Produktdetails
  • Verlag: Norton
  • Seitenzahl: 264
  • Englisch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 520g
  • ISBN-13: 9780393059441
  • ISBN-10: 0393059448
  • Artikelnr.: 14520036
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2006

Vom Achterhuis nach Amerika
Ellen Feldmans Roman "Der Junge, der Anne Frank liebte"

Peter van Pels starb am 5. Mai 1945 im Lager Mauthausen. So liest man auf der offiziellen Homepage des Anne-Frank-Hauses über den ersten und letzten Freund Annes, so findet es sich in etlichen Recherchen. Nur jene Dame, die - vor einem Dutzend Jahren - die New Yorker Autorin Ellen Feldman durch das Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht führte, wußte es nicht. Und nur darum gibt es diesen Roman.

Die jüdische Schriftstellerin, die in New Jersey aufwuchs und seit Jahrzehnten über historische Themen publiziert, verliebte sich in die Hoffnung und träumte sich die Vita eines Jungen zurecht, der den Holocaust überlebt hat und sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten neu erfindet. Später, als aus dem Traum beinah schon ein Buch geworden war, erfuhr sie, daß nur über das Schicksal seiner Mutter nicht alles bekannt ist. Auguste van Pels starb in Deutschland oder in der Tschechoslowakei, zwischen dem 9. April und dem 8. Mai 1945; an Peters Tod am Tag der Befreiung des Lagers Mauthausen gibt es hingegen kaum Zweifel. "Ein Schock", bekennt Feldman. Aber nach der Trauer kam der Trotz: "Wenigstens die Erinnerung darf nicht sterben - nie." Dafür steht das letzte Wort des Romans: "Memory" - "Gedächtnis"; und dafür stehen die 310 Seiten, die von einem Überlebenden handeln, der vergessen will und es nicht schafft.

Das Anne-Frank-Haus verzeichnete letztes Jahr eine Rekordzahl von 965 000 Besuchern. Mag es da auch vielleicht bisweilen am informierten Zugang fehlen, die Not des Mädchens im Achterhuis ist jedenfalls nicht im Strom der Zeit untergegangen. Helferin Miep Gies, Annes Klassenkameradin Jacqueline van Maarsen, Annes Kindergartenfreundin Hannali Pick-Goslar, sie und viele andere haben die Erinnerung gepflegt; und Bücher mit dem Namen "Anne Frank" im Titel sind Legion. Das Tagebuch selbst ging schon 1948, ein Jahr nach seiner Erstveröffentlichung, in die dritte Auflage, und von 1955 an spielte man die Theaterfassung von Frances Goodrich und Albert Hackett zwei Jahre lang am Broadway. Der Film zum Stück kam 1959 in die Kinos.

Genau da, beim Rummel rund ums Entsetzen, setzt der Roman ein. Peter hat bei der amerikanischen Einwanderungsbehörde sein Judentum verschwiegen, ist seinen Weg vom Tellerwäscher zum Baulöwen als "Goj" gegangen und hat um dieser seelenlebensrettenden Lüge willen sogar seine erste große amerikanische Liebe aufgegeben. Für die junge Frau kam ausschließlich ein jüdischer Mann in Frage. Ihre Schwester hatte weniger strenge Ansichten, und so sehen wir Peter, den nichtjüdischen Yuppie, Anfang der Fünfziger mit schöner Frau, schönem Haus und drei wohlgeratenen Kindern - als er auf einmal seine Stimme verliert: Auf dem Nachttisch seiner Frau liegt das "Tagebuch der Anne Frank". Dann besucht sie die Aufführung am Broadway, schließlich den Film. Und Peter büßt nicht bloß die Stimme ein, sondern seine gesamte felsenfeste Fassade und seine Façon, sich ohne Wurzeln nach dem amerikanischen Himmel zu strecken.

Dieser verdüstert sich für Peter allerdings zusehends, je mehr seine Frau sich auf die Anne-Geschichte einläßt. Sie schreibt wütende Briefe an alle Welt über die Schauspielerin Gusti Huber, die sich in der Nazizeit für keine Schnulze des deutschen Films zu schade war und nun in der Rolle der Mutter Anne Franks Lorbeeren einheimst; doch Peter läßt diese Post verschwinden. Überhaupt verwandelt sich der verzweifelte, traumatisierte Erfolgsmensch allmählich in ein Wrack. Seine Frau denkt an Scheidung, er an Selbstmord.

Die Autorin, die sich mit ihrer faction über die Geliebte Roosevelts, Lucy, einen Namen erschrieben hat, zeigt sich auch hier als sorgfältige Journalistin: Sie hat sich über das "post traumatic stress syndrome" von Holocaust-Opfern kundig gemacht, weiß um die Ängste, die Verweigerungen: "Wenn sie das nächste Mal kämen, würde ich nicht dasein", lautet das Mantra Peters, das auf dem Unbeschreiblichen gründet. Da, wo die Journalistin jedoch zur Schriftstellerin werden will, mag man ihr nicht so recht folgen. Sie schreibt Dialoge wie aus dem Creative-Writing-Lehrbuch (flott übersetzt von Mirjam Pressler). Sie entwickelt kleine Szenen wie für ein Well-made-Play. Und sie setzt vor all die nett komponierten Kapitel Motti, die weit aus der Fiktion herausgreifen - Zitate aus dem "Tagebuch", aus der Holocaust-Forschung, aus der Anne-Frank-Rezeptionsforschung. Im Fernsehen nennt man so etwas Infotainment, und in einem Roman, insbesondere einem Roman über den "Jungen, der Anne Frank liebte", hat Infotainment nichts zu suchen. Egal, wie gut es gemacht ist.

ALEXANDRA KEDVES

Ellen Feldman: "Der Junge, der Anne Frank liebte". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Mirjam Pressler. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 315 S., geb., 17,90 [Euro].

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