Noch einmal lässt die Erzählerin ihr Leben revuepassieren: die Schrecken ihrer Kindheit, das Aufwachsen unter Sowjet-Verhältnissen, vor allem aber die Liebesgeschichte mit ihrem ersten Mann, einem ukrainischen Maler und Bildhauer, zu dessen »Sexualopfer der nationalen Idee« sie wurde. Der innere Monolog, in dem die Geschichte erzählt wird, mutiert zu einem öffentlichen wissenschaftlichen Vortrag, in dem auf intelligente, witzige und offene Weise der ganze Frust und das Unglück mit den Männern und mit den ukrainischen Verhältnissen abgehandelt wird.Keine Frau hatte sich bisher, formal wie inhaltlich, öffentlich so radikal zu Fragen der Sexualpolitik, zum slawischen Machotum, zur Sklavenmentalität ihrer Heimat geäußert, sodass die Feldstudien über ukrainischen Sex sehr schnell zur Bibel des Feminismus avancierten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2006Leidensweg im Lotterbett
Oksana Sabuschko betreibt "Feldstudien über ukrainischen Sex"
Das Normale ist meistens schrecklich. Die Erinnerung der autobiographischen Heldin, wie sie sich als Kind vor ihrem Vater entblößen mußte, weil der sehen wollte, "wie du dich entwickelst", blieb traumatisch und für ihr Liebesleben prägend - ist aber eigentlich kaum etwas Besonderes. Zumal die ukrainische Kultfeministin Oksana Sabuschko schon damals spürte, daß der Mann aus Schwäche handelte. Der tastende Blick auf die eigene Tochter blieb die einzige erotische Freiheit, die sich der gutaussehende, politisch vorbestrafte Intellektuelle herausnahm, weil seine Frau ihn durch Heirat "gerettet" hatte - um den Preis ihrer eigenen Karriere.
Sich gleichfalls als Frau zu bewähren versucht die Heranwachsende, indem sie jene Geheimdienstler angiftet, die den Vater abermals verhaften. Sie macht sich nur lächerlich. Erst als rassige Studentin gelingt es ihr, mit einem melodramatischen Auftritt ihren Freund aus der Hand der Bullen zu befreien. Damit besteht sie die Reifeprüfung vor sich selbst. "Unsere Männer sind nach Strich und Faden durchgefickt worden", formuliert Oksana Sabuschko ihr postsozialistisches Feministen-Credo: Wenn sie beim Sex brutal waren, gaben sie ihren Frauen das nur weiter. Gegenüber ihren westlichen Geschlechtsgenossinnen verteidigt die Osteuropäerin die Liebe zu diesen Männern. Denn sonst würde man sich auf die Seite von deren Peinigern schlagen.
Doch das erfährt der Leser erst am Ende von Oksana Sabuschkos zehn Jahre alter Liebesbeichte, die jetzt auf deutsch unter dem Titel "Feldstudien über ukrainischen Sex" erschienen ist. Wer an die Schlüsselstelle gelangt, hat eine Reise von hundertsechzig Seiten hinter sich, die in einem assoziativ breit flutenden Prosastrom eine Art erotischen Passionsweg durchexerziert. Wie Riffe kristallisieren sich darin amouröse Begegnungen und Erregungen, ohne welche die Autorin ihre selbstgestellte Aufgabe, der ukrainischen Sprache neues poetisches Leben zu geben, gar nicht erfüllen könnte. An einzelnen Nervenpunkten flicht sie Fragmente von Liebesgedichten in den Text, die den aufgewühlten Wortschwall zur gebundenen Rede steigern und deren hochgestimmter Tonfall sie als den eigentlichen Zweck der Prosaübung zu erkennen geben.
Zu dem Mann in diesem Dichterinnenleben wird passenderweise ein ukrainischer Maler, der mit seiner Begabung ebenfalls berufen scheint, die ukrainische Kultur zu retten. Die patriotische Mission der Heldin potenziert sich. Sabuschkos seitenlange, parataktisch wogende Kaskadensätze spülen die Vision eines schönen gemeinsamen Kindes hervor. Aber nach der romantischen Annäherungsphase tut der Freund dann das, was die proteische Ich-Figur, die sich bald zur Du-, bald zur Sie-Person umschmilzt, von Anfang an vorausgesehen hatte: ihr Schmerzen zufügen. Das Bett wird zur Stätte ihrer rücksichtslosen Unterwerfung. "Autistischer Spermatosaurier", diagnostiziert sie rückblickend.
Die Liebe zwischen Mann und Frau ist immer auch Krieg. Er endet, wenn eine Seite siegt. Oksana Sabuschkos Beicht-Heldin ermöglicht ein amerikanisches Stipendium, ihrem Beziehungsschlachtfeld zu entfliehen. Als sie ihrem Liebespeiniger noch einen Amerika-Besuch finanziert, hat die Freiheit ihren Bund schon zerstört. Im Westen sind der Ukrainerin weibliche Demut und Opfersinn beziehungsweise weiblicher Masochismus vergangen. Im Unterschied zur Mutter und anderen daheim gebliebenen Frauen, denen Oksana Sabuschkos Buch literarische Denkmäler setzt, verläßt ihr Roman-Ich den privaten Passionsweg. Der künstlernde Exfreund stürzt ab. Das christologisch anmutende Projekt zur erotischen Rettung des ukrainischen Mannes scheint gescheitert.
