Der Blick, den Gert Ledig in Faustrecht auf den ersten Nachkriegswinter richtet,ist unsentimental und schonungslos . Er sieht die existentielle Verlorenheit zweier Männer im November 1945: "Draußen reckten die Bäume ihre Äste in den Nebel.Sie standen da wie Skelette. Einer winkte mit dem Arm." Rob blickt aus dem Fenster, ein Novembermittag wie jeder andere. Zusammen mit dem Kunstmaler Edel wartet er auf Hai, einen alten Bekannten. Hai plant einen Überfall auf einen amerikanischen Jeep. Rob und Edel sollen ihm dabei helfen. Es ist Loyalität, die sie schließlich mitmachen lässt, nicht die Aussicht auf Beute. Und sie spüren beide dieGefahr, das Wenige zu verlieren, das ihre Existenz ausmacht. Inmitten vom Schutt und den Trümmern ihrer Häuser bewegen sich Gert Ledigs von den Umständen getriebene Figuren zwischen Freundschaft und Not, Rachsucht und Feigheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2002Niemandsland der Niederlage
Kriminelle Bagatellen: Gert Ledigs dritter Roman "Faustrecht"
Eine zerbombte Stadt, ein Fluß, eine Brücke, der Schnee fällt. Die Helden sind tot, es leben die Ganoven. Die Ganoven, die Schieber, Profiteure, Hasardeure, Huren. Und die amerikanische Besatzungsmacht. Nachkrieg, Zigarettenwährung, Schwarzmarkt. Und ein Mord wird geplant. Der Überfall auf einen amerikanischen Jeep wird ausgeführt, der GI am Steuer getötet, die Täter werden verfolgt. Sie wollen sich gegenseitig umbringen, einer stirbt an Wundstarrkrampf.
Am Gerüst dieser Handlung entrollt der Autor die Leinwand, auf die er seinen Film projiziert. Auch der dritte Roman von Gert Ledig spielt wieder im Niemandsland der Niederlage, im leeren Raum einer zerbrochenen Welt. Nur ist es diesmal nicht der tragische Irrsinn des Krieges; diesmal ist es der groteske Irrsinn des Nachkriegs. Keine großen Waffentaten - der Kleinkrieg würfelt Ehre und Treue, Liebe und Hoffnung, Lüge und Verrat zwischen Männern und Frauen in kriminellen Bagatellen durcheinander.
Ledig plaziert seinen Thesen-Roman in eine Atmosphäre von Nebel, Schlamm, Regen und Düsternis. Für diesen finsteren Prospekt bedeutungsschwerer Typen und Themen ist der auf Drehbuch und Filmskript hin orientierte Krimi-Plot fast nebensächlich. Kannte man aus Ledigs Vorläufer-Werk "Vergeltung" bereits diese stilisierte Figurenkonstellation von ",der Mann und das Mädchen", so kippt hier das Szenario vielfach ins Klischee. "Draußen-vor-der-Tür"-Stimmung und Hemingway-Ton, Camus-Ethik und Sartre-Ekel produzieren eine Manier, in der die Protagonisten hölzerne Marionettenspiele aufführen, wenn sie die Maskenhaftigkeit der Welt beredt im Munde führen.
Verpfuscht, verpatzt, verdorben und verloren - das ist das Leitmotiv der "vor die Hunde gegangenen Generation", die Ledig literarisiert. Motto: "Wir haben den Krieg verloren. Wußten Sie das nicht?" Derart deklinieren die Überlebenden der Katastrophe die Gleichung Mensch = Tier zwischen Depression und Zynismus durch. Wer noch "Es lebe Deutschland!" ruft, der ist verrückt, und wer zum Katholizismus konvertiert, der stirbt am Wundstarrkrampf, weil kein Lobpreis Gottes "Ad maiorem gloriam Dei" das Tetanus vom Schwarzmarkt besorgt.
