Das international gefeierte Meisterwerk über Liebe, Verrat und Angst - vor allem vor der Gewalt der Männer
Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch Äußerstes zu tun im Stande - das zeigt dieser vielfach ausgezeichnete und hoch spannende Roman über zwei Frauen, die sich wie zufällig begegnen und die doch eine gemeinsame Geschichte verbindet.
Als Aliide Tru, eine alte Frau, die allein in einem Bauernhaus auf dem estnischen Land lebt, ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Zara ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zu Willfährigkeit gezwungen haben und ihr schon dicht auf den Fersen sind. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein.
Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht und nach einer Möglichkeit, Estland zu verlassen, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. In Rückblenden entsteht das immer schärfer werdende Bild einer Familientragödie, die fast fünfzig Jahre zuvor, als Estland von den Russen besetzt wurde, ihren Höhepunkt fand. Rivalität und Eifersucht, Scham, Schutzbedürftigkeit und vor allem Angst vor der Brutalität der Männer gegenüber den Frauen - das sind die Motive, die Aliide zu unvorstellbaren Entscheidungen zwangen. Sofi Oksanen gelang mit diesem Roman, der in mehr als 25 Ländern erscheint und gerade in den USA gefeiert wird, der große Wurf. Atemlos vor Spannung liest man über das Schicksal zweier Frauen, die ganz unterschiedliche und im Kern doch vergleichbare Erfahrungen machen: Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.
Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch Äußerstes zu tun im Stande - das zeigt dieser vielfach ausgezeichnete und hoch spannende Roman über zwei Frauen, die sich wie zufällig begegnen und die doch eine gemeinsame Geschichte verbindet.
Als Aliide Tru, eine alte Frau, die allein in einem Bauernhaus auf dem estnischen Land lebt, ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Zara ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zu Willfährigkeit gezwungen haben und ihr schon dicht auf den Fersen sind. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein.
Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht und nach einer Möglichkeit, Estland zu verlassen, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. In Rückblenden entsteht das immer schärfer werdende Bild einer Familientragödie, die fast fünfzig Jahre zuvor, als Estland von den Russen besetzt wurde, ihren Höhepunkt fand. Rivalität und Eifersucht, Scham, Schutzbedürftigkeit und vor allem Angst vor der Brutalität der Männer gegenüber den Frauen - das sind die Motive, die Aliide zu unvorstellbaren Entscheidungen zwangen. Sofi Oksanen gelang mit diesem Roman, der in mehr als 25 Ländern erscheint und gerade in den USA gefeiert wird, der große Wurf. Atemlos vor Spannung liest man über das Schicksal zweier Frauen, die ganz unterschiedliche und im Kern doch vergleichbare Erfahrungen machen: Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Du alte Fliege, wenn ich dich kriege
Von der Allgegenwart der Gewalt und dem weiblichen Talent zur Umkehr: Die schrille Erfolgsautorin Sofi Oksanen hat die traumatische Geschichte Estlands zur Familientragödie verdichtet.
Von Pia Reinacher
Schrill und intellektuell, knallig und ernsthaft: wer Bilder Sofi Oksanens betrachtet, ist erst einmal verblüfft über die widersprüchliche Selbstinszenierung dieser Schriftstellerin und Dramaturgin in der Öffentlichkeit. Halb düstere Gothic-Göttin, halb luftige Märchenfee oder extravagante Diva, setzt sich die finnisch-estnische Bestsellerautorin mit allen weiblichen Reizen in Positur. Die verfilzten Dreadlocks sind kunstvoll zu einem Kopfputz drapiert, Augen und Mund maskenhaft stark bemalt. Oft tritt sie in bis zum Boden wallenden Wickelkleidern auf, die mit roten Stöckelschuhen kombiniert werden. Nichts an dieser überreizten Inszenierung ist dem Zufall überlassen. Selbst der Riss im Bild scheint einkalkuliert. Die grünen Augen hinter dem Metallbrillengestell einer Musterschülerin blicken ruhig und kraftvoll auf die Welt. Und dieser entschlossene Blick setzt alle vorschnellen Einordnungen des exzentrischen Outfits wieder außer Kraft.
Sofi Oksanens in Finnland sehr erfolgreicher Roman "Fegefeuer" thematisiert die traumatische Geschichte Estlands im Zweiten Weltkrieg, dessen Bevölkerung zwischen die Fronten der Großmächte geriet und dabei förmlich zerquetscht wurde. Um die Schmerzerfahrung und die fatale Ausweglosigkeit des verratenen und sich selbst verratenden Volkes darzustellen, verklammert Sofi Oksanen das Bedeutende mit dem Unbedeutenden; das Politische mit dem Privaten; die Geschichte eines geschundenen Landes mit dem misshandelten Körper zweier unterschiedlicher Frauenfiguren; das von Krieg, Okkupation, Genozid und Deportation traumatisierte Estland mit der Tragödie einer ganzen Familie.
