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Peter Gülke zeichnet das Bild des »anderen« Mendelssohn Bartholdy in einer Zeit voller Widersprüche: Nicht der umjubelte, selbstsichere Mendelssohn wird hier portraitiert, sondern derjenige, der seine existenziellen Nöte und Zweifel weniger in Worten als in Partituren ausspricht. Er bringt ihn uns als jemanden nahe, der als konvertierter Jude eine verwundbare Identität mit sich herumträgt, der bereits unter dem uns so vertrauten Fluch jener Beschleunigung des Lebens litt, die Goethe »veloziferisch« nannte, der in seiner geistlichen Musik die Scheidung von weltlich und geistlich immer wieder…mehr

Produktbeschreibung
Peter Gülke zeichnet das Bild des »anderen« Mendelssohn Bartholdy in einer Zeit voller Widersprüche: Nicht der umjubelte, selbstsichere Mendelssohn wird hier portraitiert, sondern derjenige, der seine existenziellen Nöte und Zweifel weniger in Worten als in Partituren ausspricht. Er bringt ihn uns als jemanden nahe, der als konvertierter Jude eine verwundbare Identität mit sich herumträgt, der bereits unter dem uns so vertrauten Fluch jener Beschleunigung des Lebens litt, die Goethe »veloziferisch« nannte, der in seiner geistlichen Musik die Scheidung von weltlich und geistlich immer wieder unterläuft und eine weit gespannte Frömmigkeit praktiziert. Dieses und anderes kann man in Gülkes mit unnachahmlicher Sprachkraft verfassten Werkbetrachtungen nachvollziehen. Sie legen im Notentext jene menschlichen Erfahrungen und Ideen frei, die bewegend sind für alle Hörer dieser faszinierenden Musik.

Autorenporträt
Peter Gülke ist Träger des Ernst von Siemens Musikpreises sowie des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa. Er ist Dirigent, Musikwissenschaftler und Musikschriftsteller. Seit Jahrzehnten ist er als Grenzgänger unterwegs, als engagierter Vermittler zwischen Praxis und Theorie, Musik, Literatur und Philosophie, Kunst und Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2018

Des hellsten Musikers verschattete Seiten
Gelingen unter Verdacht: Peter Gülke sucht nach den Rissen im Werk Felix Mendelssohn Bartholdys

Über Felix Mendelssohn Bartholdy zu diskutieren, ist nicht ganz einfach. So sehr sein Rang als Wiederentdecker von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, als Gewandhauskapellmeister und Gründer des Konservatoriums in Leipzig außer Frage steht, so sehr ist die Diskussion um seine Musik vermint durch antisemitische Gehässigkeiten, die nicht allein Richard Wagner mit seiner Schrift "Das Judentum in der Musik" abgesondert hat; auch von jüdischer Seite, zumal von Heinrich Heine, gab es schon früh Sticheleien.

Wer von Mendelssohn als Komponist handelt, der kommt an Wagner und dessen Wirkungsgeschichte im "Dritten Reich" nicht vorbei; aber jeder, der sich in der Diskussion auf rassistische Fragen zurückzieht, macht es sich auch zu leicht. Denn durch Wagner und seinen Erfolg ist nicht allein Mendelssohn verdrängt worden, sondern der gesamte romantische Klassizismus, zu dem auch Komponisten wie Louis Spohr und Johann Nepomuk Hummel gehören. Die Attacke galt nie Mendelssohn allein als einem Komponisten jüdischer Herkunft, sondern einem Stilideal, dem Glätte, Vollendung, Gelingen unverzichtbar waren.

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke hat Mendelssohn ein schmales, aber inhaltsreiches Buch gewidmet, dass die Diskussion jenseits bekannter Trivialitäten der Gedenkpolitik aufnehmen will. Ein Satz Robert Schumanns über Mendelssohn liefert ihm dabei den Leitfaden: "Er ist der Mozart des 19ten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt."

Gülke fragt nach diesen Widersprüchen, sucht sie im Biographischen, Familiären, im Spannungsfeld der deutsch-jüdischen Kultursymbiose genauso wie im Reflex auf die allgemeine Beschleunigung, das "veloziferische Zeitalter" dramatischer Industrialisierungsschübe. Er fragt nach Verdrängungen und Wunschbildern, sucht in den Partituren selbst - recht spekulativ zwar, aber mit großer Sensibilität - nach Rissen, "bei denen durchscheint, was im Werkganzen nicht unterkam, ihm jedoch als inspirierender Untergrund zugehört".

