Produktdetails
- Sifria, Wissenschaftliche Bibliothek
- Verlag: Jüdische Verlagsanstalt Berlin
- Seitenzahl: 320
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 454g
- ISBN-13: 9783934658097
- ISBN-10: 3934658091
- Artikelnr.: 24621260
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Der Fluch des Albatros
Ludwig Klages flog Theodor Lessing davon / Von Stefan Breuer
An einem Juliabend im Schwabing der Jahrhundertwende klärt Theodor Lessing, der sich gerade wieder einmal als toller Hecht erwiesen und seinem Freund Klages demonstriert hat, wie man Frauenbekanntschaften macht, die staunende Franziska von Reventlow über die Zoologie von Schwabing auf. Ludwig Klages, Stefan George und die anderen Genies, das seien Deutschlands seltene Edel-Albatrosse: kühne Flieger, aber am Boden etwas plump und unbeholfen. Er hingegen und Franziska gehörten zur gemeinen Sorte, den Straußen. Das seien tragische Geschöpfe, die auch gerne flögen, es aber nie schafften. Zum Ausgleich seien sie gute Läufer, die auf Erden jedes Ziel erreichen könnten, das eigentlich den Albatrossen gebührte.
Die Geschichte vom Strauß und vom Albatros ist schon mehrfach erzählt worden, sowohl aus der Sicht von Lessing als auch aus derjenigen von Klages. Nun wird sie von neuem erzählt, in einer Doppelbiographie, die sich bemüht, beiden Seiten gerecht zu werden, und mit viel neuem Material aus dem nachgelassenen Briefwechsel aufwarten kann. Die Geschichte beginnt im Hannover des Jahres 1872, wo Lessing und Klages geboren wurden, führt über die gemeinsame Schulzeit zu den Jahren der Trennung, in denen Lessing als Student der Medizin in Freiburg und Bonn, Klages als Student der Chemie in Leipzig und Hannover lebte, und schließlich zum erneuten Zusammentreffen in München, das 1899 mit dem Bruch der Freundschaft endete.
Auf das Leben, das Lessing danach führte, paßt das selbstgewählte Bild vom Strauß, wie Bilder eben so passen, teils recht und teils schlecht. Lessing gehörte nicht zu denen, die den Kopf in den Sand steckten, mischte sich vielmehr heftig ein und löste manchen Skandal aus. Seine Qualitäten als Läufer dagegen bewährte er in seinem Engagement als Sozialdemokrat und Gewerkschaftler, Frauenrechtler und Abstinenzler, Kleidungsreformer, Pazifist und Gründer des denkwürdigen Verbands gegen unnötigen Lärm. 1933 endete sein Leben im unfreiwilligen Exil durch nationalsozialistische Mörder. Sein Alter ego hingegen, der Albatros, hatte schon 1915 das freiwillige Exil in der Schweiz gewählt und zog dort, wenig involviert in das irdische Treiben, seine Kreise bis zu seinem Tod 1956.
Das ist Stoff für mehr als ein Buch, und so ist es denn vertretbar, wenn das vorliegende nur den Jahren bis zum Bruch der Freundschaft nachgeht. Kotowski zeichnet ein nuanciertes und farbiges Bild der Elternhäuser und der Kindheit ihrer Helden, läßt die Leserschaft an den Leiden der Schulzeit teilhaben und entwirft ein Panorama der Einflüsse und Leseerlebnisse, die ihren Bildungsgang bestimmt haben. Sehr deutlich werden in ihrer Darstellung die unterschiedlichen psychischen Voraussetzungen, die beide zusammengeführt haben. Lessing, der, wie er sich selbst bezeichnet, "Schlechtgeborene", von den Eltern Ungeliebte und mit stetem Selbsthaß Geschlagene, braucht Klages als Bruder, als Kampfgenossen in seiner Rebellion gegen die widrige Väterwelt; Klages dagegen, mutterlos aufgewachsen und in Ambivalenzkonflikte mit dem ebenso strengen wie liebevoll-besorgten Vater verstrickt, bedarf des Freundes, um einen Ausweg aus der Fantasiewelt seines Größenselbst zu finden, in die er sich geflüchtet hat. Und hierin liegt zugleich die Ursache des Zerfalls dieser Freundschaft. Denn als Klages Mitte der neunziger Jahre in Alfred Schuler einen neuen Dioskuren findet, der ihn in seiner Neigung zu Mystik und Weltablehnung bestärkt, wird Lessing nicht mehr benötigt, ja Teil der abgelehnten Welt. Wohingegen Lessing den Rückzug des Freundes nie ganz verstanden, nie ganz verschmerzt zu haben scheint.