So oder ähnlich kennt man diese Geschichten aus dem "Dritten Mann", nur nennt hier der Autor seinen Helden doch tatsächlich "Edel" und lastet ihm zu allem Überfluß auch noch den Nachnamen "Noth" auf. Einen Biß auf die Welt hat jener negative Edel-Held nicht mehr, weil ihm symbolschwer die Zähne eingeschlagen wurden. Siebzehn Kapitel lang ist er unterwegs, um sich ein neues Gebiß zu beschaffen. Seine zerschlagenen Malerhände können nur noch zitternd den Pinsel führen, und unschwer überredet ihn der Freund deswegen zum Surrealismus, der ab nun Bilder mit dem Titel "Vergitterte Zukunft" hervorbringt.
Daß der Leser dieses Klageliedes der "lost generation" auch ja keine Metapher verkennt, dafür trägt der Autor ständig Sorge: Straßen führen prinzipiell ins Nichts, Pfade ins Dunkle und, ach!, für "einen Selbstmord war es das geeignetste Wetter".
Rare Momente von Eindringlichkeit erinnern an die lapidare und lakonische Wucht, an die Brillanz und Präzision des Stils, deren Ledig in seinen beiden früheren Arbeiten "Stalinorgel" und "Vergeltung" fähig war.
Ist die Schablonenhaftigkeit der Befüllung von Figuren mit Nachkriegsideologie schon mühsam zu lesen, so wird die Diktion von Hauptsatz, einfachem Relativsatz und Dialog-Stakkato vollends beschwerlich, wenn Ledig in diesen sinistren Friedenszeiten zu Männer-Prosa anhebt à la die Frau als "das Geschäftstüchtigste, was ich kenne". Die gebrochenen Helden Ledigs, die sich mit den Toten auskennen, mit den Lebenden aber nicht und mit den Frauen schon gar nicht - diese gebrochenen Helden atmen von Kuß bis Koitus das Klima der fünfziger Jahre.
Und ob mann diese Spezies nun unrechtmäßig als Hure oder anständigerweise mit Respekt behandelt und sich mit ihr verlobt - egal. Sie heiratet den Ami und die Seidenstrümpfe. Es dampft der Zeitgeist von 1957, dem Jahr der Erstveröffentlichung.
PETER ROOS
Gert Ledig: "Faustrecht". Roman. Mit einem Nachwort von Volker Hage. Piper Verlag, München 2001. 229 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kriminelle Bagatellen: Gert Ledigs dritter Roman "Faustrecht"
Eine zerbombte Stadt, ein Fluß, eine Brücke, der Schnee fällt. Die Helden sind tot, es leben die Ganoven. Die Ganoven, die Schieber, Profiteure, Hasardeure, Huren. Und die amerikanische Besatzungsmacht. Nachkrieg, Zigarettenwährung, Schwarzmarkt. Und ein Mord wird geplant. Der Überfall auf einen amerikanischen Jeep wird ausgeführt, der GI am Steuer getötet, die Täter werden verfolgt. Sie wollen sich gegenseitig umbringen, einer stirbt an Wundstarrkrampf.
Am Gerüst dieser Handlung entrollt der Autor die Leinwand, auf die er seinen Film projiziert. Auch der dritte Roman von Gert Ledig spielt wieder im Niemandsland der Niederlage, im leeren Raum einer zerbrochenen Welt. Nur ist es diesmal nicht der tragische Irrsinn des Krieges; diesmal ist es der groteske Irrsinn des Nachkriegs. Keine großen Waffentaten - der Kleinkrieg würfelt Ehre und Treue, Liebe und Hoffnung, Lüge und Verrat zwischen Männern und Frauen in kriminellen Bagatellen durcheinander.
Ledig plaziert seinen Thesen-Roman in eine Atmosphäre von Nebel, Schlamm, Regen und Düsternis. Für diesen finsteren Prospekt bedeutungsschwerer Typen und Themen ist der auf Drehbuch und Filmskript hin orientierte Krimi-Plot fast nebensächlich. Kannte man aus Ledigs Vorläufer-Werk "Vergeltung" bereits diese stilisierte Figurenkonstellation von ",der Mann und das Mädchen", so kippt hier das Szenario vielfach ins Klischee. "Draußen-vor-der-Tür"-Stimmung und Hemingway-Ton, Camus-Ethik und Sartre-Ekel produzieren eine Manier, in der die Protagonisten hölzerne Marionettenspiele aufführen, wenn sie die Maskenhaftigkeit der Welt beredt im Munde führen.