Das Verfahren allein ist allerdings schon ästhetische Parteinahme, weil es mit seinem Interesse an einer verdrängten, weniger domestizierten Musik - wie sie sich Gülkes Überzeugung nach in der Coda des Kopfsatzes von Mendelssohns "Schottischer Symphonie" ankündigt, aber nicht verwirklicht - doch den eigentlichen vom uneigentlichen Mendelssohn trennt. Gülke bemerkt zwar, wie problematisch diese Unterscheidung ist, doch kann er sich dem adornitischen Impuls nicht entziehen, im Glatten und Gelingenden nur die Maske eines falschen Lebens zu sehen, das sich dem richtigen nicht schonungslos genug stellt.

Was an biographischen Motiven angeführt wird, leuchtet vielfach ein: der Anpassungsdruck der protestantischen Mehrheitskultur auf die jüdische Minderheit; der familiäre Leistungsdruck von Kindheit an; die enge Bindung von Felix an die Schwester Fanny, so dass deren Tod für ihn einer Amputation gleichkommt; die schwindende Freude daran, überall der Beste zu sein, bis er "sich selbst als Mendelssohn-Darsteller verdächtig" wird.

Gehört hat man das alles irgendwie schon einmal; es ist nur hier besonders schön und dicht zusammengefasst. Den detailreichen musikalischen Analysen würde man dabei Notenbeispiele gönnen, der Kenner begriffe dann mit einem Blick auf die Partitur das Fragliche. Inspirierender, weil sie Dinge berühren, über die bislang wenig geredet wurde, sind die Überlegungen zur Zeit, zur Beschleunigungserfahrung um 1830, zum Zerrissenwerden zwischen der Erinnerung an nie erlebtes Großes und der Hoffnung auf Unerfüllbares. Gülke beschreibt markante Strukturen in der Musik als Widerstand gegen abschnurrende Prozesse, schreibt über den Historismus - fast wie Odo Marquard vor mehr als fünfzig Jahren - als Kompensation des lebensweltlichen Wandels, schreibt über die "Schutzbedürftigkeit langsamer Musik", lauter Denkanstöße.

Ein Satz, der es in sich hat, fällt ganz nebenbei: "Freilich war Originalität thematischer Prägungen als Qualitätskriterium seit dem 19. Jahrhundert ungebührlich in den Vordergrund gerückt, einsickernde Warenästhetik orientierte auf rasch erkennbare Markenzeichen". Dass die moderne Genieästhetik, die an die Stelle der alten Genre- oder Geschmacksästhetik tritt, die Marktförmigkeit autonomer Kunst signalisiere, wird den Emanzipationstheoretikern alter Schule nicht gefallen. So wichtig der Verweis auf den Kapitalismus, der nun das Grelle und Originelle, das Charakteristische anstelle des Schönen, das Sensationelle anstelle des Einvernehmlichen favorisiert, auch sein mag, so wenig reicht er allerdings aus, den Mentalitätswandel zu erklären, durch den das Glatte und Gelingende, das Schiller und Goethe noch ein Qualitätsmerkmal war, zu einem Makel wird. Denn wer den Markt als Regelinstitut begreift, muss auch nach Bedürfnissen fragen, die dem nachgefragten ästhetischen Wandel zugrundeliegen.

Sind aber Glätte und Gelingen überhaupt ein Makel? Wer weiß, dass Balance die Leistung einer Anstrengung ist und Harmonie - mit Pythagoras gesprochen - die "Einheit des Widerstrebenden", wird vor der Musik Mendelssohns und ihrer unvergleichlichen Noblesse immer wieder ins Staunen geraten.

JAN BRACHMANN

Peter Gülke: "Felix

Mendelssohn Bartholdy". ,Der die Widersprüche

der Zeit am klarsten

durchschaut'.

Bärenreiter/Metzler Verlag, Kassel und Stuttgart 2017. 139 S., geb., 29,99 [Euro].

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"... Sprachgewaltig, bestechend durch immenses Werk- und Literaturwissen, nur für Leser mit intimer Kenntnis der Werke geeignet. Für große Musikbestände infrage kommend." (Claudia Niebel, in: ekz-Informationsdienst, Januar 2018)