Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-13: 9783518413326
- ISBN-10: 3518413325
- Artikelnr.: 10264970
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Stilleben mit Einzelanimal: Felix Hartlaubs Aufzeichnungen und Briefe aus dem Krieg
Er drängt, bettelt. Man möchte ihm bitte die gewünschten Bücher schicken. Im besetzten Paris zieht der Soldat und promovierte Historiker Felix Hartlaub dann selber los. Broschierte Bücher sind billig zu haben. Am 8. März 1945, die europäische Welt liegt in Schutt und Asche, bittet Hartlaub seinen Vater, den er mit seinen 31 Jahren "Pappi" nennt, um Reclambändchen - Gotthelf, Kleist, Schiller, Shakespeare. Der Kanon ist intakt.
Zerbrochen ist der Lebenszusammenhang. Der Weltkrieg hat Hartlaub aus seinen geliebten Studien für das Staatsexamen gerissen. Am 13. September 1943 sinniert er in einem Brief an seinen Vater über die nahen beruflichen Aussichten: "Zu großen wissenschaftlichen oder litterarischen Arbeiten wird einfach die materielle Grundlage fehlen . . . Es käme wohl auf zündende kleine litterarische Schöpfungen aus dem Erleben dieser Jahre heraus an." Noch ist die Lebenszeit nicht ganz verloren. Hartlaub macht aus seinen besonderen Erfahrungen während der Kriegsjahre eine ganz individuelle Quelle. Am 30. Mai 1944 wendet er sich mit einem Arbeitsprojekt an den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der 1933 gezwungen worden war, die Heidelberger Universität zu verlassen: "Die Frage nach der Genese, nach dem wie war es möglich" sei wahrscheinlich die einzige, die noch an seine, Hartlaubs, Generation gestellt werde. "In diesem Zusammenhang wird mir auch deutlich, dass es eigentlich nur ein Studiengebiet geben kann, für das man die Möglichkeit eigener Einsichten mitbringt: das deutsche 19. Jahrhundert." Das eigene Erleben für die Poesie, die eigenen Einsichten für die Wissenschaft.
Was bleibt, sind Fragmente und Vorschläge. Denn Anfang Mai 1945 wird Hartlaub zur Infanterie abkommandiert. Er besucht noch einmal Freunde in Berlin. Er soll sich in Berlin-Spandau melden. Dort trifft er nicht ein. Seitdem gilt er als vermißt - ein früh Unvollendeter. In den fünfziger Jahren werden Schriftsteller und Kritiker aufmerksam. Hans Egon Holthusen lobt 1951: "Man hat Grund zu vermuten, daß uns in Hartlaub eine Begabung ersten Ranges verlorengegangen ist, vielleicht das stärkste Prosa-Talent der jüngeren deutschen Generation." Heinz Piontek lobt 1956: Hartlaubs Sprache sei "gegenwärtig doch die fortschrittlichste und modernste Prosa, über die wir seit Benns ,Ptolemäer' in Deutschland verfügen". Ein kurzer Sommer des Ruhms. Dann wird es um ihn still.
Felix Hartlaub wird am 17. Juni 1913 in Bremen geboren. Die Familie zieht nach Mannheim, der Vater, Kunsthistoriker, übernimmt die Leitung der Städtischen Kunsthalle. Die Mutter stirbt 1930. Der Vater muß 1933 als Direktor zurücktreten, weil er "entartete Kunst" ausgestellt hat. Hartlaub studiert Romanistik, Geschichte, Kunstgeschichte in Heidelberg und Berlin. Mit Beginn des Kriegs beginnt sein Kampf um einen Platz im Archiv. Im September 1939 wird er zur Wehrmacht eingezogen. Im Jahr darauf arbeitet er bei der Historischen Archivkommission des Auswärtigen Amtes in Paris, geht als Soldat nach Rumänien. Ende 1941 arbeitet er in Berlin bei der Wehrmachtskriegsgeschichte, darauf im Führerhauptquartier.
