Bei einem Unfall auf einer Bohrplattform vor Neufundland verliert Helen ihren Mann Cal. Die vierfache Mutter muss nun ihre Kinder alleine großziehen. Lange Zeit demonstriert sie nach außen hin Stärke: sie sucht sich Arbeit, erledigt den Haushalt und unternimmt Reisen. Doch innerlich bleibt sie von der Trauer um ihren Mann gebrochen. Als nach Jahren der Isolierung ein neuer Mann in ihr Leben tritt und die Kinder aus dem Haus sind, steht ihr Leben vor einer bedeutenden Wende. Lisa Moores Roman ist von erstaunlicher Intensität. Mit einer Sprache von ungewöhnlicher Sinnlichkeit erkundet sie die Gefühlswelt ihrer Protagonisten und erzählt eine Geschichte über Liebe, Tod, Alltag und Familie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011In blauer Seide und ohne Schmuck
Wenn die Zeit sich nicht vom Fleck rührt: Die Kanadierin Lisa Moore erzählt in "Und wieder Februar" nüchtern eine Geschichte von Trauer und Familie.
Von Verena Lueken
Sie hätte gern die drei Tage noch gehabt. Die drei Tage, während derer die anderen Familien noch auf Überlebende des Untergangs der Ölplattform "Ocean Range" hofften. Helen weiß, dass ihr Mann Cal tot ist. Sie weiß es von dem Augenblick an, da ihr Nachbar ihr von der Katastrophe erzählt. Die Ölgesellschaft hat nicht angerufen, die Nachricht kam im Radio. Helen ist dreißig. Sie hat drei Kinder und das vierte im Bauch. Die anderen fanden die Unsicherheit über das Schicksal der vierundachtzig Männer, die mit der Plattform untergingen, unerträglich. Für Helen war die Sicherheit kaum auszuhalten.
Nach knapp fünf Seiten in Lisa Moores Roman "Und wieder Februar" kennen wir die wesentlichen Daten. Das Unglück geschah am Valentinstag des Jahres 1982 vor der Küste Neufundlands. Inzwischen ist Helen sechsundfünfzig. Die Kinder sind längst erwachsen, sie hat mehrere Enkel. Sie ist allein. Und dann erzählt Lisa Moore mit Zeitsprüngen von manchmal dreißig Jahren das Leben dieser Frau, die ihren Mann, den sie sich zu lieben entschlossen hatte, weil es unvermeidlich war, so früh verliert, dass es lange Zeit nur darum gehen kann, irgendwie die Kinder groß zu kriegen. Deren Erinnerungen an die mit Cal verbrachte Zeit bis in die physischen Sensationen hinein vom Verfließen der Jahre unversehrt bleiben. Deren Sehnsucht nach Intimität wächst wie auch das Verlangen nach dem Alleinsein. Die es geschafft hat, aus ihren Kindern und Enkeln und am Rand auch ihrer verwitweten Schwester und den Schwiegereltern eine Familie zu machen, in der Bitten zulässig, Zumutungen zu ertragen und Verbote auszusprechen sind. "Und wieder Februar" ist ein Roman, der einen Jahresring der Trauer um den nächsten legt und dabei ganz bei Helen bleibt. Es ist ihre Trauer allein. Aber Lisa Moores Buch ist auch ein Familienroman, der sich sozusagen gleichzeitig mit dem Trauerbuch entfaltet.