So einleuchtend dies ist und so gern man es liest: Infolge des überwiegend historischen und narrativen Zugriffs bleibt vieles offen oder wird auf allzu kurzschlüssige Weise gedeutet, und zwar um so mehr, je weiter das Buch sich von der Kindheit der Protagonisten entfernt. Einigermaßen rätselhaft erscheint, wie Klages, dem eben noch Sexualfeindschaft und ein Hang zur Askese bescheinigt werden, plötzlich zum "Chefideologen" einer Gruppierung wie der Kosmischen Runde werden kann, der Kotowski eine Präokkupation mit dem erotischen Rausch, der freien Liebe, gar dem "Orgiasmus" zuschreibt. Nicht weniger unklar sind die Motive, die den Freigeist Lessing, dem Kotowski sogar antisemitische Ressentiments nachweist, bewogen haben, zum bekennenden Zionisten zu werden.
Daß die Kosmische Runde heterogener ist, als häufig dargestellt wird, ist richtig. Allerdings sind die zur Differenzierung aufgebotenen Kategorien - Neuheidentum und "Antijahwismus" für Klages und Schuler, ästhetischer Fundamentalismus für Stefan George - nicht trennscharf. Neuheidnisch war auch vieles bei George, während umgekehrt Klages und Schuler starke fundamentalistische Züge aufweisen, wenn nicht im Sinne eines ästhetischen, so doch eines (auto-)erotischen Fundamentalismus, der um das Konzept des "kosmogonischen Eros" kreist. Wenn man differenziert, sollten auch die Unterschiede zwischen Klages und Schuler zur Sprache kommen. Dem Römer- und Cäsarenkult des letzteren hat sich der erstere nie angeschlossen.
Besonders wenig vermag die Deutung zu befriedigen, die Kotowski dem Zerfall der Freundschaft gibt. Für sie stellt es sich, grob gesprochen, so dar, als sei Klages durch die Unterdrückung seiner Libido zum Nationalisten und Rassisten geworden, der es nicht länger ertragen konnte, mit einem Juden befreundet zu sein - eine Konstellation, von der zugleich insinuiert wird, daß sie irgendwie typisch für die Deutschen der damaligen Zeit gewesen sei. Das sind Mutmaßungen. Wir wissen nicht, wie repräsentativ Klages' Judenfeindlichkeit war, und was wir über sein Sexualleben wissen, ist wenig und widersprüchlich. Neben die von Kotowski angeführten Passagen lassen sich mühelos solche stellen, die, ganz im Sinne Nietzsches, die Triebfeindlichkeit des Christentums anprangern. "Befriedigte Körpergier", heißt es in einer Notiz aus dem Jahr 1900, "ist das notwendige Unterpfand kosmischen Erstrahlens." Aber selbst wenn wir mehr wüßten: Was wäre damit zu beweisen? Askese muß nicht zu Nationalismus und Rassismus führen, wie jeder Blick in die Kirchengeschichte lehrt, ganz zu schweigen davon, daß Nationalismus und Rassismus nicht dasselbe sind. Sosehr Klages die Germanen liebte, die zeitgenössischen germanischen Nationalstaaten schätzte er durchaus nicht.
Die Psychologie in allen Ehren, aber hier reicht sie einfach nicht aus. Was die Kluft zwischen Klages und Lessing herbeigeführt hat, war, bei allem rein Persönlichen, das hineingespielt haben mag, in erster Linie sachlich bedingt. Es handelt sich um den aufbrechenden und schließlich nicht mehr zu schlichtenden Konflikt zwischen zwei diametral entgegengesetzten Welthaltungen, von denen die eine sich um Geist, Willen, Tat zentrierte, während die andere eben hierin die Steine sah, mit denen der Weg zur Hölle gepflastert war. Klages, der noch zu Beginn der neunziger Jahre vom wissenschaftlichen, technischen und moralischen Fortschritt überzeugt war und gar einen "Napoleon der socialen Reform" herbeiwünschte, ging in München zu dieser Überzeugung auf Distanz und wurde zum Fortschrittskritiker, dem entschiedensten und radikalsten, den es bis dahin in Deutschland gegeben hatte. Und da er sich den Fortschritt, den Prozeß der "Rationalisierung", wie er ihn noch vor Max Weber nannte, nicht anders erklären konnte als unter Rückgriff auf eine Kategorie, die seit Schopenhauer und Nietzsche bereitlag - den Willen -, wurde er wie von selbst zu einer Kritik an jener Theologie des Willens geführt, wie sie sich im Christentum und schon im Judentum fand. Hierin, und nicht im persönlichen Ressentiment, hat man den ersten Grund für Klages' Antijahwismus zu sehen, der mindestens ebenso sehr antichristlich wie antijüdisch war.
