ er einen – – bereit, / Wenn er – – – nicht scheut.“, da werden dort die Andeutungen ausgeschrieben: mit „einen rechten Pfropf bereit“ und „das grosse Loch nicht scheut“. Und während Goethe in der gedruckten Walpurgisnacht-Szene die Satansmesse auslässt und Satan selber nicht auftreten lässt, ist sie etwa in der Weimarer Handschrift HP50 ausformuliert, mit Satan als Protagonisten.
In medialer Hinsicht ist das Ganze ein höchst fruchtbares Wechselspiel von digitaler und analoger Edition. Wo der verlinkte digitale Text mit seinen verschlungenen Pfaden und der Vielstimmigkeit der Handschriften und Drucke die geschlossene und ganzheitliche Gestalt des Dramas verflüssigt, da gibt ihm die Printversion eine festere Gestalt zurück. Dieses Spannungsverhältnis wird durch ein zweites Print-Element verstärkt, den Faksimiledruck (einschließlich dokumentarischer Umschrift) der bislang unveröffentlichten großen Handschrift des zweiten Teils des „Faust“. Dabei handelt es sich um eine 386 Seiten umfassende Gesamthandschrift, die von Goethes Schreibern angefertigt und von ihm selbst bis kurz vor seinem Tod noch durchgesehen und mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen versehen wurde.
Zudem finden sich in der Handschrift auch Arbeitsspuren seiner Nachlassbearbeiter Eckermann und Riemer. Sie dokumentiert damit den Übergang von flüssiger Produktion in textuelle Verfestigung, wie Goethe am 1. Dezember 1831, knapp drei Monate vor seinem Tod, an Wilhelm von Humboldt schrieb: „Und nun musste ich mir ein Herz nehmen, das geheftete Exemplar, worin Gedrucktes und Ungedrucktes in einander geschoben sind, zu versiegeln, damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in Versuchung käme.“
Der Faksimiledruck der Handschrift, die sich natürlich auch auf der Faust-Plattform online findet, entfaltet nicht zuletzt durch das große Buchformat eine auratische Wirkung, wobei diese gerade nicht nur diejenige Goethes ist, sondern den Arbeitsprozess als prozessualen und kollektiven aufzeigt. Es war eine verlegerisch mutige und richtige Entscheidung, dieses Faksimile in das Projekt der Hybridedition mit aufzunehmen. Die Edition nutzt die Vorzüge und Stärken der beiden großen Medien, des alten Buchdrucks und der neuen digitalen Schreibtechniken, und lässt sie sich wechselseitig verstärken – statt sie gegeneinander auszuspielen.
Man könnte darin auch ein primäres Bestreben von Goethes Faust-Figur erkennen: Goethe stellt ihn vor als einen Schriftgelehrten, der in seinem Studierzimmer von Büchern umstellt ist, jedoch über das Buch hinaus nach einem umfassenden Wissen in einem visuellen Medium strebt, einem Medium jedoch, das seinerseits zeichenhaft ist und die Schrift wiederum inkorporiert. Goethe hat dieses mediale Szenario im Erstdruck „Faust. Ein Fragment“ (1790) in einem bemerkenswerten Kupfer visuell vorangestellt. Es handelt sich um eine nachgestochene Variation von Rembrandts „Der Alchemist“ – nach Goethe ist es Faust – durch den Zürcher Stecher Johann Heinrich Lips, den Goethe eigens dazu beauftrag hatte. Die Radierung findet sich selbstverständlich in der digitalen Faustedition. Sie zeigt – so Goethe – den humanistischen Büchergelehrten „Faust im Studierzimmer am Pult stehend, wie er ein am Fenster erscheinendes magisches Zeichen betrachtet.“ Die magische Spiegelschrift öffnet das konventionelle Bleisatzbuch hin zum umfassenden Bildlichen, fügt sich aber zugleich als lesbares Zeichen in die Welt der Schrift ein. Die Hybridisierung von Schrift und Bild bei Faust macht die wechselseitige Spiegelung von analoger und digitaler Darstellung so nicht als Konkurrenz oder Widerspruch, sondern als fruchtbare Koexistenz von technischen Möglichkeiten verständlich.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Konstituierter Text. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 Seiten, 39 Euro.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, 2018. Zwei Bände. 796 Seiten, 199 Euro.
Andreas Kilcher lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich.
Allein im Archiv in Weimar
liegen nicht weniger
als 455 Faust-Handschriften
„Und nun musste ich mir
ein Herz nehmen, das geheftete
Exemplar (…) zu versiegeln“
„Alchemist“ – Titelkupfer des Erstdrucks von „Faust. Ein Fragment“.
Foto: oh
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