Verpfuscht, verpatzt, verdorben und verloren - das ist das Leitmotiv der "vor die Hunde gegangenen Generation", die Ledig literarisiert. Motto: "Wir haben den Krieg verloren. Wußten Sie das nicht?" Derart deklinieren die Überlebenden der Katastrophe die Gleichung Mensch = Tier zwischen Depression und Zynismus durch. Wer noch "Es lebe Deutschland!" ruft, der ist verrückt, und wer zum Katholizismus konvertiert, der stirbt am Wundstarrkrampf, weil kein Lobpreis Gottes "Ad maiorem gloriam Dei" das Tetanus vom Schwarzmarkt besorgt.
So oder ähnlich kennt man diese Geschichten aus dem "Dritten Mann", nur nennt hier der Autor seinen Helden doch tatsächlich "Edel" und lastet ihm zu allem Überfluß auch noch den Nachnamen "Noth" auf. Einen Biß auf die Welt hat jener negative Edel-Held nicht mehr, weil ihm symbolschwer die Zähne eingeschlagen wurden. Siebzehn Kapitel lang ist er unterwegs, um sich ein neues Gebiß zu beschaffen. Seine zerschlagenen Malerhände können nur noch zitternd den Pinsel führen, und unschwer überredet ihn der Freund deswegen zum Surrealismus, der ab nun Bilder mit dem Titel "Vergitterte Zukunft" hervorbringt.
Daß der Leser dieses Klageliedes der "lost generation" auch ja keine Metapher verkennt, dafür trägt der Autor ständig Sorge: Straßen führen prinzipiell ins Nichts, Pfade ins Dunkle und, ach!, für "einen Selbstmord war es das geeignetste Wetter".
Rare Momente von Eindringlichkeit erinnern an die lapidare und lakonische Wucht, an die Brillanz und Präzision des Stils, deren Ledig in seinen beiden früheren Arbeiten "Stalinorgel" und "Vergeltung" fähig war.
Ist die Schablonenhaftigkeit der Befüllung von Figuren mit Nachkriegsideologie schon mühsam zu lesen, so wird die Diktion von Hauptsatz, einfachem Relativsatz und Dialog-Stakkato vollends beschwerlich, wenn Ledig in diesen sinistren Friedenszeiten zu Männer-Prosa anhebt à la die Frau als "das Geschäftstüchtigste, was ich kenne". Die gebrochenen Helden Ledigs, die sich mit den Toten auskennen, mit den Lebenden aber nicht und mit den Frauen schon gar nicht - diese gebrochenen Helden atmen von Kuß bis Koitus das Klima der fünfziger Jahre.
Und ob mann diese Spezies nun unrechtmäßig als Hure oder anständigerweise mit Respekt behandelt und sich mit ihr verlobt - egal. Sie heiratet den Ami und die Seidenstrümpfe. Es dampft der Zeitgeist von 1957, dem Jahr der Erstveröffentlichung.
PETER ROOS
Gert Ledig: "Faustrecht". Roman. Mit einem Nachwort von Volker Hage. Piper Verlag, München 2001. 229 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2001Licht am Ende der Nacht
Unterkühlte Szenenfolge aus dem zerstörten München: Gert Ledigs Nachkriegs- Roman „Faustrecht”
Was bleibt vom Menschen, wenn er, als Soldat, Bunkerexistenz, Flüchtiger aus brennenden Städten, dem Nichts begegnet ist? Im Anfang, nach dem Wendepunkt zum lange noch nicht Besseren, wenig mehr als der Drang zu überleben – und vielleicht eine Restmoral. Für Millionen Erdbewohner, Volksgruppen, ganze Völker gibt es kein anderes Dasein. In Deutschland wissen nur noch jene von ihm zu reden, die die „Stunde Null” und die Trümmerzeit erlebt haben. Noch fließt der Strom der mündlichen Überlieferung, aber eines nicht mehr fernen Tages wird man auf die Bücher von Schriftstellern angewiesen sein, die damals, in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, um Authentizität bemüht, die vom Ethos des „Kahlschlags” durchdrungen waren. „Inventur” hieß ein Stichwort, Günter Eich gab es aus in seinem berühmten Gedicht, und es verpflichtete, nichts zu benennen als das, was alle erlebten, den Ruinen- und Heimkehreralltag und die verbliebenen oder gehamsterten Armseligkeiten, in denen das Trümmerwerk der Seelen sich spiegeln mochte.