Oksana Sabuschkos Buch steht in der Tradition der Beicht- und Selbsterforschungsprosa. Dabei wirkt westlich, daß die Autorin bei der Schilderung ihrer sexuellen Leiden und Freuden mit physiologischen Details nicht spart. Die Vorstellung, die Frau könne durch demütige Hingabe Mann und Nation erlösen, klingt hingegen eher russisch-orthodox. Vom im weiten Sinn christlichen Beichtethos setzt sich Sabuschkos Text ab, indem sie weniger mit sich selbst abrechnet als mit den Männern. Die Autorin hadert mit ihrem Frausein, ihrer Sentimentalität und übertriebenen Sehnsucht nach Wärme und stellt die weibliche Art der Liebe mit ihrem Alleinheitsgefühl zugleich höher als die offenbar weniger totale des Mannes. Die Frage, warum ihr Herz sich ausgerechnet einen ruppigen Egoisten auswählt - als ob in der Ukraine nicht auch sanftere Exemplare herumliefen -, drängt sich auf, bleibt aber leider unerörtert.
Am Ende, da Oksana Sabuschkos Heldin emanzipiert wider Willen dasteht, ähnelt sie tatsächlich ihrem Heimatland, das nicht ohne amerikanische Finanzhilfe das Dominanzjoch eines männlich übermächtigen Bruderstaates losgeworden ist. Offenbar um den Preis jener kindlich daseinsberauschten Persönlichkeitsfacette, die Oksana Sabuschko für des Menschen besten Teil hält und die ihrer Erfahrung nach der Sexualrausch zum Leuchten bringt. Das Kind ihrer Liebe aber, die "Feldstudien über ukrainischen Sex", hat mit einer ganzen Schar von Sabuschko-Fortsetzerinnen seine Erzeugerin schon zur Großmutter gemacht.
KERSTIN HOLM
Oksana Sabuschko: "Feldstudien über ukrainischen Sex". Roman. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Daja. Droschl Verlag, Graz 2006. 176 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Oksana Sabuschko betreibt "Feldstudien über ukrainischen Sex"
Das Normale ist meistens schrecklich. Die Erinnerung der autobiographischen Heldin, wie sie sich als Kind vor ihrem Vater entblößen mußte, weil der sehen wollte, "wie du dich entwickelst", blieb traumatisch und für ihr Liebesleben prägend - ist aber eigentlich kaum etwas Besonderes. Zumal die ukrainische Kultfeministin Oksana Sabuschko schon damals spürte, daß der Mann aus Schwäche handelte. Der tastende Blick auf die eigene Tochter blieb die einzige erotische Freiheit, die sich der gutaussehende, politisch vorbestrafte Intellektuelle herausnahm, weil seine Frau ihn durch Heirat "gerettet" hatte - um den Preis ihrer eigenen Karriere.
Sich gleichfalls als Frau zu bewähren versucht die Heranwachsende, indem sie jene Geheimdienstler angiftet, die den Vater abermals verhaften. Sie macht sich nur lächerlich. Erst als rassige Studentin gelingt es ihr, mit einem melodramatischen Auftritt ihren Freund aus der Hand der Bullen zu befreien. Damit besteht sie die Reifeprüfung vor sich selbst. "Unsere Männer sind nach Strich und Faden durchgefickt worden", formuliert Oksana Sabuschko ihr postsozialistisches Feministen-Credo: Wenn sie beim Sex brutal waren, gaben sie ihren Frauen das nur weiter. Gegenüber ihren westlichen Geschlechtsgenossinnen verteidigt die Osteuropäerin die Liebe zu diesen Männern. Denn sonst würde man sich auf die Seite von deren Peinigern schlagen.
Doch das erfährt der Leser erst am Ende von Oksana Sabuschkos zehn Jahre alter Liebesbeichte, die jetzt auf deutsch unter dem Titel "Feldstudien über ukrainischen Sex" erschienen ist. Wer an die Schlüsselstelle gelangt, hat eine Reise von hundertsechzig Seiten hinter sich, die in einem assoziativ breit flutenden Prosastrom eine Art erotischen Passionsweg durchexerziert. Wie Riffe kristallisieren sich darin amouröse Begegnungen und Erregungen, ohne welche die Autorin ihre selbstgestellte Aufgabe, der ukrainischen Sprache neues poetisches Leben zu geben, gar nicht erfüllen könnte. An einzelnen Nervenpunkten flicht sie Fragmente von Liebesgedichten in den Text, die den aufgewühlten Wortschwall zur gebundenen Rede steigern und deren hochgestimmter Tonfall sie als den eigentlichen Zweck der Prosaübung zu erkennen geben.
