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Als zerrissener Denker und gewissenlos Liebender ist Goethes Faust ein Begriff. Doch nur wenigen ist bewußt, welche vielfältigen Rollen der Gelehrte im zweiten Teil der Tragödie ausprobiert. In seiner Karriere vom Poeten über den Staatsmann und Feldherrn bis hin zum Großunternehmer durchschreitet Faust und sein Alter ego Mephisto verschiendenste geschichtliche Räume und Zeiten - am Ende macht sich Faust die Machtmittel der technischen Moderne zu eigen und geht in seiner Gewinnsucht über Leichen.

Produktbeschreibung
Als zerrissener Denker und gewissenlos Liebender ist Goethes Faust ein Begriff. Doch nur wenigen ist bewußt, welche vielfältigen Rollen der Gelehrte im zweiten Teil der Tragödie ausprobiert. In seiner Karriere vom Poeten über den Staatsmann und Feldherrn bis hin zum Großunternehmer durchschreitet Faust und sein Alter ego Mephisto verschiendenste geschichtliche Räume und Zeiten - am Ende macht sich Faust die Machtmittel der technischen Moderne zu eigen und geht in seiner Gewinnsucht über Leichen.
Autorenporträt
Oskar Negt, geboren 1934, studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Soziologie, vor allem bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, und war Assistent bei Jürgen Habermas. Seit 1970 ist er Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen. 2011 wurde Oskar Negt mit dem "August-Bebel-Preis" für sein Lebenswerk gewürdigt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2006

Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Umschulungsmaßnahme
Aus Plus wird Minus, das aber in der Potenz: Der Soziologe Oskar Negt erlaubt es sich, Goethes „Faust” neu zu deuten
Wenn das Leben sich als ein gelungenes rundet, dann ist das Alter die Zeit, in dem man sich Jugendwünsche erfüllt. Oskar Negt, Soziologe und Weggefährte Alexander Kluges, nunmehr 72 Jahre alt, hat es sich gestattet, die Grenzen seines Faches zu überschreiten, und, was er schon immer wollte, ein Buch über Goethes „Faust” zu schreiben. Denn der, so bemerkt er einigermaßen süffisant, sei zu wichtig, um ihn den Germanisten zu überlassen.
Der Faust ist zweifellos ein großes Buch, möglicherweise das größte der deutschen Literatur; aber diese Größe ist auch ein Hemmnis gewesen und hat, wie Negt Brecht zitiert, zur „Einschüchterung durch Klassizität” geführt. Er will dieses Doppelbuch aus dem Kerker befreien, in den es die Ehrfurcht gesperrt hat. Dabei geht es ihm vor allem um den Charakter des Protagonisten (dass dieser „faustisch” sei, gibt ja kaum mehr her als eine Tautologie). Negt sieht hier statt eines titanischen Plus ein interessantes Minus am Werk; aber auch nicht schlechthin den faschistischen Charakter, wie es etwa dem Faust-Darsteller Will Quadflieg erschien, sondern, weiter und tiefer gefasst, das seelische Äquivalent des in Gewaltakten revolutionär voranspringenden Kapitalismus.
Negt, heißt das, will den Faust aktualisierend lesen. Er will ihm im selben Akt aus der historischen Versenkung holen, mit dem er uns, den Heutigen, zum Erlebnis der zeitlichen Tiefendimension verhilft. Sein besonderes Augenmerk gilt dem Zweiten Teil, der so oft einen kaum durch Respekt bezähmten Unmut geweckt hat. „Hätte er (Goethe) doch nur einen zweiten ersten Teil geschrieben!” fasst Negt diese Beschwerden spöttisch zusammen. Dem vielerörterten Schlusssatz „Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen” wird die Neigung zur harmonisierenden Grandiosität ausgetrieben: „Das ist doch im Augenblick die magisch aufgeladene Beschwörungssprache der Arbeitsagenturen.”
Patchwork-Erwerbsbiographie
Aber Negt macht sich von hier aus nicht, in guter linker Tradition, an die ideologische Entlarvung des ollen Goethe. Nicht die Eng-, sondern die Weiterführung des Texts hat er im Sinn und liest ihn kühn, genau und zuversichtlich wie ein Christ die Bibel, in der Gewissheit, dass die Schrift ihn nicht im Stich lassen wird. Da bereitet auch der anscheinende Mangel an Zusammenhang, der dem „Faust II” gern vorgeworfen wird, kein Kopfzerbrechen; das Episodische daran, die Reihe von Fausts verschiedenen Berufen als Gelehrter, Feldherr, Bankier, Griechenlandsucher und Bauunternehmer vergleicht Negt einer Serie verordneter Umschulungsmaßnahmen. Faust habe keine „Biographie” aufzuweisen? Genau dies sei es, was dem Mehrfach-Umschüler widerfährt und das Leben als erfahrbar Ganzes zersetzt. Faust, die rastlose, unglückliche, offenkundig tief gestörte Figur: Negt erblickt in ihm die hellsichtig frühe, vollgültige Ausprägung des „homo oeconomicus”, der sich nicht selbst als Zweck begreift, sondern sein Dasein in den Koffeinräuschen der Selbstverwertung verpulvert.
Die zeitenüberpannende Bedeutung des Buchs steht für Negt jenseits der Frage, ob es sich nun um ein ge- oder missglücktes Alterswerk handle. Stattdessen erkennt er dem Zweiten Teil die Qualität von Geschichte überhaupt zu, eine „gewaltige Baustelle” zu sein, in der das je Jüngste und das Vormalige in ständigen unübersehbaren Räumaktionen durcheinandergeschoben werden. Negt spricht davon, Goethe habe mit dem Versiegeln seines Werks „kokettiert”. Das ist nicht als Tadel zu verstehen. Angesichts seines hohen Alters und baldigen Todes muss Goethe in irgendeiner Weise den Abschluss setzen; an diesem Abschluss haftet das Notwendige wie das Kontingente aller Gegenwart, die, als das jeweils Letzte und jetzt Vorhandene, nicht überstiegen werden kann und es doch bald wird. Darum ist Negt bereit, das „Wer immer strebend sich bemüht . . . ” als eine Art präziser Notlösung zu ehren.
Negt holt in diesem gedankenreichen Buch manchmal sehr weit aus, er führt Sophokles, Freud, Hegel, Max Weber an, vor allem aber Kant, er erläutert seine Missbilligung für das Diktum Albert Camus’, man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, und er geht der Doppelgeschichte Weimar-Buchenwald nicht aus dem Weg. Sein besonderes Interesse gilt, kaum überraschend, dem letzten Akt, dem riesigen Landgewinnungsvorhaben, über dem Faust stirbt. Schon die Kapitel-Überschriften üben eine erhellende Wirkung aus: „Vom machtgeschützen Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft”, hier werden der vertrauensselige Philemon und die argwöhnische Baucis, Lynkeus der Türmer und der erblindete Faust in ihrem Kontrast gedeutet. „Die für dramatische Zwecke auseinandergelegte Einheit: Faust und Mephisto”, die sich verhielten wie der Citoyen und der Bourgeois, welche gleichfalls nicht zusammen-, aber eben auch nicht voneinander loskommen. Immer jedoch hält sich Negt an den Wortlaut, dem er die zeitgenössische Dringlichkeit entbindet.
Darin gleicht sein Projekt, bei allen Differenzen des Temperaments, einem anderen, vor nunmehr siebzig Jahre entstandenen Buch: der „Dritten Walpurgisnacht”, dem letzten großen Werk von Karl Kraus. Kraus war daran verzweifelt, dem deutschen Faschismus noch ein eigenes Wort entgegenstellen zu können. So hatte er seine Zuflucht zum Zweiten Teil des Faust genommen, zum Krieg der Kraniche beispielsweise, der schönen „Reihenwanderer des Meeres”, gegen die Pygmäen; Verse, die bislang irgendwo in den Tiefen des Buchs geschlummert hatten, weckte er und heftete sie als Devise ans Banner des Widerstands. „Keiner schone Gut und Blut, / Ewge Feindschaft dieser Brut!”
Dieser Heiterkeit, die er selbst in sich nicht mehr finden konnte, bedurfte Kraus, und sein Bedürfnis verschaffte dem alten Buch neues Leben. So auch, auf diese einzig fruchtbare Weise, liest Negt den Faust – bei allem Ernst gelassener zwar, doch mit demselben Gefühl, das sich wohl bevorzugt gegen Ende eines langen produktiven Lebens ergibt: dass es uns durchaus nicht erlassen werden kann, unsere Tradition selbst herzustellen, und dass sie uns genauso braucht wie wir sie. BURKHARD MÜLLER
OSKAR NEGT: Die Faust-Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer. Steidl verlag, Göttingen 2006, 301 S., 16,80 Euro.
Oskar Negt Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Faust - eine kapitalistische Verbrecherkarriere
Keine Dialektik, nirgends: Oskar Negt nimmt sein Menschenrecht auf Goethe wahr / Von Hans-Jürgen Schings

Kann man sich Faust auch als KZ-Kommandanten vorstellen? Oskar Negt kann und hält dem skrupellosen Kapitalakkumulator und "Baumeister des Totalitären" mitleidlos ein reichhaltiges Sündenregister vor.