Klages brach mit Lessing nicht, wie Kotowski nahelegt, aus niedrigen Beweggründen, die ihn zugleich dazu gebracht hätten, den Geist zu verachten. Er hatte vielmehr eine bestimmte, wie immer auch problematische Sicht des Rationalisierungsprozesses entwickelt, über die zu diskutieren sich auch heute noch lohnt. Er ging aus vom Formwandel des Geistes unter dem Diktat des Machtwillens und gelangte zu einer Verwerfung nicht allein der jüdisch-christlichen Tradition, sondern ebensosehr jeder Form des geschichtlichen Aktivismus, wie er sowohl für den Freund als auch - was gewöhnlich übersehen wird - für den politischen Antisemitismus charakteristisch war. Daß diese sachliche Differenz von Affekten überlagert wurde, daß sich bei Klages der philosophisch legitimierte (was nicht heißen soll: legitime) Antijudaismus mit antisemitischen Stereotypen amalgamierte und im Spätwerk in einen Konspirationismus mit paranoiden Zügen ausuferte, dies alles ist so unbestreitbar wie unverzeihlich. Ein Argument gegen Klages' Kritik des Rationalisierungsprozesses ist es jedoch nicht.
Elke-Vera Kotowski: "Feindliche Dioskuren". Theodor Lessing und Ludwig Klages. Das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885-1899). Jüdische Verlagsanstalt, Berlin 2000. 320 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ludwig Klages flog Theodor Lessing davon / Von Stefan Breuer
An einem Juliabend im Schwabing der Jahrhundertwende klärt Theodor Lessing, der sich gerade wieder einmal als toller Hecht erwiesen und seinem Freund Klages demonstriert hat, wie man Frauenbekanntschaften macht, die staunende Franziska von Reventlow über die Zoologie von Schwabing auf. Ludwig Klages, Stefan George und die anderen Genies, das seien Deutschlands seltene Edel-Albatrosse: kühne Flieger, aber am Boden etwas plump und unbeholfen. Er hingegen und Franziska gehörten zur gemeinen Sorte, den Straußen. Das seien tragische Geschöpfe, die auch gerne flögen, es aber nie schafften. Zum Ausgleich seien sie gute Läufer, die auf Erden jedes Ziel erreichen könnten, das eigentlich den Albatrossen gebührte.
Die Geschichte vom Strauß und vom Albatros ist schon mehrfach erzählt worden, sowohl aus der Sicht von Lessing als auch aus derjenigen von Klages. Nun wird sie von neuem erzählt, in einer Doppelbiographie, die sich bemüht, beiden Seiten gerecht zu werden, und mit viel neuem Material aus dem nachgelassenen Briefwechsel aufwarten kann. Die Geschichte beginnt im Hannover des Jahres 1872, wo Lessing und Klages geboren wurden, führt über die gemeinsame Schulzeit zu den Jahren der Trennung, in denen Lessing als Student der Medizin in Freiburg und Bonn, Klages als Student der Chemie in Leipzig und Hannover lebte, und schließlich zum erneuten Zusammentreffen in München, das 1899 mit dem Bruch der Freundschaft endete.
Auf das Leben, das Lessing danach führte, paßt das selbstgewählte Bild vom Strauß, wie Bilder eben so passen, teils recht und teils schlecht. Lessing gehörte nicht zu denen, die den Kopf in den Sand steckten, mischte sich vielmehr heftig ein und löste manchen Skandal aus. Seine Qualitäten als Läufer dagegen bewährte er in seinem Engagement als Sozialdemokrat und Gewerkschaftler, Frauenrechtler und Abstinenzler, Kleidungsreformer, Pazifist und Gründer des denkwürdigen Verbands gegen unnötigen Lärm. 1933 endete sein Leben im unfreiwilligen Exil durch nationalsozialistische Mörder. Sein Alter ego hingegen, der Albatros, hatte schon 1915 das freiwillige Exil in der Schweiz gewählt und zog dort, wenig involviert in das irdische Treiben, seine Kreise bis zu seinem Tod 1956.
