Die erste und sehr erfolgreiche Anthologie jiddischer Prosa seit Jahrzehnten versammelt Märchen, Fabeln und fantastische Geschichten, aber auch Kindheitserinnerungen, Humoresken, Liebesgeschichten und nicht zuletzt - expressionistische Erzählkunst und Avantegarde-Dichtung aus früherer Zeit. Eine einzigartige Präsentation moderner jiddischer Literatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.1996Schneller als der Pfeil
"Federmenschen": Eine Anthologie jiddischer Gegenwartsliteratur
"Jiddische Erzählungen und Gedichte über Feuervögel, Luftreisen, Unglücksraben und gestürzte Engel", wie der Untertitel dieses Bandes lautet, evozieren eine ganze Palette von Assoziationen, mindestens die an die Luftreisenden in den Bildern des chassidischen Malers Marc Chagall. Die "Federmenschen" des Titels gehören prima vista in dieses Pantheon der Phantastik, der Herausgeber der Anthologie denkt dabei jedoch an das jiddische Sprichwort: "Die Feder schießt schneller als ein Pfeil", spielt also auf die kritische Potenz des Schriftstellers an. Anders, als der poetische Titel vermuten lassen könnte, geht es bei diesem Band weniger um eine Märchensammlung als um die Vorstellung der "Nationalliteratur" einer Literatur ohne Nation, beheimatet zwischen St. Petersburg, Jerusalem und New York, nämlich der Jiddischen, die den "Penmentsch" (Federmenschen) inkarniert hat.
So unglaublich es klingen mag - es handelt sich dabei um die erste Anthologie jiddischer Literatur der letzten Jahrzehnte in deutscher Sprache. Sie versammelt Kurzprosa von über vierzig Autoren der letzten drei Generationen, geboren zwischen 1880 und 1960 ausnahmslos in Osteuropa. Darunter befinden sich berühmte Schriftsteller wie der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, aber auch solche, deren Namen man hierzulande wohl zum erstenmal liest. Der Herausgeber verteilt ihre Geburtsorte in den beigegebenen Kurzbiographien und -bibliographien auf Länder, die es bei ihrer Geburt gar nicht gegeben hat, die jedoch heute die Landkarten zieren, in einigen Fällen (Bessarabien, Galizien, Bukowina) entscheidet er sich gegen eine Zuordnung nach politischen Grenzen. Angesichts der politischen Geschichte Europas verwundert es nicht, daß viele der Autoren später in den Vereinigten Staaten oder in Israel lebten oder noch leben, eher schon, wie viele dem Terror Stalins in den fünfziger Jahren zum Opfer fielen oder heute noch in Osteuropa leben. Insgesamt jedoch wurden die Träger der jiddischen Literatur, wie Jendrusch schreibt, durch die Stürme der Geschichte "wie Federn im Wind" in der ganzen Welt verstreut.
Worum es dem Herausgeber geht, ist die Präsentation einer lebendigen Gegenwartsliteratur, die trotz aller mythischen oder allegorischen Anspielungen - das Vorwort beginnt mit Zitaten aus dem Buch Ezechiel - eine Paraphrase unseres Zeitalters gibt. Mit der Sprachmetapher des Vogelmenschen, der sich im realen Leben von seinen Geschäften ernährt, aber doch von Luftschlössern träumt oder durch das Erscheinen des jüdischen Wundervogels Pfau irritiert wird, spielt der Herausgeber selbst virtuos. Seinen selbstkritischen Einwand, daß man in einer Anthologie kaum den Reichtum dieser Literatur einfangen kann - das "Lexikon fun der najer jiddischer literatur" (New York 1956 - 1981) umfaßt etwa siebentausend biographische Einträge -, muß man eher als Geste der Bescheidenheit verstehen. Denn genau dies scheint hier gelungen: Die "jiddische Moderne" wird in ihrer Lebendigkeit sichtbar, viele Erzählungen sind nur wenige Monate alt und verdeutlichen den Zusammenhang mit der "klassischen" Phase der noch jungen jiddischen Literatur in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Die Betonung des phantastischen Aspekts signalisiert Traditionalität und Modernität zugleich, bildet sie doch ein Seitenstück zu jenem phantastischen Realismus, den das gebildete Publikum an der jüngeren lateinamerikanischen Literatur so schätzt. Die oft vom Herausgeber selbst besorgten Übersetzungen ins Hochdeutsche sind ebenso qualitätvoll wie die Aufmachung des Bandes in der Reihe "Quartbuch". So erwartet den neugierigen Literaturliebhaber keine luftige Unternehmung, sondern eine Himmelfahrt in die Sphäre ungetrübten Lesevergnügens. WOLFGANG BEHRINGER
Andrej Jendrusch (Hrsg.): "Federmenschen". Jiddische Erzählungen und Gedichte über Feuervögel, Luftreisen, Unglücksraben und gestürzte Engel. Wagenbach Verlag, Berlin 1996. 240 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Federmenschen": Eine Anthologie jiddischer Gegenwartsliteratur
"Jiddische Erzählungen und Gedichte über Feuervögel, Luftreisen, Unglücksraben und gestürzte Engel", wie der Untertitel dieses Bandes lautet, evozieren eine ganze Palette von Assoziationen, mindestens die an die Luftreisenden in den Bildern des chassidischen Malers Marc Chagall. Die "Federmenschen" des Titels gehören prima vista in dieses Pantheon der Phantastik, der Herausgeber der Anthologie denkt dabei jedoch an das jiddische Sprichwort: "Die Feder schießt schneller als ein Pfeil", spielt also auf die kritische Potenz des Schriftstellers an. Anders, als der poetische Titel vermuten lassen könnte, geht es bei diesem Band weniger um eine Märchensammlung als um die Vorstellung der "Nationalliteratur" einer Literatur ohne Nation, beheimatet zwischen St. Petersburg, Jerusalem und New York, nämlich der Jiddischen, die den "Penmentsch" (Federmenschen) inkarniert hat.