Ich bearbeite Goethes ,Faust'." Das bekommt der Deutschlehrer zu hören, der seinen fünfzehnjährigen Schüler beim Herummalen in einer Faust-Taschenausgabe beobachtet. Der kecke Spruch hat auch heute noch seine Richtigkeit, wenn Oskar Negt sich einen Jugendtraum in Gestalt eines eigensinnigen "Faust"-Buchs erfüllt. Hübsch sind die Schulgeschichten, mit denen er gewissermaßen sein Menschenrecht auf Goethe herleitet - wie der Junge aus dem bäuerlichen Milieu gegen Naturalien nach und nach an eine über vierzigbändige Gesamtausgabe Goethes herankommt und sie verschlingt, wie er dann an der Oldenburger Hindenburgschule durch verblüffende Kenntnisse der "Farbenlehre" einen rauhen Mathematiklehrer für sich einnimmt und zu schulischem Ruhm gelangt.

Mühsam erobert und deshalb fest im Leben sitzend, soll die Parole "Mein Goethe" vor allem eine ganz besondere Art von Störenfrieden auf Abstand halten, die "Germanisten", wozu gleich auch schon jene Zeitgenossen zählen, derentwegen Goethe das "Faust"-Manuskript versiegelte. Gelten läßt Negt immerhin einen Hannoveraner Kollegen sowie Erich Trunz (dessen Kommentar allerdings schon 1949 und nicht erst 1986 zuerst erscheint) und, Gott sei Dank, Albrecht Schöne (dessen Kommentar seit 1994 freilich mehrfach überarbeitet wurde). Ebenso unwirsch wie eigensinnig betreibt Negt sonst jedoch Erkenntnisverweigerung auch gegenüber Arbeiten, die ihn nicht langweilen sollten, die, von Gottlieb Schuchards Abhandlung zu Juli-Revolution und Saint-Simonismus (1935) bis Michael Jaegers "Fausts Kolonie" (zweite Auflage 2005), historische Bezugsfelder ins Auge fassen, auf die sich der zweite "Faust" einläßt. Goethe "hantiere" mit "historischen Materialien", heißt es hingegen salopp und ohne nähere Interessen bei Negt.

Womöglich noch erstaunlicher als die weitgehende literaturwissenschaftlich-germanistische Abstinenz ist das Schweigen über den Ort, den Negts Buch in der Geschichte der marxistischen "Faust"-Auslegung einnimmt. Kein Wort über Georg Lukács' "Faust-Studien", obwohl die noch immer Pate stehen, keines über Gerhard Scholz' "Faust-Gespräche". Und da wäre es doch erst richtig spannend geworden. Denn im schroffen Unterschied zu solchen Marx-Schülern gibt Negt den Faust und dessen fortschrittliche Potentiale mehr oder weniger umstandslos preis. Und das ist in diesem Kontext keine Kleinigkeit.

Wohl beteuert auch Negt, er halte sich an die "absolute philosophische Tragödie", die schon die "Jenaische Weisheit" (so der Historiker Luden zu Goethe) und Hegel im "Faust" erblicken wollten. Doch führt diese Rede diesmal nicht, auf welchen Umwegen auch immer, den jäh zum Repräsentanten der Menschengattung aufgestiegenen Faust in utopische Gefilde oder doch deren Vorschein. Denn nicht länger gibt es ein metaphysisches oder geschichtsphilosophisches Schema, das Negts Faust vor dem Verhängnis schützen könnte, das seine "Karriere" steuert. Es heißt Geist des Kapitalismus, zehrt von Mandeville und Marx, Max Weber und Schumpeter und hält Faust fest im Griff, vom "Prolog im Himmel" bis zum irdischen Finale des Großunternehmers. Das himmlische Finale, "Bergschluchten", kommt bei Negt nicht vor, wie er denn auch sonst vieles, ja beinahe alles (beispielsweise Gretchen und Helena) übergeht, um ungestört ausgewählte Partien im vierten und fünften Akt von "Faust II" zur Geltung bringen zu können.

