Der »Faust« ist ein Meisterwerk der Weltliteratur, das diesen Namen verdient, da es noch immer voller Bezüge zur Gegenwart steckt. Schon zu Goethes Zeiten war der Faust-Stoff Jahrhunderte alt, ihn selbst hat er zeit seines Lebens beschäftigt. Das Ergebnis ist eine Tragödie von fulminanter Kraft, Suggestion und Komplexität. Im Mittelpunkt steht der Pakt mit dem Teufel. Der zentrale Konflikt rankt sich um die Frage nach der Wahrheit des Lebens. Zwischen Gelehrtenstube und ausschweifender Hingabe an den profanen Genuss will Goethes Faust erkennen, was die Welt »im Innersten zusammenhält«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2019„Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt“
In fast jeder Phase seines Lebens hat Goethe am „Faust“ gearbeitet – Die hybride Edition erschließt das gewaltige Material Von Andreas Kilcher
Goethes „Faust“ scheint uns in seiner Textgestalt bekannt und gesichert. Fraglos nehmen wir an, dass der erzkanonische Text des erzkanonischen Autors in verlässlicher und abgeschlossener Form vorliegt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Goethes „Faust“ durchaus nicht selbstverständlich gegeben und gefestigt ist. Das lässt sich schon daran erahnen, dass die Entstehungs- und Druckgeschichte des in zwei Teilen realisierten Dramas sich über sechs Jahrzehnte – von rund 1772 bis 1831 – hinzog und bei Goethes Tod unvollendet blieb. Zwar enthalten die zahlreichen kritischen Editionen Angaben zur Entstehungsgeschichte und legen Entwürfe, „Paralipomena“ und Teildrucke vor. Doch eine historisch-kritische Ausgabe des Faust-Komplexes, die Goethes gesamten Schreibprozess im Detail nachvollzieht und erschließt, fehlte bislang.
Das ist angesichts der weltliterarischen Bedeutung des „Faust“ zwar erstaunlich, mit Blick auf den Umfang und die Komplexität eines solchen Unternehmens aber verständlich. In dem jahrzehntelangen Arbeitsprozess entstand eine große Zahl von Entwürfen unterschiedlicher Größe, von kurzen Skizzen zu Szenen und Versen bis hin zu Reinschriften und Druckvorlagen. Zudem gehören dazu auch Texte von fremder Hand, einschließlich der redaktionellen Arbeiten von Goethes Mitarbeitern wie Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter Eckermann. Die Manuskripte liegen zum großen Teil im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, das nicht weniger als 455 Faust-Handschriften auf rund 1800 Seiten beherbergt. Zahlreiche weitere Manuskripte – insgesamt 89 auf rund 600 Seiten – sind in Institutionen sowie in Privatbesitz weltweit verstreut.
Wie aber dieses umfangreiche, heterogene und verstreute Material zusammenführen und angemessen edieren, und zwar sowohl für ein wissenschaftliches als auch für ein allgemeines Publikum? Diese Frage haben sich die Literaturwissenschaftlerinnen und Editionsphilologinnen Anne Bohnenkamp, Leiterin des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main, und Silke Henke vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar gestellt, gemeinsam mit dem Computerphilologen Fotis Jannidis. In der Verbindung von analoger und digitaler Literaturwissenschaft finden sie die Antwort. Unter dem Titel „Faustedition“ legten sie eine mehrteilige „hybride“ Ausgabe vor, die teils digital, teils gedruckt vorliegt und erstmals alle Quellen enthält.
Seit den Neunzigerjahren wurden die Möglichkeiten digitaler Datenverarbeitung theoretisch wie praktisch sondiert, neuerdings wurden die Techniken digitaler Edition vor allem durch die Verlagerung ins Internet weiterentwickelt. So ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Editionen entstanden, die entweder als „hybrid“-Ausgaben sowohl digital im Internet als auch im Druck erscheinen, oder aber als Editions-„Portale“ ausschließlich im Internet angesiedelt sind. Darunter finden sich Projekte etwa zu Jane Austen, Samuel Beckett, Hermann Burger, Gustave Flaubert, Theodor Fontane, Karl Gutzkow, Ödön von Horvath, Herman Melville, Robert Musil, Friedrich Nietzsche, Jean Paul und Arthur Schnitzler. In der Schweiz fördert der Nationalfonds unter dem Motto „Edition neu denken“ gar eine eigene „nationale Infrastruktur“ für digitale Editionen, deren Leitung beim „Digital Humanities Lab“ der Universität Basel liegt (www.nie-ine.ch).