Und das ist die Kunst: Nicht Ordnung zu schaffen in einem Leben, das seit jenem Verhängnis am Valentinstag 1982 nicht mehr in Ordnung ist, sondern die komplizierten, regellosen Strukturen der Unordnung auszubreiten, aus denen ein Leben gewirkt ist. Eine Tochter bekommt noch in der Pubertät ein Kind. Eine andere wird Punk, bevor sie einen Kosmetiksalon eröffnet. Der Sohn, der Angst vorm Wasser hat, wird Ingenieur in der Ölwirtschaft, reist ständig und verdient gut. Manchmal ruft er seine Mutter an. Meistens mitten in der Nacht, von irgendeinem Flughafen aus, der in einer anderen Zeitzone liegt. Die Verbindung ist fast immer schlecht. Nicht immer hat der Sohn etwas zu sagen. Oder er sagt Sätze wie diesen: "Hast du je versucht herauszufinden, wodurch sich das, was du bist, von dem, was du werden musst, unterscheidet?" Das heißt nur, denkt Helen, das John "beim Anblick eines Sonnenuntergangs einfach gewaltig ins Philosophieren geraten" kann. Diesmal hat ihr Sohn aber noch etwas anderes zu sagen. Er hat eine Frau geschwängert und weiß nicht, was er machen soll.
Woraus setzt sich ein Leben zusammen? Wie weit ragt die Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft? Was bedeutet Zeit, wenn die zentrale Lebenskatastrophe immer gegenwärtig bleibt, während die Leere, die der Verlust im Zentrum gerissen hat, schier unerträglich wird?
Literarisch nähert sich Lisa Moore diesen Fragen, indem sie ihre Erzählfäden zu einem losen Knäuel von Ereignissen und Erfahrungen zusammenrollt und in kurzen Kapiteln organisiert, die Jahreszahlen tragen. Sie lässt aus, spult zurück, findet zu entscheidenden Punkten immer wieder zurück, nimmt sich Zeit für neue Figuren wie die schwangere Bekannte von John, bevor sie in einem ohne Drama aufgebauten Familientreffen alle zusammenführt. Es ist Helens Hochzeit mit dem Schreiner Barry, der ihr Haus renoviert hat, aber auch diesen Weg in ein Glücksversprechen erzählt Lisa Moore mit einiger Nüchternheit: "Helen trug blaue Seide, etwas mehr als knielang und schmucklos, denn Lulu hatte gesagt: Schlicht."
Lisa Moore ist Kanadierin, dies ist ihr zweiter Roman, einen Erzählband hat sie auch schon veröffentlicht. "Und wieder Februar" ist das erste Buch von ihr, das ins Deutsche übersetzt wurde, und zwar von Kathrin Razum, die den trockenen Ton der Autorin trifft, der nur an wenigen Stellen unerwartet ins Banale kippt, wenn so offensichtliche Metaphern wie ein zerbrochener Spiegel in der Hochzeitsnacht bemüht werden oder eine Mischung aus Milch und Blut aus Helens Brust tropft, wofür die Übersetzerin natürlich gar nichts kann.
Schließlich, kurz vor Schluss, kommt der Tod. Cals Tod. Von dem Ereignis war immer wieder die Rede gewesen. Aber: "Was hat er gesagt" und "Sie sieht es" - davon spricht Lisa Moore erst ganz zum Schluss. So heißen die kurzen Abschnitte, in denen Helen sich vorstellt, was damals auf der Bohrinsel geschah. Wann kommen Helen diese Gedanken? Sie stehen am Ende des Buches, aber es kann vor fünfundzwanzig Jahren gewesen sein, kurz nachdem das Unglück geschah. Es kann am Abend vor ihrer zweiten Hochzeit sein. Irgendwann dazwischen. Es spielt keine Rolle, weil sich in Fragen der Trauer wie der Liebe die Zeit nicht vom Fleck rührt, während das Leben weitergeht.
Helen versucht auf diesen wenigen Seiten, die Kluft zwischen dem Toten und ihr, die zurückgeblieben ist, zu überwinden. Sie stellt sich vor, was Cal im Augenblick des Unglücks getan hat, dass er Karten spielte, was sie sich wünscht, dass er von der Welle, welche die Bohrinsel zerschmetterte, überrascht wurde, dass er nicht einer derjenigen war, die im Wasser schwammen und von einem Rettungsschiff, das ganz in der Nähe war, nicht gerettet werden konnte, weil die Leinen vereist waren und niemand sich an ihnen festhalten konnte. Helen versucht, in ihrer Vorstellung bei Cal zu sein, und spürt, wie das nicht möglich ist. Wie die Liebe an eine Grenze stößt, die nichts mit der Stärke ihres Gefühls zu tun hat. "Und seine Panik war in ihr." Die Liebe reicht nur bis an die Schwelle des Todes. Und biegt dann ab in die Erinnerung.