Zu dem Mann in diesem Dichterinnenleben wird passenderweise ein ukrainischer Maler, der mit seiner Begabung ebenfalls berufen scheint, die ukrainische Kultur zu retten. Die patriotische Mission der Heldin potenziert sich. Sabuschkos seitenlange, parataktisch wogende Kaskadensätze spülen die Vision eines schönen gemeinsamen Kindes hervor. Aber nach der romantischen Annäherungsphase tut der Freund dann das, was die proteische Ich-Figur, die sich bald zur Du-, bald zur Sie-Person umschmilzt, von Anfang an vorausgesehen hatte: ihr Schmerzen zufügen. Das Bett wird zur Stätte ihrer rücksichtslosen Unterwerfung. "Autistischer Spermatosaurier", diagnostiziert sie rückblickend.
Die Liebe zwischen Mann und Frau ist immer auch Krieg. Er endet, wenn eine Seite siegt. Oksana Sabuschkos Beicht-Heldin ermöglicht ein amerikanisches Stipendium, ihrem Beziehungsschlachtfeld zu entfliehen. Als sie ihrem Liebespeiniger noch einen Amerika-Besuch finanziert, hat die Freiheit ihren Bund schon zerstört. Im Westen sind der Ukrainerin weibliche Demut und Opfersinn beziehungsweise weiblicher Masochismus vergangen. Im Unterschied zur Mutter und anderen daheim gebliebenen Frauen, denen Oksana Sabuschkos Buch literarische Denkmäler setzt, verläßt ihr Roman-Ich den privaten Passionsweg. Der künstlernde Exfreund stürzt ab. Das christologisch anmutende Projekt zur erotischen Rettung des ukrainischen Mannes scheint gescheitert.
Oksana Sabuschkos Buch steht in der Tradition der Beicht- und Selbsterforschungsprosa. Dabei wirkt westlich, daß die Autorin bei der Schilderung ihrer sexuellen Leiden und Freuden mit physiologischen Details nicht spart. Die Vorstellung, die Frau könne durch demütige Hingabe Mann und Nation erlösen, klingt hingegen eher russisch-orthodox. Vom im weiten Sinn christlichen Beichtethos setzt sich Sabuschkos Text ab, indem sie weniger mit sich selbst abrechnet als mit den Männern. Die Autorin hadert mit ihrem Frausein, ihrer Sentimentalität und übertriebenen Sehnsucht nach Wärme und stellt die weibliche Art der Liebe mit ihrem Alleinheitsgefühl zugleich höher als die offenbar weniger totale des Mannes. Die Frage, warum ihr Herz sich ausgerechnet einen ruppigen Egoisten auswählt - als ob in der Ukraine nicht auch sanftere Exemplare herumliefen -, drängt sich auf, bleibt aber leider unerörtert.
Am Ende, da Oksana Sabuschkos Heldin emanzipiert wider Willen dasteht, ähnelt sie tatsächlich ihrem Heimatland, das nicht ohne amerikanische Finanzhilfe das Dominanzjoch eines männlich übermächtigen Bruderstaates losgeworden ist. Offenbar um den Preis jener kindlich daseinsberauschten Persönlichkeitsfacette, die Oksana Sabuschko für des Menschen besten Teil hält und die ihrer Erfahrung nach der Sexualrausch zum Leuchten bringt. Das Kind ihrer Liebe aber, die "Feldstudien über ukrainischen Sex", hat mit einer ganzen Schar von Sabuschko-Fortsetzerinnen seine Erzeugerin schon zur Großmutter gemacht.
KERSTIN HOLM
Oksana Sabuschko: "Feldstudien über ukrainischen Sex". Roman. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Daja. Droschl Verlag, Graz 2006. 176 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Rezensent Jörg Plath findet die Lektüre dieses ukrainischen Bestsellers, der gleichzeitig Abrechnung mit einem ehemaligen Liebhaber und Abrechnung mit Nationalmythen ist, zwar an einigen Stellen etwas mühsam. Er befürchtet "das Unbehagen des hiesigen Lesers, möglicherweise auch der hiesigen Leserin - Unbehagen an einem allzu eindimensionalen Macho-Mykola und an manchen der eingestreuten Gedichte". Doch trotzdem findet er die Lektüre lohnend. Die Autorin Oksana Sabuschko ist seiner Meinung nach zu Recht in ihrer Heimat zu einer Berühmtheit geworden, denn die Arbeit an dem Buch hat sicherlich einiges an Mut gekostet. Es lohnt sich nach Meinung des Rezensenten, es "als Aufbruchsdokument einer jungen, weiblichen Literatur und einer anderen Ukraine zu lesen". Plath empfindet das Buch als "eine eigenwillige Mischung aus Tradition und Postmoderne, Christentum und weiblicher Fleischeslust."
© Perlentaucher Medien GmbH
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