Die neue Faustedition ist auf einer eigenen Internetseite (www.faustedition.net) angesiedelt und leistet mit den Möglichkeiten digitaler Edition in der Hybridform, was in herkömmlichen Printeditionen kaum darstellbar wäre. Sie zeigt das gesamte relevante nachgelassene Handschriftenmaterial sowie sämtliche Drucke des „Faust“-Komplexes, Hunderte Handschriften, Dutzende Drucke, dazu weitere Dokumente wie Entstehungszeugnisse. Durch multimediale Darstellung und Verlinkung werden die zahlreichen Textteile durchsuchbar und verknüpfbar. Auf diese Weise entstehen drei editorische Bereiche: ein digitales Archiv der Handschriften und der zu Lebzeiten erschienenen relevanten Drucke, ein digitaler sowie gedruckter konstituierter Text der beiden Teile des „Faust“, sowie digitale Visualisierungen zur Genese des Werks.
Das digitale Archiv stellt die gesamte Überlieferung des „Faust“ in Form von hochaufgelösten Farbscans bereit. Hier findet man die historischen Drucke, darunter auch Einzel- und Journaldrucke sowie handschriftlich bearbeitete Korrekturexemplare und Revisionsbogen, aber auch alle bislang bekannten Äußerungen Goethes sowie Zeugnisse von Zeitgenossen zur Entstehung des „Faust“. Der zweite Teilbereich bringt die Konstitution eines neuen Textes auf der Grundlage des im Archiv versammelten Materials. Der Anspruch besteht hier darin, den „letzten autornahen Textzustand“ wiederzugeben. Als autornah verstehen die Herausgeberinnen einen Textzustand, „der unter direkter Mitwirkung und unmittelbarer Kontrolle des Autors entstanden ist“. Der so konstituierte Faust-Text findet sich sowohl online als auch in der Printausgabe. Im Unterschied zur Printausgabe sind in der digitalen Ausgabe die Varianten in den Handschriften und Drucken dadurch unmittelbar ersichtlich, dass die Zeilen des konstituierten Textes mit Graustufen unterlegt sind: je dunkler, desto mehr abweichende Fassungen existieren; diese werden per Mausklick in chronologischer Anordnung angezeigt.
Hinzu kommt im Online-Bereich die Visualisierung der Genese des „Faust“. Eine erste Grafik zeigt eine auf der Zeitachse angeordnete Gesamtübersicht der Werkteile, die im Einzelnen wiederum mit dem Bestand des Archivs, sowohl den Texten als auch den Entstehungszeugnissen, verlinkt sind. Dabei zeigen verschiedene Einfärbungen den Ausarbeitungsgrad an: grau zeigt Unabgeschlossenheit, schwarz Fertigstellung. So kann man die Bearbeitung der einzelnen Szenen von den Drucken über die Handschriften bis zu den Entwürfen nachverfolgen.
Wie dieses Textgefüge mit seiner Vervielfältigung von Zugängen, Pfaden und Verknüpfungen Goethes Arbeit am „Faust“ sichtbar macht, können zahlreiche Beispiele zeigen. Besonders weitreichend ist etwa die Walpurgisnacht-Szene im „Faust I“, deren kanonische Fassung seit dem Druck von 1808 – durch Goethes, dem allgemeinen Geschmack vorgreifende Selbstzensur – die anzüglichen sowie die auf das Satansritual bezogenen Stellen unterdrückt. In einzelnen Handschriften aber ist ausformuliert, was im Druck bestenfalls durch Auslassungszeichen angedeutet ist, so etwa in der Berliner Handschrift der Brocken-Szene. Wo im Druck sich die „Alte“ dem als „Junker Voland“ auftretenden Mephistopheles anbietet: „Ich biete meinen besten Gruß / Dem Ritter mit dem Pferdefuß! / Halt’ er einen – – bereit, / Wenn er – – – nicht scheut.“, da werden dort die Andeutungen ausgeschrieben: mit „einen rechten Pfropf bereit“ und „das grosse Loch nicht scheut“. Und während Goethe in der gedruckten Walpurgisnacht-Szene die Satansmesse auslässt und Satan selber nicht auftreten lässt, ist sie etwa in der Weimarer Handschrift HP50 ausformuliert, mit Satan als Protagonisten.