So unglaublich es klingen mag - es handelt sich dabei um die erste Anthologie jiddischer Literatur der letzten Jahrzehnte in deutscher Sprache. Sie versammelt Kurzprosa von über vierzig Autoren der letzten drei Generationen, geboren zwischen 1880 und 1960 ausnahmslos in Osteuropa. Darunter befinden sich berühmte Schriftsteller wie der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, aber auch solche, deren Namen man hierzulande wohl zum erstenmal liest. Der Herausgeber verteilt ihre Geburtsorte in den beigegebenen Kurzbiographien und -bibliographien auf Länder, die es bei ihrer Geburt gar nicht gegeben hat, die jedoch heute die Landkarten zieren, in einigen Fällen (Bessarabien, Galizien, Bukowina) entscheidet er sich gegen eine Zuordnung nach politischen Grenzen. Angesichts der politischen Geschichte Europas verwundert es nicht, daß viele der Autoren später in den Vereinigten Staaten oder in Israel lebten oder noch leben, eher schon, wie viele dem Terror Stalins in den fünfziger Jahren zum Opfer fielen oder heute noch in Osteuropa leben. Insgesamt jedoch wurden die Träger der jiddischen Literatur, wie Jendrusch schreibt, durch die Stürme der Geschichte "wie Federn im Wind" in der ganzen Welt verstreut.
Worum es dem Herausgeber geht, ist die Präsentation einer lebendigen Gegenwartsliteratur, die trotz aller mythischen oder allegorischen Anspielungen - das Vorwort beginnt mit Zitaten aus dem Buch Ezechiel - eine Paraphrase unseres Zeitalters gibt. Mit der Sprachmetapher des Vogelmenschen, der sich im realen Leben von seinen Geschäften ernährt, aber doch von Luftschlössern träumt oder durch das Erscheinen des jüdischen Wundervogels Pfau irritiert wird, spielt der Herausgeber selbst virtuos. Seinen selbstkritischen Einwand, daß man in einer Anthologie kaum den Reichtum dieser Literatur einfangen kann - das "Lexikon fun der najer jiddischer literatur" (New York 1956 - 1981) umfaßt etwa siebentausend biographische Einträge -, muß man eher als Geste der Bescheidenheit verstehen. Denn genau dies scheint hier gelungen: Die "jiddische Moderne" wird in ihrer Lebendigkeit sichtbar, viele Erzählungen sind nur wenige Monate alt und verdeutlichen den Zusammenhang mit der "klassischen" Phase der noch jungen jiddischen Literatur in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Die Betonung des phantastischen Aspekts signalisiert Traditionalität und Modernität zugleich, bildet sie doch ein Seitenstück zu jenem phantastischen Realismus, den das gebildete Publikum an der jüngeren lateinamerikanischen Literatur so schätzt. Die oft vom Herausgeber selbst besorgten Übersetzungen ins Hochdeutsche sind ebenso qualitätvoll wie die Aufmachung des Bandes in der Reihe "Quartbuch". So erwartet den neugierigen Literaturliebhaber keine luftige Unternehmung, sondern eine Himmelfahrt in die Sphäre ungetrübten Lesevergnügens. WOLFGANG BEHRINGER
Andrej Jendrusch (Hrsg.): "Federmenschen". Jiddische Erzählungen und Gedichte über Feuervögel, Luftreisen, Unglücksraben und gestürzte Engel. Wagenbach Verlag, Berlin 1996. 240 S., geb., 39,80 DM.
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