Die vom Leben gebeutelte und illusionslos gewordene Aliide Tru findet 1992, ein Jahr nach der Befreiung des Landes aus den Fängen der Sowjetunion, im Garten ihres Bauernhauses in einem estnischen Dorf die halbtote Zara - zufällig, wie sie zunächst glaubt. Das malträtierte Mädchen, eine Russin aus Wladiwostok, das von ihrer Großmutter Estnisch lernte, hatte sich aus Berlin hierhergeflüchtet. Erst durch den Mord an ihrem Zuhälter gelang ihr die Befreiung von den Qualen sexueller Ausbeutung. Mit dem Versprechen auf viel Geld hatte sie sich leichtgläubig aus Sibirien in die deutsche Hauptstadt locken lassen - weg von der Mutter, unter deren apathischer Stummheit und Lieblosigkeit sie eine Kindheit lang litt. Rettungslos verstrickt im Netz von Brutalität, Ausbeutung und Drogen, flüchtet sie intuitiv dahin, woher ihre Familie ursprünglich stammte und wo sie einmal ein schönes Leben kannte - nach Estland. Trotz abgrundtiefem Misstrauen nimmt die hart gewordene Frau das Mädchen in ihr Haus auf und erweckt es langsam wieder zum Leben.
Die stockende, argwöhnische Bewegung der beiden ungleichen Frauen aufeinander zu geschieht unwillkürlich, schicksalshaft, instinktgesteuert. Beide haben sie unter Despotismus, Demütigung und Ausbeutung gelitten: das Mädchen als Kind einer vom Krieg traumatisierten und deportierten Mutter und später als Prostituierte. Die alte Frau durch das Martyrium von Verhör, Vergewaltigung und Folter, das sie während der kommunistischen Okkupation wegen Unterstützung von Widerstandskämpfern erleiden musste. Sie beschützte ihre Schwester und deren Mann, in den sie selbst verliebt war, vorerst und versteckte sie in ihrem Haus. Später verriet sie aus Groll über die verschmähte Liebe ihre Schwester und deren Tochter und lieferte sie damit der Deportation nach Sibirien aus.
Diese Geschichte einer Familie, deren moralische Grundfesten durch die schleichende Infizierung mit dem Bösen immer mehr zerfallen, verspiegelt Sofi Oksanen mit der Geschichte Estlands, die eine jahrzehntelange Tragödie von Verrat, Fremdbestimmung und Terror ist. Nach und nach dämmert dem Leser, dass zwischen den beiden Frauen, beinahe fünfzig Jahre nach Kriegsende, der letzte Akt einer Familientragödie gespielt wird. Sofi Oksanen hat für ihre Protagonistinnen eine ganz besondere Rolle vorgesehen. Wie misstrauisch sich die junge und die alte Frau auch begegnen, wie bedroht sie sich gegenseitig fühlen, so begreifen sie doch mit der Zeit, dass sie Opfer und Täter ein und desselben Dramas geworden sind. Zara nämlich ist die Enkelin der vertriebenen Schwester Aliides, die von dieser in die Verbannung geschickt wurde.
Dass sie dabei die Falle des Geschlechter-Klischees vermeidet, macht ihre Botschaft umso eindringlicher. Diese Frauen taugen nicht zur Galionsfigur einer übersteigerten feministischen Ideologie. Dazu ist ihr Verhalten zu widersprüchlich, der eigene Anteil an der Schuld zu groß. Der Riss von Hass und Verderben geht auch durch sie. Aber sie setzt auf die weibliche Fähigkeit zur Läuterung und Umkehr. Oksanen demonstriert an den beiden Frauenfiguren die letzten Zuckungen des Monströsen - doch sie traut dem Weiblichen auch die Kraft zur Versöhnung und zur Heilung zu. Diesen geknechteten, aber durch ihr Martyrium stark gewordenen Frauen hat sie die Rollen der Emanzipation von Gewalt und Herrschaft förmlich auf den Leib geschrieben. Ihnen schreibt sie den unbändigen Willen zu, über sich selbst hinaus wachsen, das Gesetz von Repression und Terror außer Kraft zu setzen und die Wunden zu heilen. Es ist der Glaube an eine weibliche Urkraft, die sich in dieser Botschaft verrät - eine lautstarke Demonstration des Femininen angesichts des zerstörerisch Männlichen.