In medialer Hinsicht ist das Ganze ein höchst fruchtbares Wechselspiel von digitaler und analoger Edition. Wo der verlinkte digitale Text mit seinen verschlungenen Pfaden und der Vielstimmigkeit der Handschriften und Drucke die geschlossene und ganzheitliche Gestalt des Dramas verflüssigt, da gibt ihm die Printversion eine festere Gestalt zurück. Dieses Spannungsverhältnis wird durch ein zweites Print-Element verstärkt, den Faksimiledruck (einschließlich dokumentarischer Umschrift) der bislang unveröffentlichten großen Handschrift des zweiten Teils des „Faust“. Dabei handelt es sich um eine 386 Seiten umfassende Gesamthandschrift, die von Goethes Schreibern angefertigt und von ihm selbst bis kurz vor seinem Tod noch durchgesehen und mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen versehen wurde.
Zudem finden sich in der Handschrift auch Arbeitsspuren seiner Nachlassbearbeiter Eckermann und Riemer. Sie dokumentiert damit den Übergang von flüssiger Produktion in textuelle Verfestigung, wie Goethe am 1. Dezember 1831, knapp drei Monate vor seinem Tod, an Wilhelm von Humboldt schrieb: „Und nun musste ich mir ein Herz nehmen, das geheftete Exemplar, worin Gedrucktes und Ungedrucktes in einander geschoben sind, zu versiegeln, damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in Versuchung käme.“
Der Faksimiledruck der Handschrift, die sich natürlich auch auf der Faust-Plattform online findet, entfaltet nicht zuletzt durch das große Buchformat eine auratische Wirkung, wobei diese gerade nicht nur diejenige Goethes ist, sondern den Arbeitsprozess als prozessualen und kollektiven aufzeigt. Es war eine verlegerisch mutige und richtige Entscheidung, dieses Faksimile in das Projekt der Hybridedition mit aufzunehmen. Die Edition nutzt die Vorzüge und Stärken der beiden großen Medien, des alten Buchdrucks und der neuen digitalen Schreibtechniken, und lässt sie sich wechselseitig verstärken – statt sie gegeneinander auszuspielen.
Man könnte darin auch ein primäres Bestreben von Goethes Faust-Figur erkennen: Goethe stellt ihn vor als einen Schriftgelehrten, der in seinem Studierzimmer von Büchern umstellt ist, jedoch über das Buch hinaus nach einem umfassenden Wissen in einem visuellen Medium strebt, einem Medium jedoch, das seinerseits zeichenhaft ist und die Schrift wiederum inkorporiert. Goethe hat dieses mediale Szenario im Erstdruck „Faust. Ein Fragment“ (1790) in einem bemerkenswerten Kupfer visuell vorangestellt. Es handelt sich um eine nachgestochene Variation von Rembrandts „Der Alchemist“ – nach Goethe ist es Faust – durch den Zürcher Stecher Johann Heinrich Lips, den Goethe eigens dazu beauftrag hatte. Die Radierung findet sich selbstverständlich in der digitalen Faustedition. Sie zeigt – so Goethe – den humanistischen Büchergelehrten „Faust im Studierzimmer am Pult stehend, wie er ein am Fenster erscheinendes magisches Zeichen betrachtet.“ Die magische Spiegelschrift öffnet das konventionelle Bleisatzbuch hin zum umfassenden Bildlichen, fügt sich aber zugleich als lesbares Zeichen in die Welt der Schrift ein. Die Hybridisierung von Schrift und Bild bei Faust macht die wechselseitige Spiegelung von analoger und digitaler Darstellung so nicht als Konkurrenz oder Widerspruch, sondern als fruchtbare Koexistenz von technischen Möglichkeiten verständlich.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Konstituierter Text. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 Seiten, 39 Euro.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, 2018. Zwei Bände. 796 Seiten, 199 Euro.