Lisa Moore: "Und wieder Februar". Roman.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2011. 333 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die Zeit sich nicht vom Fleck rührt: Die Kanadierin Lisa Moore erzählt in "Und wieder Februar" nüchtern eine Geschichte von Trauer und Familie.
Von Verena Lueken
Sie hätte gern die drei Tage noch gehabt. Die drei Tage, während derer die anderen Familien noch auf Überlebende des Untergangs der Ölplattform "Ocean Range" hofften. Helen weiß, dass ihr Mann Cal tot ist. Sie weiß es von dem Augenblick an, da ihr Nachbar ihr von der Katastrophe erzählt. Die Ölgesellschaft hat nicht angerufen, die Nachricht kam im Radio. Helen ist dreißig. Sie hat drei Kinder und das vierte im Bauch. Die anderen fanden die Unsicherheit über das Schicksal der vierundachtzig Männer, die mit der Plattform untergingen, unerträglich. Für Helen war die Sicherheit kaum auszuhalten.
Nach knapp fünf Seiten in Lisa Moores Roman "Und wieder Februar" kennen wir die wesentlichen Daten. Das Unglück geschah am Valentinstag des Jahres 1982 vor der Küste Neufundlands. Inzwischen ist Helen sechsundfünfzig. Die Kinder sind längst erwachsen, sie hat mehrere Enkel. Sie ist allein. Und dann erzählt Lisa Moore mit Zeitsprüngen von manchmal dreißig Jahren das Leben dieser Frau, die ihren Mann, den sie sich zu lieben entschlossen hatte, weil es unvermeidlich war, so früh verliert, dass es lange Zeit nur darum gehen kann, irgendwie die Kinder groß zu kriegen. Deren Erinnerungen an die mit Cal verbrachte Zeit bis in die physischen Sensationen hinein vom Verfließen der Jahre unversehrt bleiben. Deren Sehnsucht nach Intimität wächst wie auch das Verlangen nach dem Alleinsein. Die es geschafft hat, aus ihren Kindern und Enkeln und am Rand auch ihrer verwitweten Schwester und den Schwiegereltern eine Familie zu machen, in der Bitten zulässig, Zumutungen zu ertragen und Verbote auszusprechen sind. "Und wieder Februar" ist ein Roman, der einen Jahresring der Trauer um den nächsten legt und dabei ganz bei Helen bleibt. Es ist ihre Trauer allein. Aber Lisa Moores Buch ist auch ein Familienroman, der sich sozusagen gleichzeitig mit dem Trauerbuch entfaltet.
Und das ist die Kunst: Nicht Ordnung zu schaffen in einem Leben, das seit jenem Verhängnis am Valentinstag 1982 nicht mehr in Ordnung ist, sondern die komplizierten, regellosen Strukturen der Unordnung auszubreiten, aus denen ein Leben gewirkt ist. Eine Tochter bekommt noch in der Pubertät ein Kind. Eine andere wird Punk, bevor sie einen Kosmetiksalon eröffnet. Der Sohn, der Angst vorm Wasser hat, wird Ingenieur in der Ölwirtschaft, reist ständig und verdient gut. Manchmal ruft er seine Mutter an. Meistens mitten in der Nacht, von irgendeinem Flughafen aus, der in einer anderen Zeitzone liegt. Die Verbindung ist fast immer schlecht. Nicht immer hat der Sohn etwas zu sagen. Oder er sagt Sätze wie diesen: "Hast du je versucht herauszufinden, wodurch sich das, was du bist, von dem, was du werden musst, unterscheidet?" Das heißt nur, denkt Helen, das John "beim Anblick eines Sonnenuntergangs einfach gewaltig ins Philosophieren geraten" kann. Diesmal hat ihr Sohn aber noch etwas anderes zu sagen. Er hat eine Frau geschwängert und weiß nicht, was er machen soll.