Dieser Roman wirkt wie eine Bildmaschine, die ihre verstörenden, grausamen, hyperrealistischen Bilder hinausschleudert und damit Ekel, Zorn, Abstoßung, Angst und Verwunderung provoziert. Denn dass man das Buch mit Genuss lesen würde, wäre irreführend. Denn dem Leser wird nichts erspart. Nicht die Faszination und die Fratze der Gewalt. Nicht die Einsicht in die Allgegenwärtigkeit des Bösen. Nicht die Konfrontation mit den monströsen Wechselfällen des Lebens.
Nichts geschieht in diesem Roman ohne die auktoriale Regie der Autorin. Je länger, desto gebannter entdeckt man, dass der Text ein engmaschiges Gewebe von Verweisen, Symbolen, Indizien, Spiegelungen und Verstrebungen ist. Noch das abseitigste Detail entpuppt sich als zeichenhaft aufgeladene Andeutung, die im Kern das historische Planspiel vorausdeutet. Die harmlose Fliege mit den hauchdünnen Flügeln, die auf den ersten Seiten des Romans durch die Küche der alten Frau schwirrt, die Eier, mit denen sie Fleisch und Eingemachtes infiziert, die kalte Wut der Frau, mit der sie dem Tier nach dem Leben trachtet und der vom vielen Anfassen glatt gewordene Holzstiel der Klatsche, mit dem es nach langer Verfolgung erschlagen wird - alles gerinnt zum grotesken Zeichen einer von Gewalt, Hass und Zerstörung regierten Welt. Gewiss, ab und zu übertreibt es die Autorin mit der Symbolträchtigkeit. Auch der eine oder andere graziöse Kitsch aus der Märchenkiste lässt sich nicht ganz wegleugnen - aber er ist doch nie so, dass die Wucht des Erzählten beschädigt würde.
Sofi Oksanen ist mit "Fegefeuer" ein imponierender Wurf gelungen. Mit dem monumentalen historischen Panorama legt sie ein eindringliches und ergreifendes, packendes und empörendes Dokument zur Geschichte des estnischen Volkes vor. Ohne Beschönigung und Pathos konfrontiert sie ihre Leser mit den beschämenden historischen Fakten. Ihr Archiv des Schreckens enthüllt mit einem Schlag, welch unauslöschlichen Verletzungen die grandiosen politischen Schachzüge für immer in den Seelen der Einzelnen einbrannten. Das ist Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Erleidenden, die mit ihren brillantesten Möglichkeiten vorführt, was Literatur zu leisten vermag.
Sofi Oksanen: "Fegefeuer". Roman. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Verlag Kiepenheuer & Witsch,. Köln 2010. 400 S., geb., 19. 95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Allgegenwart der Gewalt und dem weiblichen Talent zur Umkehr: Die schrille Erfolgsautorin Sofi Oksanen hat die traumatische Geschichte Estlands zur Familientragödie verdichtet.
Von Pia Reinacher
Schrill und intellektuell, knallig und ernsthaft: wer Bilder Sofi Oksanens betrachtet, ist erst einmal verblüfft über die widersprüchliche Selbstinszenierung dieser Schriftstellerin und Dramaturgin in der Öffentlichkeit. Halb düstere Gothic-Göttin, halb luftige Märchenfee oder extravagante Diva, setzt sich die finnisch-estnische Bestsellerautorin mit allen weiblichen Reizen in Positur. Die verfilzten Dreadlocks sind kunstvoll zu einem Kopfputz drapiert, Augen und Mund maskenhaft stark bemalt. Oft tritt sie in bis zum Boden wallenden Wickelkleidern auf, die mit roten Stöckelschuhen kombiniert werden. Nichts an dieser überreizten Inszenierung ist dem Zufall überlassen. Selbst der Riss im Bild scheint einkalkuliert. Die grünen Augen hinter dem Metallbrillengestell einer Musterschülerin blicken ruhig und kraftvoll auf die Welt. Und dieser entschlossene Blick setzt alle vorschnellen Einordnungen des exzentrischen Outfits wieder außer Kraft.