Andreas Kilcher lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich.
Allein im Archiv in Weimar
liegen nicht weniger
als 455 Faust-Handschriften
„Und nun musste ich mir
ein Herz nehmen, das geheftete
Exemplar (…) zu versiegeln“
„Alchemist“ – Titelkupfer des Erstdrucks von „Faust. Ein Fragment“.
Foto: oh
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In fast jeder Phase seines Lebens hat Goethe am „Faust“ gearbeitet – Die hybride Edition erschließt das gewaltige Material Von Andreas Kilcher
Goethes „Faust“ scheint uns in seiner Textgestalt bekannt und gesichert. Fraglos nehmen wir an, dass der erzkanonische Text des erzkanonischen Autors in verlässlicher und abgeschlossener Form vorliegt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Goethes „Faust“ durchaus nicht selbstverständlich gegeben und gefestigt ist. Das lässt sich schon daran erahnen, dass die Entstehungs- und Druckgeschichte des in zwei Teilen realisierten Dramas sich über sechs Jahrzehnte – von rund 1772 bis 1831 – hinzog und bei Goethes Tod unvollendet blieb. Zwar enthalten die zahlreichen kritischen Editionen Angaben zur Entstehungsgeschichte und legen Entwürfe, „Paralipomena“ und Teildrucke vor. Doch eine historisch-kritische Ausgabe des Faust-Komplexes, die Goethes gesamten Schreibprozess im Detail nachvollzieht und erschließt, fehlte bislang.
Das ist angesichts der weltliterarischen Bedeutung des „Faust“ zwar erstaunlich, mit Blick auf den Umfang und die Komplexität eines solchen Unternehmens aber verständlich. In dem jahrzehntelangen Arbeitsprozess entstand eine große Zahl von Entwürfen unterschiedlicher Größe, von kurzen Skizzen zu Szenen und Versen bis hin zu Reinschriften und Druckvorlagen. Zudem gehören dazu auch Texte von fremder Hand, einschließlich der redaktionellen Arbeiten von Goethes Mitarbeitern wie Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter Eckermann. Die Manuskripte liegen zum großen Teil im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, das nicht weniger als 455 Faust-Handschriften auf rund 1800 Seiten beherbergt. Zahlreiche weitere Manuskripte – insgesamt 89 auf rund 600 Seiten – sind in Institutionen sowie in Privatbesitz weltweit verstreut.
Wie aber dieses umfangreiche, heterogene und verstreute Material zusammenführen und angemessen edieren, und zwar sowohl für ein wissenschaftliches als auch für ein allgemeines Publikum? Diese Frage haben sich die Literaturwissenschaftlerinnen und Editionsphilologinnen Anne Bohnenkamp, Leiterin des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main, und Silke Henke vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar gestellt, gemeinsam mit dem Computerphilologen Fotis Jannidis. In der Verbindung von analoger und digitaler Literaturwissenschaft finden sie die Antwort. Unter dem Titel „Faustedition“ legten sie eine mehrteilige „hybride“ Ausgabe vor, die teils digital, teils gedruckt vorliegt und erstmals alle Quellen enthält.
Seit den Neunzigerjahren wurden die Möglichkeiten digitaler Datenverarbeitung theoretisch wie praktisch sondiert, neuerdings wurden die Techniken digitaler Edition vor allem durch die Verlagerung ins Internet weiterentwickelt. So ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Editionen entstanden, die entweder als „hybrid“-Ausgaben sowohl digital im Internet als auch im Druck erscheinen, oder aber als Editions-„Portale“ ausschließlich im Internet angesiedelt sind. Darunter finden sich Projekte etwa zu Jane Austen, Samuel Beckett, Hermann Burger, Gustave Flaubert, Theodor Fontane, Karl Gutzkow, Ödön von Horvath, Herman Melville, Robert Musil, Friedrich Nietzsche, Jean Paul und Arthur Schnitzler. In der Schweiz fördert der Nationalfonds unter dem Motto „Edition neu denken“ gar eine eigene „nationale Infrastruktur“ für digitale Editionen, deren Leitung beim „Digital Humanities Lab“ der Universität Basel liegt (www.nie-ine.ch).