Bei keinem freilich, der in dieser Zeit über die Tatsachen des Lebens schrieb, sei es Böll, Borchert oder Hermann Stahl, war selbst das Pathos der Existenz auf so kleiner Flamme wie bei dem kürzlich erst wiederentdeckten Gert Ledig (1921–1999). Ledigs kurzer Ruhm zu Lebzeiten gründete vor allem auf seinem ersten Roman „Die Stalinorgel” (1955), der am Beispiel eines aussichtslosen Stellungskampfes um einen Erdhügel die ganze Sinnwidrigkeit des Krieges parabolisch aufscheinen ließ, die Zeitgenossen aber wohl in erster Linie aufgrund seiner naturalistischen Qualitäten und eines „Objektivismus” erreichte, der sich generalisierender Urteile enthielt. Mit den beiden folgenden Büchern hatte Ledig weniger Glück: Die Reaktionen auf seinen Roman „Die Vergeltung” (1956), der die Horrorszenarien des Bombenterrors und der Gruppendynamik in einem Luftschutzkeller schonungslos evozierte und, nicht zuletzt infolge der von W.G. Sebald initiierten „Luftkriegs”- Diskussion, die gegenwärtige Ledig-Renaissance eingeleitet hat, zeigen bereits die Entschlossenheit zur Verdrängung. Vollends in Ungnade fiel er mit „Faustrecht” (1957), einem „amerikanisch” verknappten Schwarzmarkt- Krimi, der die (nie als Trilogie konzipierte) Trias über die Folgen des Krieges beschloss und zugleich die letzte größere Prosa war, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.
Dass Ledig in dieser untertemperierten Szenenfolge aus dem zerstörten München die Repräsentanz des Nachkriegselends an Existenzen übertrug, die sich jenseits der „anständigen” Gesetzlosigkeit der frühen Jahre bewegten, und – nicht anders als in der vielgepriesenen „Stalinorgel” auch – einen ideellen Hintergrund verweigerte, wurde nun auf der Negativseite verbucht: als moralisches und künstlerisches Defizit in Westdeutschland, wo er seiner kommunistischen und linkskatholischen Neigungen wegen zunehmend für einen unsicheren Kantonisten galt, als Mangel an Entschiedenheit für die richtige Sache in der DDR, die ihn anfangs ein wenig umwarb, in ihren Akten aber bald als ideologischen Wirrkopf führte.
Nun liegt „Faustrecht” wieder vor. Eine herbe kleine Geschichte um einen großen Coup, der übel ausgeht, am übelsten – nämlich tödlich – für den, der ihn am wenigsten wollte: Das ist Edel, ein Maler mit zertrümmerten Händen, der sich überdies „bei einem Sturz im Krieg” die Zähne ausgeschlagen hat, was seinem Gesicht einen Ausdruck von „stupider Beschränktheit” verleiht, wie Rob, der Erzähler des Buches konstatiert. Der Dritte im Bund führt den Spitznamen Hai: ein Routinier im Ausplündern amerikanischer Armeelastwagen, dessen kriminelle Energie die ganze Sache ins Rollen bringt. Rob, offensichtlich an seinem äußersten Indifferenzpunkt angelangt, zieht mit, Edel, dem Hai in scheinbarer Großmut eine Runderneuerung seines Gebisses vorfinanziert hat, lässt sich pressen. Und dann geht alles schief: der Nachschubwagen, den Hai von einer Brücke ins Wasser zu befördern gedachte, kippt um, aber stürzt nicht ab. Der Beifahrer, unverletzt geblieben, eröffnet das Feuer, Edel wird an der Wade getroffen, doch gelingt den dreien die Flucht.