Das ist Stoff für mehr als ein Buch, und so ist es denn vertretbar, wenn das vorliegende nur den Jahren bis zum Bruch der Freundschaft nachgeht. Kotowski zeichnet ein nuanciertes und farbiges Bild der Elternhäuser und der Kindheit ihrer Helden, läßt die Leserschaft an den Leiden der Schulzeit teilhaben und entwirft ein Panorama der Einflüsse und Leseerlebnisse, die ihren Bildungsgang bestimmt haben. Sehr deutlich werden in ihrer Darstellung die unterschiedlichen psychischen Voraussetzungen, die beide zusammengeführt haben. Lessing, der, wie er sich selbst bezeichnet, "Schlechtgeborene", von den Eltern Ungeliebte und mit stetem Selbsthaß Geschlagene, braucht Klages als Bruder, als Kampfgenossen in seiner Rebellion gegen die widrige Väterwelt; Klages dagegen, mutterlos aufgewachsen und in Ambivalenzkonflikte mit dem ebenso strengen wie liebevoll-besorgten Vater verstrickt, bedarf des Freundes, um einen Ausweg aus der Fantasiewelt seines Größenselbst zu finden, in die er sich geflüchtet hat. Und hierin liegt zugleich die Ursache des Zerfalls dieser Freundschaft. Denn als Klages Mitte der neunziger Jahre in Alfred Schuler einen neuen Dioskuren findet, der ihn in seiner Neigung zu Mystik und Weltablehnung bestärkt, wird Lessing nicht mehr benötigt, ja Teil der abgelehnten Welt. Wohingegen Lessing den Rückzug des Freundes nie ganz verstanden, nie ganz verschmerzt zu haben scheint.
So einleuchtend dies ist und so gern man es liest: Infolge des überwiegend historischen und narrativen Zugriffs bleibt vieles offen oder wird auf allzu kurzschlüssige Weise gedeutet, und zwar um so mehr, je weiter das Buch sich von der Kindheit der Protagonisten entfernt. Einigermaßen rätselhaft erscheint, wie Klages, dem eben noch Sexualfeindschaft und ein Hang zur Askese bescheinigt werden, plötzlich zum "Chefideologen" einer Gruppierung wie der Kosmischen Runde werden kann, der Kotowski eine Präokkupation mit dem erotischen Rausch, der freien Liebe, gar dem "Orgiasmus" zuschreibt. Nicht weniger unklar sind die Motive, die den Freigeist Lessing, dem Kotowski sogar antisemitische Ressentiments nachweist, bewogen haben, zum bekennenden Zionisten zu werden.
Daß die Kosmische Runde heterogener ist, als häufig dargestellt wird, ist richtig. Allerdings sind die zur Differenzierung aufgebotenen Kategorien - Neuheidentum und "Antijahwismus" für Klages und Schuler, ästhetischer Fundamentalismus für Stefan George - nicht trennscharf. Neuheidnisch war auch vieles bei George, während umgekehrt Klages und Schuler starke fundamentalistische Züge aufweisen, wenn nicht im Sinne eines ästhetischen, so doch eines (auto-)erotischen Fundamentalismus, der um das Konzept des "kosmogonischen Eros" kreist. Wenn man differenziert, sollten auch die Unterschiede zwischen Klages und Schuler zur Sprache kommen. Dem Römer- und Cäsarenkult des letzteren hat sich der erstere nie angeschlossen.
Besonders wenig vermag die Deutung zu befriedigen, die Kotowski dem Zerfall der Freundschaft gibt. Für sie stellt es sich, grob gesprochen, so dar, als sei Klages durch die Unterdrückung seiner Libido zum Nationalisten und Rassisten geworden, der es nicht länger ertragen konnte, mit einem Juden befreundet zu sein - eine Konstellation, von der zugleich insinuiert wird, daß sie irgendwie typisch für die Deutschen der damaligen Zeit gewesen sei. Das sind Mutmaßungen. Wir wissen nicht, wie repräsentativ Klages' Judenfeindlichkeit war, und was wir über sein Sexualleben wissen, ist wenig und widersprüchlich. Neben die von Kotowski angeführten Passagen lassen sich mühelos solche stellen, die, ganz im Sinne Nietzsches, die Triebfeindlichkeit des Christentums anprangern. "Befriedigte Körpergier", heißt es in einer Notiz aus dem Jahr 1900, "ist das notwendige Unterpfand kosmischen Erstrahlens." Aber selbst wenn wir mehr wüßten: Was wäre damit zu beweisen? Askese muß nicht zu Nationalismus und Rassismus führen, wie jeder Blick in die Kirchengeschichte lehrt, ganz zu schweigen davon, daß Nationalismus und Rassismus nicht dasselbe sind. Sosehr Klages die Germanen liebte, die zeitgenössischen germanischen Nationalstaaten schätzte er durchaus nicht.