Die neue Faustedition ist auf einer eigenen Internetseite (www.faustedition.net) angesiedelt und leistet mit den Möglichkeiten digitaler Edition in der Hybridform, was in herkömmlichen Printeditionen kaum darstellbar wäre. Sie zeigt das gesamte relevante nachgelassene Handschriftenmaterial sowie sämtliche Drucke des „Faust“-Komplexes, Hunderte Handschriften, Dutzende Drucke, dazu weitere Dokumente wie Entstehungszeugnisse. Durch multimediale Darstellung und Verlinkung werden die zahlreichen Textteile durchsuchbar und verknüpfbar. Auf diese Weise entstehen drei editorische Bereiche: ein digitales Archiv der Handschriften und der zu Lebzeiten erschienenen relevanten Drucke, ein digitaler sowie gedruckter konstituierter Text der beiden Teile des „Faust“, sowie digitale Visualisierungen zur Genese des Werks.
Das digitale Archiv stellt die gesamte Überlieferung des „Faust“ in Form von hochaufgelösten Farbscans bereit. Hier findet man die historischen Drucke, darunter auch Einzel- und Journaldrucke sowie handschriftlich bearbeitete Korrekturexemplare und Revisionsbogen, aber auch alle bislang bekannten Äußerungen Goethes sowie Zeugnisse von Zeitgenossen zur Entstehung des „Faust“. Der zweite Teilbereich bringt die Konstitution eines neuen Textes auf der Grundlage des im Archiv versammelten Materials. Der Anspruch besteht hier darin, den „letzten autornahen Textzustand“ wiederzugeben. Als autornah verstehen die Herausgeberinnen einen Textzustand, „der unter direkter Mitwirkung und unmittelbarer Kontrolle des Autors entstanden ist“. Der so konstituierte Faust-Text findet sich sowohl online als auch in der Printausgabe. Im Unterschied zur Printausgabe sind in der digitalen Ausgabe die Varianten in den Handschriften und Drucken dadurch unmittelbar ersichtlich, dass die Zeilen des konstituierten Textes mit Graustufen unterlegt sind: je dunkler, desto mehr abweichende Fassungen existieren; diese werden per Mausklick in chronologischer Anordnung angezeigt.
Hinzu kommt im Online-Bereich die Visualisierung der Genese des „Faust“. Eine erste Grafik zeigt eine auf der Zeitachse angeordnete Gesamtübersicht der Werkteile, die im Einzelnen wiederum mit dem Bestand des Archivs, sowohl den Texten als auch den Entstehungszeugnissen, verlinkt sind. Dabei zeigen verschiedene Einfärbungen den Ausarbeitungsgrad an: grau zeigt Unabgeschlossenheit, schwarz Fertigstellung. So kann man die Bearbeitung der einzelnen Szenen von den Drucken über die Handschriften bis zu den Entwürfen nachverfolgen.
Wie dieses Textgefüge mit seiner Vervielfältigung von Zugängen, Pfaden und Verknüpfungen Goethes Arbeit am „Faust“ sichtbar macht, können zahlreiche Beispiele zeigen. Besonders weitreichend ist etwa die Walpurgisnacht-Szene im „Faust I“, deren kanonische Fassung seit dem Druck von 1808 – durch Goethes, dem allgemeinen Geschmack vorgreifende Selbstzensur – die anzüglichen sowie die auf das Satansritual bezogenen Stellen unterdrückt. In einzelnen Handschriften aber ist ausformuliert, was im Druck bestenfalls durch Auslassungszeichen angedeutet ist, so etwa in der Berliner Handschrift der Brocken-Szene. Wo im Druck sich die „Alte“ dem als „Junker Voland“ auftretenden Mephistopheles anbietet: „Ich biete meinen besten Gruß / Dem Ritter mit dem Pferdefuß! / Halt’ er einen – – bereit, / Wenn er – – – nicht scheut.“, da werden dort die Andeutungen ausgeschrieben: mit „einen rechten Pfropf bereit“ und „das grosse Loch nicht scheut“. Und während Goethe in der gedruckten Walpurgisnacht-Szene die Satansmesse auslässt und Satan selber nicht auftreten lässt, ist sie etwa in der Weimarer Handschrift HP50 ausformuliert, mit Satan als Protagonisten.