Die Kraft des Lapidarstils
Sie verbunkern sich mit Olga und Katt, zwei jungen Frauen, die sich als Prostituierte durchschlagen und zu viel wissen. Rob und Olga lieben sich, Edel und Katt bekriegen sich, erst am Ende ahnt der Leser, dass auch das eine Art von Liebe war. Vergebens bemüht sich Rob, Tetanus-Impfstoff aufzutreiben, nachdem er auf Edels Gesicht das „höhnische Grinsen”, die ersten Symptome des Wundstarrkrampfs entdeckt hat. Hai dreht einige Male den Gashahn auf, um sich der beiden Mitwisserinnen zu entledigen, Rob dreht ihn immer wieder zu. Die Aggressivität der beiden gegeneinander steigert sich, und Hais wachsende Nervosität, die mit der zunehmenden Klarheit und Selbstgewissheit – man kann auch sagen: Läuterung – Robs kontrastiert, macht ihn unberechenbar. Kein Zweifel: Er ist verworfen, seine Rohheit ist nicht nur Folge des Krieges. Und doch – ein Mensch auch er in seinem Widerspruch – macht Hai zuletzt, statt sich abzusetzen, einen Arzt ausfindig, der zugleich Priester und damit ans Schweigegelübde gebunden ist. Zu diesem Zeitpunkt aber lebt Edel schon nicht mehr. Er stirbt, bevor er die bereits eingeleitete Konversion zur katholischen Kirche vollziehen kann, bevor sich geklärt hat, ob er den Judaslohn – das neue Gebiss – auszuschlagen vermag oder nicht. Für die anderen geht es glimpflich aus: Robs Rivale um die Gunst der Geliebten, ein amerikanischer Leutnant, hat den Verdacht von der Gruppe abgewendet. Sie werden ihrer Wege gehen können, jeder allein, denn Olga, weniger aus Dankbarkeit als aus lebenspraktischen Erwägungen, entscheidet sich gegen die Liebe.
Das ist der Plot. Die Provokationen, die einmal von ihm ausgegangen sein müssen, sind nur noch archäologisch rekonstruierbar, was der Wirkung des Buches keineswegs abträglich ist. Denn so wird der Blick frei für den Nuancenreichtum, die Evokationsdichte und atmosphärische Kraft eines Lapidarstils, der sich ans Hör- und Sichtbare hält, an die Bilder einer verwüsteten Stadt, an Taten, Dialoge und die stumme Beredsamkeit von Figurenkonstellationen im Raum. Es nimmt nicht wunder, dass dem Roman, wie Volker Hage im Nachwort vermerkt, eine Theaterfassung vorausging. Wie ein Film oder eben eine Bühnenhandlung läuft das Drama dreier Tage vor dem inneren Auge des Erzählers ab. Kaum ein Gedanke, der nicht „interaktiv” umsetzbar, einem Gesicht, einem Blickwechsel einschreibbar wäre – kein Schauplatz, der sich nicht mithilfe symbolischer Möblierung in den nächsten verwandeln ließe. Eine kurze Szene, ein paar Wechselreden, und man ist im Bild, sieht, fühlt, schmeckt die Zeit: die Kasinos der Besatzer, die Wartezimmer, die Straßenbahnwaggons, aus dem die Menschen wie Trauben quellen, die kahlen Läden, in dem sich ausgemergelte ältliche Frauen mit gehässigen Anspielungen über „Ami”-Liebchen verbreiten, und hinter allem die surreale Kulisse Münchens, das damals, man glaubt es kaum, für eine der gefährlichsten Städte Deutschlands galt.
