Herman Broder, der als Jude in Polen nur knapp der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entging, lebt zurückgezogen und noch immer von Ängsten gepeinigt mit seiner Frau Jadwiga in Coney Island bei New York. Jadwiga, das polnische Bauernmädchen, hatte ihn vor den Deutschen versteckt und so sein Leben gerettet; vor allem aus Dankbarkeit für diese Tat wurde sie von Broder geheiratet. Daneben liebt er die schöne, eigenwillig-exaltierte Mascha, weiß diese Verbindung aber vor Jadwiga zunächst geheimzuhalten. Da taucht Tamara auf, seine erste Frau, von der Zeugen berichtet hatten, sie sei im KZ umgekommen. Hilflos und unentschlossen steht Herman zwischen diesen drei Frauen, bis er schließlich alle drei auf mysteriöse Weise "verläßt" ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2007Lust am Atmen, Lieben und Essen
Isaac Bashevis Singer: „Feinde, die Geschichte einer Liebe”
Dem Grauen entronnen, die Hölle überlebt: So nennt man es, wenn die Rede kommt auf Menschen, die ihr Dasein aus dem Holocaust retten konnten. Falsch sind diese Worte. Entronnensein und Überlebthaben markieren vielmehr den Beginn einer fortwährenden Anklage: Ist die ganze Welt nicht ein Teufelsspuk, wenn Millionen starben, die Henker triumphieren, wir aber noch immer sind? Hölle und Grauen leben fort im Innern, in den Träumen, den Wachphantasien und Rachegemälden. Davon und von der Lust am Atmen und Lieben und Essen handelt der 1966 auf Jiddisch veröffentlichte Roman des späteren Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer.
Der Schauplatz, ein Haus in New York, das nach dem Zweiten Weltkrieg von jüdischen Emigranten bewohnt wurde, „roch vor Passah nach Mazzo und Borschtsch, nach Süßwein, Meerrettich und anderen Speisen, die aus der alten Welt mit eingewandert waren und deren Düfte sich nun mit dem Geruch der Bucht und des Meeres vermischten.” Herman Broder, der Held, hat immer Appetit und bleibt doch mager, „als ob ein Feuer in ihm alles verzehrte.” Von Yadwiga oder Mascha oder Tamara bekommt er Matzenknödel, Mohnrollen, Omelett, Hafergrütze, Graupeneintopf, Pudding, Apfelkompott, Honig und Huhn. Wenn Herman isst, dann ist er Jude.
Sonst hält ihn der Zweifel zusammen. Er lebt wie ein Wurm, meidet Menschen, bevorzugt im Restaurant Tische, die in einer Ecke stehen. Stets aufs Neue überfällt ihn die Vorstellung, die Nationalsozialisten hätten New York eingenommen und er müsste sich ein Versteck suchen – so wie damals in Polen, wo er drei Jahre auf dem Dachboden lebte. Yadwiga, das Bauernmädchen, versteckte und versorgte ihn, riskierte ihr Leben, um seines zu retten. Darum lebt er jetzt zusammen mit ihr, ist Yadwigas „Mann, Bruder, Vater und Gott”. Von Mascha aber, die Ghetto und Konzentrationslager überstand, kann er nicht lassen. Und eines Tages erscheint seine erste Ehefrau Tamara, die er für tot hielt: „Ich will alle drei haben, das ist die beschämende Wahrheit.”
Die Ménage à quatre scheitert. Auf Lügen lässt sich keine Liebe bauen. Herman Broder weiß es und findet in sich den stärksten Widersacher. Er war „ein Opfer schon lange vor den Tagen Hitlers gewesen”, nun aber geht er auf tragikomische Weise irr an sich selbst. In New York verläuft er sich ebenso oft wie in der eigenen Brust. Schuldet er Yadwiga ewigen Dank? Darf er die Leidenschaft, die Mascha und ihn aneinanderkettet, verraten? Muss er Tamara aufnehmen und die Ehe mit Yadwiga lösen? Den Pendelbewegungen zwischen den vier Menschen entspricht das tastende Suchen Hermans nach dem Gott der Väter.
Gott mag weise sein, doch er ist ohne Gnade, weiß Herman in schlaflosen Nächten. Anderentags ist er ein glaubensloser Hedonist oder ein Skeptiker, der ahnt: „Ohne Glauben kann man nicht mal trauern.” Die Psalmen bestärken ihn, den Scharlatan und Betrüger, der für einen Rabbiner fromme Bücher schreibt, an die er nicht glaubt: „Weltliche Literatur, ganz gleich wie gut sie geschrieben war, verlor mit der Zeit ihre Bedeutung.”