Die Psychologie in allen Ehren, aber hier reicht sie einfach nicht aus. Was die Kluft zwischen Klages und Lessing herbeigeführt hat, war, bei allem rein Persönlichen, das hineingespielt haben mag, in erster Linie sachlich bedingt. Es handelt sich um den aufbrechenden und schließlich nicht mehr zu schlichtenden Konflikt zwischen zwei diametral entgegengesetzten Welthaltungen, von denen die eine sich um Geist, Willen, Tat zentrierte, während die andere eben hierin die Steine sah, mit denen der Weg zur Hölle gepflastert war. Klages, der noch zu Beginn der neunziger Jahre vom wissenschaftlichen, technischen und moralischen Fortschritt überzeugt war und gar einen "Napoleon der socialen Reform" herbeiwünschte, ging in München zu dieser Überzeugung auf Distanz und wurde zum Fortschrittskritiker, dem entschiedensten und radikalsten, den es bis dahin in Deutschland gegeben hatte. Und da er sich den Fortschritt, den Prozeß der "Rationalisierung", wie er ihn noch vor Max Weber nannte, nicht anders erklären konnte als unter Rückgriff auf eine Kategorie, die seit Schopenhauer und Nietzsche bereitlag - den Willen -, wurde er wie von selbst zu einer Kritik an jener Theologie des Willens geführt, wie sie sich im Christentum und schon im Judentum fand. Hierin, und nicht im persönlichen Ressentiment, hat man den ersten Grund für Klages' Antijahwismus zu sehen, der mindestens ebenso sehr antichristlich wie antijüdisch war.
Klages brach mit Lessing nicht, wie Kotowski nahelegt, aus niedrigen Beweggründen, die ihn zugleich dazu gebracht hätten, den Geist zu verachten. Er hatte vielmehr eine bestimmte, wie immer auch problematische Sicht des Rationalisierungsprozesses entwickelt, über die zu diskutieren sich auch heute noch lohnt. Er ging aus vom Formwandel des Geistes unter dem Diktat des Machtwillens und gelangte zu einer Verwerfung nicht allein der jüdisch-christlichen Tradition, sondern ebensosehr jeder Form des geschichtlichen Aktivismus, wie er sowohl für den Freund als auch - was gewöhnlich übersehen wird - für den politischen Antisemitismus charakteristisch war. Daß diese sachliche Differenz von Affekten überlagert wurde, daß sich bei Klages der philosophisch legitimierte (was nicht heißen soll: legitime) Antijudaismus mit antisemitischen Stereotypen amalgamierte und im Spätwerk in einen Konspirationismus mit paranoiden Zügen ausuferte, dies alles ist so unbestreitbar wie unverzeihlich. Ein Argument gegen Klages' Kritik des Rationalisierungsprozesses ist es jedoch nicht.
Elke-Vera Kotowski: "Feindliche Dioskuren". Theodor Lessing und Ludwig Klages. Das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885-1899). Jüdische Verlagsanstalt, Berlin 2000. 320 S., geb., 58,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Für diese neue Doppelbiografie spricht, wie der Rezensent Stefan Breuer feststellt, dass sie viel neues Material aus dem Briefwechsel der beiden Philosophen verarbeitet hat. Überzeugen kann sie ihn aber nicht. Dass nur bis zum (frühen) Bruch der Freundschaft berichtet wird, kann er akzeptieren, die Deutung dieses Bruchs aber befriedigt ihn nicht. Der "überwiegend historische und narrative Zugriff" greife, obwohl das Buch dadurch sehr lesbar wird, an dieser entscheidenden Stelle zu kurz - und auch mit Psychologie alleine komme man hier nicht weit. Breuer stellt seine eigene Deutung dagegen und behauptet, dass die Gründe in den (vor allem durch Klages` Wende zur Fortschrittskritik) "diametral entgegengesetzten Welthaltungen" liegen. In den letzten Absätzen verlässt Breuer dann endgültig das Genre der Rezension und macht den Leser ausführlich mit seinen eigenen Gedanken zum Thema bekannt.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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