Sofi Oksanens in Finnland sehr erfolgreicher Roman "Fegefeuer" thematisiert die traumatische Geschichte Estlands im Zweiten Weltkrieg, dessen Bevölkerung zwischen die Fronten der Großmächte geriet und dabei förmlich zerquetscht wurde. Um die Schmerzerfahrung und die fatale Ausweglosigkeit des verratenen und sich selbst verratenden Volkes darzustellen, verklammert Sofi Oksanen das Bedeutende mit dem Unbedeutenden; das Politische mit dem Privaten; die Geschichte eines geschundenen Landes mit dem misshandelten Körper zweier unterschiedlicher Frauenfiguren; das von Krieg, Okkupation, Genozid und Deportation traumatisierte Estland mit der Tragödie einer ganzen Familie.
Die vom Leben gebeutelte und illusionslos gewordene Aliide Tru findet 1992, ein Jahr nach der Befreiung des Landes aus den Fängen der Sowjetunion, im Garten ihres Bauernhauses in einem estnischen Dorf die halbtote Zara - zufällig, wie sie zunächst glaubt. Das malträtierte Mädchen, eine Russin aus Wladiwostok, das von ihrer Großmutter Estnisch lernte, hatte sich aus Berlin hierhergeflüchtet. Erst durch den Mord an ihrem Zuhälter gelang ihr die Befreiung von den Qualen sexueller Ausbeutung. Mit dem Versprechen auf viel Geld hatte sie sich leichtgläubig aus Sibirien in die deutsche Hauptstadt locken lassen - weg von der Mutter, unter deren apathischer Stummheit und Lieblosigkeit sie eine Kindheit lang litt. Rettungslos verstrickt im Netz von Brutalität, Ausbeutung und Drogen, flüchtet sie intuitiv dahin, woher ihre Familie ursprünglich stammte und wo sie einmal ein schönes Leben kannte - nach Estland. Trotz abgrundtiefem Misstrauen nimmt die hart gewordene Frau das Mädchen in ihr Haus auf und erweckt es langsam wieder zum Leben.
Die stockende, argwöhnische Bewegung der beiden ungleichen Frauen aufeinander zu geschieht unwillkürlich, schicksalshaft, instinktgesteuert. Beide haben sie unter Despotismus, Demütigung und Ausbeutung gelitten: das Mädchen als Kind einer vom Krieg traumatisierten und deportierten Mutter und später als Prostituierte. Die alte Frau durch das Martyrium von Verhör, Vergewaltigung und Folter, das sie während der kommunistischen Okkupation wegen Unterstützung von Widerstandskämpfern erleiden musste. Sie beschützte ihre Schwester und deren Mann, in den sie selbst verliebt war, vorerst und versteckte sie in ihrem Haus. Später verriet sie aus Groll über die verschmähte Liebe ihre Schwester und deren Tochter und lieferte sie damit der Deportation nach Sibirien aus.
Diese Geschichte einer Familie, deren moralische Grundfesten durch die schleichende Infizierung mit dem Bösen immer mehr zerfallen, verspiegelt Sofi Oksanen mit der Geschichte Estlands, die eine jahrzehntelange Tragödie von Verrat, Fremdbestimmung und Terror ist. Nach und nach dämmert dem Leser, dass zwischen den beiden Frauen, beinahe fünfzig Jahre nach Kriegsende, der letzte Akt einer Familientragödie gespielt wird. Sofi Oksanen hat für ihre Protagonistinnen eine ganz besondere Rolle vorgesehen. Wie misstrauisch sich die junge und die alte Frau auch begegnen, wie bedroht sie sich gegenseitig fühlen, so begreifen sie doch mit der Zeit, dass sie Opfer und Täter ein und desselben Dramas geworden sind. Zara nämlich ist die Enkelin der vertriebenen Schwester Aliides, die von dieser in die Verbannung geschickt wurde.
Dass sie dabei die Falle des Geschlechter-Klischees vermeidet, macht ihre Botschaft umso eindringlicher. Diese Frauen taugen nicht zur Galionsfigur einer übersteigerten feministischen Ideologie. Dazu ist ihr Verhalten zu widersprüchlich, der eigene Anteil an der Schuld zu groß. Der Riss von Hass und Verderben geht auch durch sie. Aber sie setzt auf die weibliche Fähigkeit zur Läuterung und Umkehr. Oksanen demonstriert an den beiden Frauenfiguren die letzten Zuckungen des Monströsen - doch sie traut dem Weiblichen auch die Kraft zur Versöhnung und zur Heilung zu. Diesen geknechteten, aber durch ihr Martyrium stark gewordenen Frauen hat sie die Rollen der Emanzipation von Gewalt und Herrschaft förmlich auf den Leib geschrieben. Ihnen schreibt sie den unbändigen Willen zu, über sich selbst hinaus wachsen, das Gesetz von Repression und Terror außer Kraft zu setzen und die Wunden zu heilen. Es ist der Glaube an eine weibliche Urkraft, die sich in dieser Botschaft verrät - eine lautstarke Demonstration des Femininen angesichts des zerstörerisch Männlichen.