In medialer Hinsicht ist das Ganze ein höchst fruchtbares Wechselspiel von digitaler und analoger Edition. Wo der verlinkte digitale Text mit seinen verschlungenen Pfaden und der Vielstimmigkeit der Handschriften und Drucke die geschlossene und ganzheitliche Gestalt des Dramas verflüssigt, da gibt ihm die Printversion eine festere Gestalt zurück. Dieses Spannungsverhältnis wird durch ein zweites Print-Element verstärkt, den Faksimiledruck (einschließlich dokumentarischer Umschrift) der bislang unveröffentlichten großen Handschrift des zweiten Teils des „Faust“. Dabei handelt es sich um eine 386 Seiten umfassende Gesamthandschrift, die von Goethes Schreibern angefertigt und von ihm selbst bis kurz vor seinem Tod noch durchgesehen und mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen versehen wurde.
Zudem finden sich in der Handschrift auch Arbeitsspuren seiner Nachlassbearbeiter Eckermann und Riemer. Sie dokumentiert damit den Übergang von flüssiger Produktion in textuelle Verfestigung, wie Goethe am 1. Dezember 1831, knapp drei Monate vor seinem Tod, an Wilhelm von Humboldt schrieb: „Und nun musste ich mir ein Herz nehmen, das geheftete Exemplar, worin Gedrucktes und Ungedrucktes in einander geschoben sind, zu versiegeln, damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in Versuchung käme.“
Der Faksimiledruck der Handschrift, die sich natürlich auch auf der Faust-Plattform online findet, entfaltet nicht zuletzt durch das große Buchformat eine auratische Wirkung, wobei diese gerade nicht nur diejenige Goethes ist, sondern den Arbeitsprozess als prozessualen und kollektiven aufzeigt. Es war eine verlegerisch mutige und richtige Entscheidung, dieses Faksimile in das Projekt der Hybridedition mit aufzunehmen. Die Edition nutzt die Vorzüge und Stärken der beiden großen Medien, des alten Buchdrucks und der neuen digitalen Schreibtechniken, und lässt sie sich wechselseitig verstärken – statt sie gegeneinander auszuspielen.
Man könnte darin auch ein primäres Bestreben von Goethes Faust-Figur erkennen: Goethe stellt ihn vor als einen Schriftgelehrten, der in seinem Studierzimmer von Büchern umstellt ist, jedoch über das Buch hinaus nach einem umfassenden Wissen in einem visuellen Medium strebt, einem Medium jedoch, das seinerseits zeichenhaft ist und die Schrift wiederum inkorporiert. Goethe hat dieses mediale Szenario im Erstdruck „Faust. Ein Fragment“ (1790) in einem bemerkenswerten Kupfer visuell vorangestellt. Es handelt sich um eine nachgestochene Variation von Rembrandts „Der Alchemist“ – nach Goethe ist es Faust – durch den Zürcher Stecher Johann Heinrich Lips, den Goethe eigens dazu beauftrag hatte. Die Radierung findet sich selbstverständlich in der digitalen Faustedition. Sie zeigt – so Goethe – den humanistischen Büchergelehrten „Faust im Studierzimmer am Pult stehend, wie er ein am Fenster erscheinendes magisches Zeichen betrachtet.“ Die magische Spiegelschrift öffnet das konventionelle Bleisatzbuch hin zum umfassenden Bildlichen, fügt sich aber zugleich als lesbares Zeichen in die Welt der Schrift ein. Die Hybridisierung von Schrift und Bild bei Faust macht die wechselseitige Spiegelung von analoger und digitaler Darstellung so nicht als Konkurrenz oder Widerspruch, sondern als fruchtbare Koexistenz von technischen Möglichkeiten verständlich.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Konstituierter Text. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 Seiten, 39 Euro.
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis. Wallstein Verlag, 2018. Zwei Bände. 796 Seiten, 199 Euro.
Andreas Kilcher lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich.
Allein im Archiv in Weimar
liegen nicht weniger
als 455 Faust-Handschriften
„Und nun musste ich mir
ein Herz nehmen, das geheftete
Exemplar (…) zu versiegeln“
„Alchemist“ – Titelkupfer des Erstdrucks von „Faust. Ein Fragment“.
Foto: oh
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