„Faustrecht” ist ein symbolischer Tatsachenroman. Seine Protagonisten sind „Mitläufer” und in den Novembertagen des Jahres 1945, in denen wir ihnen begegnen, von nichts so weit entfernt wie der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Und doch: Ganz erloschen ist wohl nicht einmal die Seele Hais. Wer über dem Sog dieses temporeichen Buchs aufmerksam bleiben kann auf die mitmenschlichen Regungen, die Zartheit und Scheu hinter ruppigen Reden, wird bemerken, dass kein Funke des Guten verloren geht und verloren gegeben wird. Und ganz am Schluss, wenn alle Wege sich trennen, setzt Rob dem „Faustrecht” ein Ende, scheint etwas auf, was ein Versprechen auf eine bessere und rechtlichere Zukunft sein könnte:
„Hai stand neben mir. ‚Und was willst du jetzt tun?‘, fragte er. ‚Was Besseres!‘ Ich drehte mich um. Er und Katt blieben hinter mir zurück. Der Schnee glitzerte, und vor mir leuchtete ein erstes Licht.”
ANDREAS NENTWICH
GERT LEDIG: Faustrecht. Roman. Nachwort von Volker Hage. Piper Verlag, München 2001. 230 Seiten, 36 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Unterkühlte Szenenfolge aus dem zerstörten München: Gert Ledigs Nachkriegs- Roman „Faustrecht”
Was bleibt vom Menschen, wenn er, als Soldat, Bunkerexistenz, Flüchtiger aus brennenden Städten, dem Nichts begegnet ist? Im Anfang, nach dem Wendepunkt zum lange noch nicht Besseren, wenig mehr als der Drang zu überleben – und vielleicht eine Restmoral. Für Millionen Erdbewohner, Volksgruppen, ganze Völker gibt es kein anderes Dasein. In Deutschland wissen nur noch jene von ihm zu reden, die die „Stunde Null” und die Trümmerzeit erlebt haben. Noch fließt der Strom der mündlichen Überlieferung, aber eines nicht mehr fernen Tages wird man auf die Bücher von Schriftstellern angewiesen sein, die damals, in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, um Authentizität bemüht, die vom Ethos des „Kahlschlags” durchdrungen waren. „Inventur” hieß ein Stichwort, Günter Eich gab es aus in seinem berühmten Gedicht, und es verpflichtete, nichts zu benennen als das, was alle erlebten, den Ruinen- und Heimkehreralltag und die verbliebenen oder gehamsterten Armseligkeiten, in denen das Trümmerwerk der Seelen sich spiegeln mochte.
Bei keinem freilich, der in dieser Zeit über die Tatsachen des Lebens schrieb, sei es Böll, Borchert oder Hermann Stahl, war selbst das Pathos der Existenz auf so kleiner Flamme wie bei dem kürzlich erst wiederentdeckten Gert Ledig (1921–1999). Ledigs kurzer Ruhm zu Lebzeiten gründete vor allem auf seinem ersten Roman „Die Stalinorgel” (1955), der am Beispiel eines aussichtslosen Stellungskampfes um einen Erdhügel die ganze Sinnwidrigkeit des Krieges parabolisch aufscheinen ließ, die Zeitgenossen aber wohl in erster Linie aufgrund seiner naturalistischen Qualitäten und eines „Objektivismus” erreichte, der sich generalisierender Urteile enthielt. Mit den beiden folgenden Büchern hatte Ledig weniger Glück: Die Reaktionen auf seinen Roman „Die Vergeltung” (1956), der die Horrorszenarien des Bombenterrors und der Gruppendynamik in einem Luftschutzkeller schonungslos evozierte und, nicht zuletzt infolge der von W.G. Sebald initiierten „Luftkriegs”- Diskussion, die gegenwärtige Ledig-Renaissance eingeleitet hat, zeigen bereits die Entschlossenheit zur Verdrängung. Vollends in Ungnade fiel er mit „Faustrecht” (1957), einem „amerikanisch” verknappten Schwarzmarkt- Krimi, der die (nie als Trilogie konzipierte) Trias über die Folgen des Krieges beschloss und zugleich die letzte größere Prosa war, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.