Singers „Geschichte einer Liebe” widerlegt diesen Satz. Sie ist eine ungemein dichte Parabel auf die Unmöglichkeit, eine Heimat im eigenen Herzen zu finden. ALEXANDER KISSLER
Isaac Bashevis Singer Foto:Robert Maass/Corbis
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Isaac Bashevis Singer: „Feinde, die Geschichte einer Liebe”
Dem Grauen entronnen, die Hölle überlebt: So nennt man es, wenn die Rede kommt auf Menschen, die ihr Dasein aus dem Holocaust retten konnten. Falsch sind diese Worte. Entronnensein und Überlebthaben markieren vielmehr den Beginn einer fortwährenden Anklage: Ist die ganze Welt nicht ein Teufelsspuk, wenn Millionen starben, die Henker triumphieren, wir aber noch immer sind? Hölle und Grauen leben fort im Innern, in den Träumen, den Wachphantasien und Rachegemälden. Davon und von der Lust am Atmen und Lieben und Essen handelt der 1966 auf Jiddisch veröffentlichte Roman des späteren Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer.
Der Schauplatz, ein Haus in New York, das nach dem Zweiten Weltkrieg von jüdischen Emigranten bewohnt wurde, „roch vor Passah nach Mazzo und Borschtsch, nach Süßwein, Meerrettich und anderen Speisen, die aus der alten Welt mit eingewandert waren und deren Düfte sich nun mit dem Geruch der Bucht und des Meeres vermischten.” Herman Broder, der Held, hat immer Appetit und bleibt doch mager, „als ob ein Feuer in ihm alles verzehrte.” Von Yadwiga oder Mascha oder Tamara bekommt er Matzenknödel, Mohnrollen, Omelett, Hafergrütze, Graupeneintopf, Pudding, Apfelkompott, Honig und Huhn. Wenn Herman isst, dann ist er Jude.
Sonst hält ihn der Zweifel zusammen. Er lebt wie ein Wurm, meidet Menschen, bevorzugt im Restaurant Tische, die in einer Ecke stehen. Stets aufs Neue überfällt ihn die Vorstellung, die Nationalsozialisten hätten New York eingenommen und er müsste sich ein Versteck suchen – so wie damals in Polen, wo er drei Jahre auf dem Dachboden lebte. Yadwiga, das Bauernmädchen, versteckte und versorgte ihn, riskierte ihr Leben, um seines zu retten. Darum lebt er jetzt zusammen mit ihr, ist Yadwigas „Mann, Bruder, Vater und Gott”. Von Mascha aber, die Ghetto und Konzentrationslager überstand, kann er nicht lassen. Und eines Tages erscheint seine erste Ehefrau Tamara, die er für tot hielt: „Ich will alle drei haben, das ist die beschämende Wahrheit.”
Die Ménage à quatre scheitert. Auf Lügen lässt sich keine Liebe bauen. Herman Broder weiß es und findet in sich den stärksten Widersacher. Er war „ein Opfer schon lange vor den Tagen Hitlers gewesen”, nun aber geht er auf tragikomische Weise irr an sich selbst. In New York verläuft er sich ebenso oft wie in der eigenen Brust. Schuldet er Yadwiga ewigen Dank? Darf er die Leidenschaft, die Mascha und ihn aneinanderkettet, verraten? Muss er Tamara aufnehmen und die Ehe mit Yadwiga lösen? Den Pendelbewegungen zwischen den vier Menschen entspricht das tastende Suchen Hermans nach dem Gott der Väter.
Gott mag weise sein, doch er ist ohne Gnade, weiß Herman in schlaflosen Nächten. Anderentags ist er ein glaubensloser Hedonist oder ein Skeptiker, der ahnt: „Ohne Glauben kann man nicht mal trauern.” Die Psalmen bestärken ihn, den Scharlatan und Betrüger, der für einen Rabbiner fromme Bücher schreibt, an die er nicht glaubt: „Weltliche Literatur, ganz gleich wie gut sie geschrieben war, verlor mit der Zeit ihre Bedeutung.”
Singers „Geschichte einer Liebe” widerlegt diesen Satz. Sie ist eine ungemein dichte Parabel auf die Unmöglichkeit, eine Heimat im eigenen Herzen zu finden. ALEXANDER KISSLER
Isaac Bashevis Singer Foto:Robert Maass/Corbis
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