Dieser Roman wirkt wie eine Bildmaschine, die ihre verstörenden, grausamen, hyperrealistischen Bilder hinausschleudert und damit Ekel, Zorn, Abstoßung, Angst und Verwunderung provoziert. Denn dass man das Buch mit Genuss lesen würde, wäre irreführend. Denn dem Leser wird nichts erspart. Nicht die Faszination und die Fratze der Gewalt. Nicht die Einsicht in die Allgegenwärtigkeit des Bösen. Nicht die Konfrontation mit den monströsen Wechselfällen des Lebens.
Nichts geschieht in diesem Roman ohne die auktoriale Regie der Autorin. Je länger, desto gebannter entdeckt man, dass der Text ein engmaschiges Gewebe von Verweisen, Symbolen, Indizien, Spiegelungen und Verstrebungen ist. Noch das abseitigste Detail entpuppt sich als zeichenhaft aufgeladene Andeutung, die im Kern das historische Planspiel vorausdeutet. Die harmlose Fliege mit den hauchdünnen Flügeln, die auf den ersten Seiten des Romans durch die Küche der alten Frau schwirrt, die Eier, mit denen sie Fleisch und Eingemachtes infiziert, die kalte Wut der Frau, mit der sie dem Tier nach dem Leben trachtet und der vom vielen Anfassen glatt gewordene Holzstiel der Klatsche, mit dem es nach langer Verfolgung erschlagen wird - alles gerinnt zum grotesken Zeichen einer von Gewalt, Hass und Zerstörung regierten Welt. Gewiss, ab und zu übertreibt es die Autorin mit der Symbolträchtigkeit. Auch der eine oder andere graziöse Kitsch aus der Märchenkiste lässt sich nicht ganz wegleugnen - aber er ist doch nie so, dass die Wucht des Erzählten beschädigt würde.
Sofi Oksanen ist mit "Fegefeuer" ein imponierender Wurf gelungen. Mit dem monumentalen historischen Panorama legt sie ein eindringliches und ergreifendes, packendes und empörendes Dokument zur Geschichte des estnischen Volkes vor. Ohne Beschönigung und Pathos konfrontiert sie ihre Leser mit den beschämenden historischen Fakten. Ihr Archiv des Schreckens enthüllt mit einem Schlag, welch unauslöschlichen Verletzungen die grandiosen politischen Schachzüge für immer in den Seelen der Einzelnen einbrannten. Das ist Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Erleidenden, die mit ihren brillantesten Möglichkeiten vorführt, was Literatur zu leisten vermag.
Sofi Oksanen: "Fegefeuer". Roman. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Verlag Kiepenheuer & Witsch,. Köln 2010. 400 S., geb., 19. 95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Andreas Breitenstein ist von diesem Roman schlicht hingerissen. Das weit gefasste Thema, die literarische Umsetzung - im fällt dazu nur ein Vergleich ein: Pasternaks "Doktor Schiwago". Sofi Oksanen verarbeitet in ihrem Familienroman die ganze tragische Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert. Der Einmarsch der Russen 1940 und die beginnende Gleichschaltung, der Russlandfeldzug der Deutschen, den viele Balten unterstützten, weil es eben gegen die Russen ging. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele Esten deportiert. Darunter befanden sich auch solche, die sich an der Vernichtung der Juden beteiligt hatten. Dies alles und mehr packt Oksanen in ihren Roman, der in den Zeitabschnitten 1939 bis 1951 und 1991 bis 1992 spielt, erzählt Breitenstein. Die Hauptfiguren sind zwei Frauen, die auf ganz unterschiedliche Art traumatisiert sind. Doch sind es nicht einfach Opfer, sondern schuldbeladene Opfer. Breitenstein ist hoch beeindruckt, mit welcher Dichte Oksanen Szenen und Figuren beschreibt. Kein Wunder, war der Roman doch eigentlich zuerst ein Theaterstück. Von dieser Autorin erwartet Breitenstein jedenfalls noch "galaktische Ereignisse".
© Perlentaucher Medien GmbH
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» Fegefeuer ist ein kühner, grandios geschriebener und auch perfekt übersetzter Roman zur rechten Zeit. Man kann ihn neben Imre Kertész ins Regal stellen« Frankfurter Rundschau