Dass Ledig in dieser untertemperierten Szenenfolge aus dem zerstörten München die Repräsentanz des Nachkriegselends an Existenzen übertrug, die sich jenseits der „anständigen” Gesetzlosigkeit der frühen Jahre bewegten, und – nicht anders als in der vielgepriesenen „Stalinorgel” auch – einen ideellen Hintergrund verweigerte, wurde nun auf der Negativseite verbucht: als moralisches und künstlerisches Defizit in Westdeutschland, wo er seiner kommunistischen und linkskatholischen Neigungen wegen zunehmend für einen unsicheren Kantonisten galt, als Mangel an Entschiedenheit für die richtige Sache in der DDR, die ihn anfangs ein wenig umwarb, in ihren Akten aber bald als ideologischen Wirrkopf führte.
Nun liegt „Faustrecht” wieder vor. Eine herbe kleine Geschichte um einen großen Coup, der übel ausgeht, am übelsten – nämlich tödlich – für den, der ihn am wenigsten wollte: Das ist Edel, ein Maler mit zertrümmerten Händen, der sich überdies „bei einem Sturz im Krieg” die Zähne ausgeschlagen hat, was seinem Gesicht einen Ausdruck von „stupider Beschränktheit” verleiht, wie Rob, der Erzähler des Buches konstatiert. Der Dritte im Bund führt den Spitznamen Hai: ein Routinier im Ausplündern amerikanischer Armeelastwagen, dessen kriminelle Energie die ganze Sache ins Rollen bringt. Rob, offensichtlich an seinem äußersten Indifferenzpunkt angelangt, zieht mit, Edel, dem Hai in scheinbarer Großmut eine Runderneuerung seines Gebisses vorfinanziert hat, lässt sich pressen. Und dann geht alles schief: der Nachschubwagen, den Hai von einer Brücke ins Wasser zu befördern gedachte, kippt um, aber stürzt nicht ab. Der Beifahrer, unverletzt geblieben, eröffnet das Feuer, Edel wird an der Wade getroffen, doch gelingt den dreien die Flucht.
Die Kraft des Lapidarstils
Sie verbunkern sich mit Olga und Katt, zwei jungen Frauen, die sich als Prostituierte durchschlagen und zu viel wissen. Rob und Olga lieben sich, Edel und Katt bekriegen sich, erst am Ende ahnt der Leser, dass auch das eine Art von Liebe war. Vergebens bemüht sich Rob, Tetanus-Impfstoff aufzutreiben, nachdem er auf Edels Gesicht das „höhnische Grinsen”, die ersten Symptome des Wundstarrkrampfs entdeckt hat. Hai dreht einige Male den Gashahn auf, um sich der beiden Mitwisserinnen zu entledigen, Rob dreht ihn immer wieder zu. Die Aggressivität der beiden gegeneinander steigert sich, und Hais wachsende Nervosität, die mit der zunehmenden Klarheit und Selbstgewissheit – man kann auch sagen: Läuterung – Robs kontrastiert, macht ihn unberechenbar. Kein Zweifel: Er ist verworfen, seine Rohheit ist nicht nur Folge des Krieges. Und doch – ein Mensch auch er in seinem Widerspruch – macht Hai zuletzt, statt sich abzusetzen, einen Arzt ausfindig, der zugleich Priester und damit ans Schweigegelübde gebunden ist. Zu diesem Zeitpunkt aber lebt Edel schon nicht mehr. Er stirbt, bevor er die bereits eingeleitete Konversion zur katholischen Kirche vollziehen kann, bevor sich geklärt hat, ob er den Judaslohn – das neue Gebiss – auszuschlagen vermag oder nicht. Für die anderen geht es glimpflich aus: Robs Rivale um die Gunst der Geliebten, ein amerikanischer Leutnant, hat den Verdacht von der Gruppe abgewendet. Sie werden ihrer Wege gehen können, jeder allein, denn Olga, weniger aus Dankbarkeit als aus lebenspraktischen Erwägungen, entscheidet sich gegen die Liebe.