Traut man den Briefen, dann war Hartlaub weniger ein Beobachter aus Kalkül als aus Beziehungsschwäche. Daß er im Bunker des Führerhauptquartiers landet, entspricht seinem Wunsch, der Front zu entkommen, und seinem menschenscheuen Naturell. Im Brief vom 8. März 1939 findet man eine für sein Daseinsempfinden typische Notiz: "Die Unwirklichkeit als Einzelner ist schwer, - ein stabilisierter Schwindel, eine eng begrenzte Leere." Als er kurz darauf keine historischen Studien mehr treiben darf, sondern sich selbst als Soldat in die Geschichte gerückt sieht, findet er andere Worte für dieselbe Verlorenheit: "Niemand weiss und begreift weniger von der eigenen Zeit als die Zeitgenossen. Mir selbst geht es wenigstens so, man bleibt in einer so beschämenden Weise in den eigenen Umriss gebannt . . ." Bald darauf sitzt er im Zentrum der Macht. Im Mai 1942 wechselt er zur Abteilung Kriegstagebuch im Führerhauptquartier Werwolf in der Ukraine, schließlich in die Wolfsschanze in Ostpreußen. Im September 1944 beginnt er mit den "Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier". Hartlaub, der Historiker, kommt an diesem Ort der Geschichte "mächtig auf seine Kosten". Der Schriftsteller Hartlaub meint, daß er unter den Bunkermenschen verkümmern werde, weil er "alles nur durch das Medium der Akten" sieht, während er Berührungen mit wirklichen Menschen brauche. Aus diesem Dilemma entsteht sein Stil. Darin mischt sich die Unerbittlichkeit der Menschenbeobachtung mit der Poesie der Wahrnehmungslust.
Die Nähe zur Macht hat seinem Ruhm nicht geschadet, im Gegenteil. Er lastet vor allem auf den Kriegsaufzeichnungen, die in dieser Zeitung vorabgedruckt wurden. Hier verschmelzen Schriftsteller und Historiker Hartlaub zu einem wachen Beobachter - ein Beobachter des menschlich Zufälligen und Hinfälligen im Herz der Weltvernichtung. Der Gang der großen Geschichte zerfällt Hartlaub sofort in atmosphärisch stechende Stilleben mit Menschen. Eine Epoche schnurrt in die Sekunden der Blickkontakte zusammen. Die "Aufzeichnung" ist Hartlaubs genuines literarisches Genre.
Einige literarische Texte, Auszüge aus den Tagebüchern und aus den Briefen werden in den fünfziger Jahren in Zeitschriften veröffentlicht. Eine Sammlung von Texten liegt 1950 vor: "Von unten gesehen. Impressionen und Aufzeichnungen des Obergefreiten Felix Hartlaub", und 1955 "Im Sperrbezirk. Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg". Diese Auswahl wird in einer erweiterten Auflage noch einmal 1984 veröffentlicht. Drei Jahre darauf folgt eine erste Briefausgabe. In der neuen Edition, herausgegeben und kommentiert von Gabriele Lieselotte Ewenz, findet man neben den literarischen Texten erstmals den vollständigen Text der Kriegsaufzeichnungen und Briefe aus jener Zeit ebenso wie neue Briefe, von denen einige als verschollen galten.
Ob der junge Felix Hartlaub dadurch wieder im literarischen Bewußtsein lebendig wird? Die fragmentarischen literarischen Texte werden diese Hoffnung insgesamt wohl nicht erfüllen.Die Briefe sind eine Beigabe zum Verständnis eines nicht ganz einfachen Menschen. Es bleiben die "Aufzeichnungen" aus Paris, aus Rumänien, vor allem aus dem Führerhauptquartier. Diesen beklemmend taghellen Aussichten eines noch lebendigen Bunkermenschen - ein "scheues und unverständliches Einzelanimal" - wünscht man viele Leser. Und die Literaturgeschichtsschreiber haben nun noch mal die Chance bekommen, die "Aufzeichnungen" in den Bestand der deutschen Literatur aufzunehmen.
Felix Hartlaub: "In den eigenen Umriss gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945. Herausgegeben von Gabriele Lieselotte Ewenz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 2 Bände, zus. 1124 S., geb., 64,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Ende des Krieges umgekommene Autor und promovierte Historiker Hartlaub gilt, den Informationen von Rezensent Eberhard Rathgeb zufolge, als "früh Unvollendeter". Schon 1951 habe die Literaturkritik den Verlust dieser Prosa-Begabung "ersten Ranges" beklagt. Seit dieser Zeit seien auch immer wieder literarische Texte Hartlaubs veröffentlicht worden. Nun lägen erstmals die vollständigen Texte seiner Kriegsaufzeichnungen und Briefe vor, darunter auch solche, die bislang als verschollen galten. Doch nach Ansicht des Rezensenten sind diese fragmentarischen Texte insgesamt kaum in der Lage, den jungen Felix Hartlaub im literarischen Bewusstsein wieder lebendig werden zu lassen. Eher seien sie "eine Beigabe zum Verständnis eines nicht ganz einfachen Menschen". Dennoch wünscht der Rezensent, wenigstens den "beklemmend lebendigen" "Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier" von 1944 viele Leser und hofft auf ihre Aufnahme in den "Bestand der deutschen Literatur".
© Perlentaucher Medien GmbH
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