So muß man hören, daß Tätigkeit und Streben schlichtweg für kapitalistisch-unternehmerische Dynamik stehen; daß der "Herr", der "im Herrschaftsgepränge eines Feudalherren auftretende Bürger-Gott", von Anfang an die Zeichen aufs Unternehmerische stellt; daß die Wette in Wahrheit "eine Art calvinistisch geprägter Dienstvertrag" ist; daß sich Faust mit der Forderung nach "Herrschaft" und "Eigentum" fürs Unternehmertum entscheidet; daß mithin alle seine Neben- und Umwege, seine Rollen als "Staatsmann, Kriegsherr, Dichter, Allegorieproduzent", "vielfältige Prüfstationen" darstellen mit dem Ziel, "innerweltliche Askese" hervorzubringen und damit die "Berufsqualifikation als Unternehmer". Aufs Unternehmerische jedenfalls läuft alles hinaus, und schon dies von Grund auf garstige Wort macht Faust den ideologischen Garaus.

Da hilft auch keine Trauer über seine letzte Rede - "wunderbare und eindringliche Worte, die jeden Menschen mit visionärem Blick und der überschüssigen Kraft für Gesellschaftsutopien erfreuen müssen". Trifft doch diese Rede doppelt ins Leere. Denn sie hat, so Negt, keine "kritische Öffentlichkeit" (wie immer das sein könnte), und sie steht in krassem Widerspruch zur Verbrecherkarriere Fausts. Keine Dialektik, nirgends, statt dessen ein Sündenregister von durchschlagender Aktualität: keine Verantwortung, keine "lernende Reifung", Kälte und Gewalt, wie das bei der "ursprünglichen Akkumulation" des Kapitals üblich ist. Kommt hinzu der skurrile Vorhalt, der Großunternehmer Faust habe seine Nachfolge nicht geregelt. Daran hat wohl noch keiner der neueren Faust-Destrukteure gedacht. Deutlich überboten werden sie auch durch die Schärfe, mit der Negt im Zeichen der nachbarlichen Doppelung Weimar-Buchenwald den Vorwurf des Totalitarismus in Stellung bringt: Faust sei nicht nur ein "Baumeister des Totalitären", sondern verdiene auch die "fixe Idee", daß er "ein Konzentrationslager aufbaut": "Kann man sich Faust als KZ-Kommandanten vorstellen? Ich glaube, ja."

Fragt sich nur, ob man das muß, ob, mit anderen Worten, jeder schnelle Einfall und jede fixe Idee gleich auch alle kritischen Kontrollen passieren darf. Doch Negt hat schon zu Beginn vorgesorgt. Die "Faust"-Philologie (freilich nur die "im engeren Sinn") werde keinen Gewinn aus seinen Erörterungen verbuchen. Dem ist nicht zu widersprechen. "So ist in diesen Tagen mahnende und erinnernde Reflexion nötig" - Negts Diskurs ist in Regionen angesiedelt, wo jenseits der Wissenschaft sozial-philosophische Rhetorik regiert.

Oskar Negt: "Die Faust-Karriere". Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer. Steidl Verlag, Göttingen 2006. 304 S., geb., 16,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Faust als kapitalistischer Verbrecher, Faust als KZ-Kommandant. Für Hans-Jürgen Schings ist das ein bisschen zu viel der fixen Ideen und zu wenig kritische Selbstbeherrschung. Dass Oskar Negt mit diesem "Faust"-Buch sein ganz persönliches Recht auf Goethe wahrnimmt - geschenkt. Was Schings dem Autor nicht so ohne weiteres durchgehen lassen möchte, ist dessen schroffe Gleichgültigkeit der restlichen "Faust"-Exegetik gegenüber. Müller nämlich kennt sehr wohl ein paar Arbeiten, die Negt mit Gewinn hätte lesen können. Richtig unverständlich wird es für den Rezensenten dann bei Negts Weigerung, den eigenen Text in der marxistischen "Faust"-Deutung zu verorten. Die Auseinandersetzung mit Georg Lukacs oder Gerhard Scholz wären für Müller das Salz in der Suppe gewesen, weil Negt, anders als jene, Metaphysik und Utopie achtlos beiseite räumt. So jedoch, schließt Müller etwas traurig, verharrt der Text im Bereich "sozial-philosophischer Rhetorik".

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