Woraus setzt sich ein Leben zusammen? Wie weit ragt die Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft? Was bedeutet Zeit, wenn die zentrale Lebenskatastrophe immer gegenwärtig bleibt, während die Leere, die der Verlust im Zentrum gerissen hat, schier unerträglich wird?
Literarisch nähert sich Lisa Moore diesen Fragen, indem sie ihre Erzählfäden zu einem losen Knäuel von Ereignissen und Erfahrungen zusammenrollt und in kurzen Kapiteln organisiert, die Jahreszahlen tragen. Sie lässt aus, spult zurück, findet zu entscheidenden Punkten immer wieder zurück, nimmt sich Zeit für neue Figuren wie die schwangere Bekannte von John, bevor sie in einem ohne Drama aufgebauten Familientreffen alle zusammenführt. Es ist Helens Hochzeit mit dem Schreiner Barry, der ihr Haus renoviert hat, aber auch diesen Weg in ein Glücksversprechen erzählt Lisa Moore mit einiger Nüchternheit: "Helen trug blaue Seide, etwas mehr als knielang und schmucklos, denn Lulu hatte gesagt: Schlicht."
Lisa Moore ist Kanadierin, dies ist ihr zweiter Roman, einen Erzählband hat sie auch schon veröffentlicht. "Und wieder Februar" ist das erste Buch von ihr, das ins Deutsche übersetzt wurde, und zwar von Kathrin Razum, die den trockenen Ton der Autorin trifft, der nur an wenigen Stellen unerwartet ins Banale kippt, wenn so offensichtliche Metaphern wie ein zerbrochener Spiegel in der Hochzeitsnacht bemüht werden oder eine Mischung aus Milch und Blut aus Helens Brust tropft, wofür die Übersetzerin natürlich gar nichts kann.
Schließlich, kurz vor Schluss, kommt der Tod. Cals Tod. Von dem Ereignis war immer wieder die Rede gewesen. Aber: "Was hat er gesagt" und "Sie sieht es" - davon spricht Lisa Moore erst ganz zum Schluss. So heißen die kurzen Abschnitte, in denen Helen sich vorstellt, was damals auf der Bohrinsel geschah. Wann kommen Helen diese Gedanken? Sie stehen am Ende des Buches, aber es kann vor fünfundzwanzig Jahren gewesen sein, kurz nachdem das Unglück geschah. Es kann am Abend vor ihrer zweiten Hochzeit sein. Irgendwann dazwischen. Es spielt keine Rolle, weil sich in Fragen der Trauer wie der Liebe die Zeit nicht vom Fleck rührt, während das Leben weitergeht.
Helen versucht auf diesen wenigen Seiten, die Kluft zwischen dem Toten und ihr, die zurückgeblieben ist, zu überwinden. Sie stellt sich vor, was Cal im Augenblick des Unglücks getan hat, dass er Karten spielte, was sie sich wünscht, dass er von der Welle, welche die Bohrinsel zerschmetterte, überrascht wurde, dass er nicht einer derjenigen war, die im Wasser schwammen und von einem Rettungsschiff, das ganz in der Nähe war, nicht gerettet werden konnte, weil die Leinen vereist waren und niemand sich an ihnen festhalten konnte. Helen versucht, in ihrer Vorstellung bei Cal zu sein, und spürt, wie das nicht möglich ist. Wie die Liebe an eine Grenze stößt, die nichts mit der Stärke ihres Gefühls zu tun hat. "Und seine Panik war in ihr." Die Liebe reicht nur bis an die Schwelle des Todes. Und biegt dann ab in die Erinnerung.
Lisa Moore: "Und wieder Februar". Roman.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2011. 333 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lisa Moore's work is passionate, gritty, lucid and beautiful. She has a great gift. Anne Enright