Das ist der Plot. Die Provokationen, die einmal von ihm ausgegangen sein müssen, sind nur noch archäologisch rekonstruierbar, was der Wirkung des Buches keineswegs abträglich ist. Denn so wird der Blick frei für den Nuancenreichtum, die Evokationsdichte und atmosphärische Kraft eines Lapidarstils, der sich ans Hör- und Sichtbare hält, an die Bilder einer verwüsteten Stadt, an Taten, Dialoge und die stumme Beredsamkeit von Figurenkonstellationen im Raum. Es nimmt nicht wunder, dass dem Roman, wie Volker Hage im Nachwort vermerkt, eine Theaterfassung vorausging. Wie ein Film oder eben eine Bühnenhandlung läuft das Drama dreier Tage vor dem inneren Auge des Erzählers ab. Kaum ein Gedanke, der nicht „interaktiv” umsetzbar, einem Gesicht, einem Blickwechsel einschreibbar wäre – kein Schauplatz, der sich nicht mithilfe symbolischer Möblierung in den nächsten verwandeln ließe. Eine kurze Szene, ein paar Wechselreden, und man ist im Bild, sieht, fühlt, schmeckt die Zeit: die Kasinos der Besatzer, die Wartezimmer, die Straßenbahnwaggons, aus dem die Menschen wie Trauben quellen, die kahlen Läden, in dem sich ausgemergelte ältliche Frauen mit gehässigen Anspielungen über „Ami”-Liebchen verbreiten, und hinter allem die surreale Kulisse Münchens, das damals, man glaubt es kaum, für eine der gefährlichsten Städte Deutschlands galt.
„Faustrecht” ist ein symbolischer Tatsachenroman. Seine Protagonisten sind „Mitläufer” und in den Novembertagen des Jahres 1945, in denen wir ihnen begegnen, von nichts so weit entfernt wie der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Und doch: Ganz erloschen ist wohl nicht einmal die Seele Hais. Wer über dem Sog dieses temporeichen Buchs aufmerksam bleiben kann auf die mitmenschlichen Regungen, die Zartheit und Scheu hinter ruppigen Reden, wird bemerken, dass kein Funke des Guten verloren geht und verloren gegeben wird. Und ganz am Schluss, wenn alle Wege sich trennen, setzt Rob dem „Faustrecht” ein Ende, scheint etwas auf, was ein Versprechen auf eine bessere und rechtlichere Zukunft sein könnte:
„Hai stand neben mir. ‚Und was willst du jetzt tun?‘, fragte er. ‚Was Besseres!‘ Ich drehte mich um. Er und Katt blieben hinter mir zurück. Der Schnee glitzerte, und vor mir leuchtete ein erstes Licht.”
ANDREAS NENTWICH
GERT LEDIG: Faustrecht. Roman. Nachwort von Volker Hage. Piper Verlag, München 2001. 230 Seiten, 36 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Roman, der den Zeitgeist atmet. Leider den von 1957, dem Jahr seiner Erstveröffentlichung. Auf das Klima der 50er aber hat Peter Roos wenig Lust. Zumal, wenn der "groteske Irrsinn des Nachkriegs" im Kleinkriminellenmilieu wie hier in einen Thesen-Roman mit verholztem Personal und klischeehaftem Szenario verpackt wird: "'Draußen-vor-der-Tür'- Stimmung und Hemingway-Ton, Camus-Ethik und Sartre-Ekel". Und der "auf Drehbuch und Filmskript hin orientierte Krimi-Plot" gerät zur Nebensache. Zwischen der Pennäler-Diktion von Hauptsatz, einfachem Relativsatz und Dialog-Stakkato blitzen zwar dann und wann "rare Momente von Eindringlichkeit" auf, die den Rezensenten an "die lapidare und lakonische Wucht, an die Brillanz und Präzision des Stils" in Ledigs früheren Arbeiten "Stalinorgel" und "Vergeltung" erinnert, aber das Buch hat mehr als 200 Seiten!
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